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Achtsamkeit „light“ − Nein Danke!

Grit Schwerdtfeger
Moderator Paul Kohtes (ganz rechts) und Valerie Saintot von der Europäischen Zentralbank |
Grit Schwerdtfeger

Kongress Meditation und Wissenschaft in Berlin
Achtsamkeit und Meditation stehen auf dem Prüfstand. Zeit für einen Reset. Auf dem Kongress Meditation und Wissenschaft 2018 wurden die Instrumentalisierung von Meditation und Achtsamkeit und die Tendenz zur Selbstoptimierung in einer zunehmend ökonomisierten Welt kritisch beleuchtet.

Der Achtsamkeitsboom ist vor allem den zahlreichen Forschungsergebnissen der Neurowissenschaften zu verdanken. Fakt ist: Gesundheitsmanagement und Business greifen heute immer stärker auf die Potenziale der heilsamen Kraft der Achtsamkeit zurück.

Doch dem Missbrauch wird oftmals Tür und Tor geöffnet: Achtsamkeit wird heute vielfach als Heilsversprechen zur Stressbewältigung und Gesundheit verwertet, vermarktet, zur Leistungssteigerung eingesetzt. Bei all der Euphorie zur Selbstverbesserung wird jedoch häufig vergessen, dass sich Meditation und das Leben der direkten Verfügbarkeit entziehen, so die Veranstalter. Mystiker sprechen auch vom Geheimnis, dem Numinosen.

Um den aktuellen Stand der Forschung zu präsentieren, luden die Identity Foundation, die Oberberg Stiftung und die Udo Keller Stiftung Ende November 2018 zum Kongress „Wissenschaft und Meditation“ zum Brainstorming nach Berlin ein. Die eingeladenen Wissenschaftler präsentierten die neuesten Ergebnisse zur Achtsamkeitsforschung.

Thema der Veranstaltung: „Meditation zwischen Abgrund und Nirvana. Selbstoptimierung für eine neue Welt?“ Rund 530 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, überwiegend aus dem Gesundheitswesen und dem Business- und Beratungsbereich, folgten zwei Tage lang den spannenden Vorträgen und Diskussionen.

Achtsamkeit in Arbeitswelt und Politik

Chris Tamdjidi, Geschäftsführer der Kalapa Academy, berichtete über die Implementierung von Achtsamkeit und kollektiver emotionaler Intelligenz im Unternehmenskontext. Tamdjidi definiert Achtsamkeit zum Erstaunen vieler Führungskräfte als „Betrachtung der Realität wie sie ist“. Er erlebt vielfach, dass Unternehmen sich sehr wenig mit der Realität konfrontieren. Zum Teil mit Messungen zur Herzratenvariabilität arbeitet er mit Managern, die sich nicht mehr spüren und über wenig Selbststeuerung verfügen.

Die Außenwelt lasse nicht mehr zu, dass wir uns entspannen. 30 bis 40 Prozent der Arbeitskraft gingen durch Stress verloren. Für Tamdjidi wird das Kollektive immer wichtiger, also Rituale im Team zu etablieren, gemeinsame Entscheidungen mit kollektiver Intelligenz zu treffen. „Wir müssen im Unternehmensalltag zunehmend komplexe Lösungen finden und nicht als Alphatiere auftreten.“ Er berichtete weiter über sein Engagement, Achtsamkeit im Bundestag und in der Europäischen Kommission zu etablieren.

„Schrei nach Balance“

Auch Nicole Brauckmann bestätigte als Beraterin für Veränderungsprozesse in Unternehmen, wie Change-Prozesse zum Beispiel beim Konzern RWE von Achtsamkeit profitieren. Brauckmann: „Achtsamkeit sollte mehr als eine schnelllebige Modeerscheinung im Reigen immer neuer Managementtechniken sein, sondern fundamentale Kompetenz für die Bewältigung hochkomplexer Herausforderungen in einer vernetzten Welt.“

In der anschließenden Diskussion tauschten sich Valerie Saintot von der Europäischen Zentralbank, Andreas Clausen von Beiersdorf, Michael Knauf von Lufthansa, Marie Koch von der Firma Upstalsboom und Roman Rittweger von Ottova über ihre Erfahrungen mit Achtsamkeit im Arbeitsalltag aus. Die Frage sei, was passiert, wenn sich Mitarbeiter in einem außenorientierten Umfeld plötzlich der Innenwelt zuwenden.

