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Wegschauen ist keine Option

Ververidis Vasilis/ shutterstock.com
Flüchtlingskind in Idomeni 2015 |
Ververidis Vasilis/ shutterstock.com

Eine Replik auf Jakob Augstein

Jakob Augstein fordert in einer Kolumne auf Spiegel online dazu auf, wegzuschauen, wenn drastische Bilder, etwa von Kindern im Krieg, gezeigt werden. Doch als politische Bürger sollten wir uns bewusst mit dem Leiden konfrontieren und uns für eine Kultur der Gewaltlosigkeit einsetzen, entgegnet Birgit Stratmann.

Es gibt Bilder, die lassen uns nicht mehr los, gerade von Kindern im Krieg. Jakob Augstein setzt sich in einer Kolumne auf Spiegel online damit auseinander. Er schreibt:

„Aber wer tote und verwundete Kinder in den Dienst seiner Zwecke stellt, macht sich des Missbrauchs schuldig – ganz gleich, wie gut die Absichten sind. Es geht um den Missbrauch der Kinder und um den Missbrauch unserer Gefühle. Hört auf damit!“ Und weiter:

„Wie soll es ein Leben geben, mit diesen Bildern im Kopf? Jedes einzelne zwingt jeden Einzelnen zum sofortigen Handeln. Verhindert das Sterben jetzt! Aber was kann der Einzelne jetzt tun, das Sterben sofort zu verhindern? Nichts. Buchstäblich gar nichts.“

Der Kolumnist spricht von „inszenierten” Bildern, was aber nicht stimmt. Denn es handelt sich nicht um künstlich erzeugte Fotos oder solche, die aus dem Kontext gerissen werden, sondern um Dokumente von dem, was tatsächlich auf der Erde geschieht. Kriegsfotografen setzen ihr Lebens aufs Spiel, um uns solche Bilder nahe zu bringen und uns wachzurütteln.

Wenn Menschen dieses Grauen durchmachen müssen, was gibt uns das Recht, es zu ignorieren oder wegzuschauen, nur weil wir es nicht ertragen, weil wir uns ohnmächtig fühlen und damit nicht umgehen können?

Hinschauen und dann innehalten

Was geschieht eigentlich, wenn wir wirklich hinschauen – und zwar nicht zwischen zwei Chats oder Telefonaten, sondern wenn wir beim Betrachten innehalten. Wenn wir uns aus Respekt gegenüber den Opfern Zeit nehmen. Dann zeigt uns das Foto des verletzten Jungen in Syrien in drastischer Weise, wie grausam und unerträglich Krieg und Gewalt sind. Dann motivieren diese Bilder und all die Schmerzen, die sie in uns auslösen, zum Handeln – und sei es zunächst in unserem eigenen Umfeld.

Augstein trennt zwischen privatem und politischem Handeln. Daher, so seine Analyse, bringe es nichts, sich mit diesem unermesslichen Leiden zu konfrontieren, weil wir als Einzelne ohnehin nichts tun könnten. Aber das stimmt nicht. Wir können nicht den Krieg beenden, natürlich nicht. Aber wir sind als Bürgerinnen und Bürger politische Wesen, wie Aristoteles ausführte.

Wir gestalten über das Maß, mit dem wir uns engagieren, diese Gesellschaft und die politische Kultur mit. Und je mehr Menschen sich als politische Wesen verstehen und sich zusammenschließen, um eine Antwort auf das Leiden zu finden, umso größer wird ihr Einfluss sein.

Warum eigentlich gehen wir nicht gegen den Krieg in Syrien auf die Straße, wie damals beim Irakkrieg? Warum setzen wir der Pegida-Bewegung auf den Straßen so wenig entgegen? Warum nutzen wir nicht unseren Einfluss, den wir auf die politische Kultur unseres Landes, auf unser Europa nehmen könnten? Ein Grund könnte sein, dass wir uns taub gemacht haben gegenüber dem Leiden in der Welt, dass uns die Bilder nicht mehr erreichen.

Bitte nicht stören!

Das Problem ist doch: Wir wollen uns von verstörenden Bildern nicht das schöne Leben kaputt machen lassen. Wir wollen unsere Ruhe haben. „Bitte nicht stören!“ – hätte Augstein seinen Artikel überschreiben können. Wir ziehen uns ins Privatleben zurück, um dann gegen „die da oben“ zu wettern.

Augstein geht in seinem Artikel noch weiter: „Wer Mitleid erregen will, der will vor allem erregen. Wenn eine Zeitung Bilder von nackten Frauen zeigt, erregt sie die sexuelle Lust ihrer Leser. Bilder von toten Kindern erregen die moralische Lust.“ Das ist ungeheuer zynisch. Wer so denkt und die Wirkung von Bildern nackter Frauen und toter Kinder gleichsetzt, hat menschlich kapituliert.

Wollen Sie in einem Land leben, in dem Menschen wegschauen, wenn Sie leiden? Mitgefühl heißt, dass einem das Leiden des anderen nicht egal ist, dass man Anteil nimmt am Schicksal anderer, auch wenn sie nicht zu den eigenen Verwandten und Freunden gehören. Und Bilder ermöglichen, dass der Same des Mitgefühls und der Fürsorge in uns aufgeht.

Es ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, vielleicht das, was den Menschen am meisten von anderen Tieren unterscheidet: dass wir auch Fremden gegenüber Mitgefühl zeigen und versuchen können, ihr Leiden zu lindern. Mitgefühl und Solidarität sind es, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Und dazu gehört, dass wir uns mit dem Leiden konfrontieren und die Wut und Trauer aushalten, die dann entstehen.

Wenn Augstein behauptet, dass wir nicht sinnvoll handeln könnten, um Krieg zu vermeiden, so ist das viel zu kurz gedacht. Was wir brauchen, ist eine langfristige Entwicklung, auch eine Entwicklung des Bewusstseins, hin zu mehr Friedfertigkeit. Wir brauchen eine Kultur der Gewaltlosigkeit, in der Konflikte durch Dialog und Probleme durch die Bereitschaft, Kompromisse zu machen, gelöst werden. In Europa haben wir uns die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg darum bemüht.

Fakt ist: Wir können dies nicht den Politikern überlassen. Es ist eine Aufgabe, die wir als politische Bürger haben. Nur wer Mitgefühl in sich aktiviert und sich dem Leiden aussetzt, das Menschen heute durchmachen müssen, hat überhaupt eine Option zu handeln. Wer sich tot stellt, kann gar nichts bewirken.

Birgit Stratmann

Lesen Sie auch den Beitrag des Philosophen Jay Garfield “Warum die Nachrichten verfolgen?”

Birgit Stratmann hat das Netzwerk Ethik heute 2013 mitgegründet und ist verantwortliche Redakteurin der Website.

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