Aus Sicht der Referenten seien durch achtsamkeitsbasierte Trainings Ethik und Humanität stärker im Blickfeld. Saintot: „Nicht mehr Software sein, sondern Mensch mit Fuß, Hand und Bauch.“ Knauf von Lufthansa: „Wir haben automatisch weniger Krankmeldungen.“ Clausen berichtete von einer Marktanalyse, wonach sich 70 Prozent der Menschen gestresst fühlen. „Der Schrei nach Balance und Nachhaltigkeit als Gegenbewegung zu permanentem Wachstum ist groß.“

Selbstentwicklung contra Neuro-Optimierung

Weiterer Schwerpunkt war das Spannungsfeld von bewusster Selbstentwicklung und Neuro-Optimierung. Den Auftakt machte der Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes von der Charité Berlin mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zum freien Willen. Streitpunkt der Forschung sind Experimente, wonach sich der Ausgang einer freien Entscheidung bereits mehrere Sekunden vorher aus der Hirnaktivität eines Probanden vorhersagen lasse. Offenbar können unbewusste Hirnprozesse die Entscheidung zwar vorbereiten, aber diese Vorentscheidung kann durch Selbststeuerung immer noch abgebrochen werden.

Im Bereich der Medizin informierte der Bioethiker Roland Kipke über ethische Grenzen des Neuro-Enhancement (Hirndoping). Dabei geht es um die Verbesserung mentaler Eigenschaften durch Medikamente. Neurowissenschaftler Ulrich Ott beleuchtete kritisch die Werbeversprechen der Anbieter von Biofeedback-Geräten mit physiologischen Messungen, die Meditation erleichtern sollen.

Neurowissenschaftler Jürgen Fell stellte den Einsatz von binauralen Beats vor, pulsierenden akustischen Stimulierungen zur Modulation von Bewusstseinszuständen. Anbieter propagieren auch hier eine Unterstützung bei Meditation und zur Emotionsregulation. Seiner Sicht nach sind die wissenschaftliche Basis und Effekte bisher unzureichend.

Unter der Moderation der Zen-Meisterin und Leadershiptrainerin Anna Gamma diskutierten die Wissenschaftler das Spannungsfeld, wenn Meditation zu einer Methode der Selbstentwicklung gemacht wird und ob technologisches Enhancement vielleicht sogar kulturelle Beschleunigung eher verstärkt als abschwächt.

Eines wurde auf diesem wegweisenden Kongress klar: Zahlen, Daten, Fakten, Messungen und Forschung ersetzen nicht die eigene Meditationserfahrung und die manchmal mühsame persönliche Arbeit am inneren Selbst. Auch Pillen, Neuro-Enhancement oder Beat-Stimulationen können Bewusstseinszustände nicht oder nur unzureichend optimieren oder beschleunigen.

„Du sollst nicht funktionieren“

Highlight des Kongresses war der Festvortrag von Ariadne von Schirach „Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst“. Die junge Philosophin brachte die Essenz des Kongresses auf den Punkt und fesselte die gebannt lauschenden Zuhörer mit ihrem Beitrag.

Foto: Grit Schwerdtfeger

Tenor: In unserer hektischen und ökonomisierten Welt werde Qualität durch Quantität ersetzt, der Selbstwert sei zum Marktwert geworden. „Selbstoptimierung hat als Arbeit am Äußeren die Lebenskunst als Bezug zu unserem Inneren zunehmend verdrängt.“

Das Leben werde kapitalisiert und in ein Geschäft verwandelt. „Der Markt schafft aber keine Werte: Er verwertet, misst, kontrolliert, will Planungssicherheit und die Zukunft bestimmen (Big Data)“, so von Schirach. Der Mensch werde zur Ware, ebenso Kultur, Liebe und Spiritualität. Der moderne Mensch schaue auf den eigenen Körper wie ein Unternehmer und optimiere sich. Die Folge sei Entfremdung und Selbstverdinglichung. Lebenskunst sei dagegen die Arbeit am inneren Menschen und die sei anstrengend, wie alles, was wertvoll ist.

Meditation in Medizin und Therapie

Am zweiten Tag gaben Nachwuchswissenschaftler beim Science Slam Einblicke in aktuelle Forschungsprojekte zu Meditation und Achtsamkeit. Anna-Katharina Dehmelt inspirierte mit einer kurzweiligen anthroposophischen Meditationspraxis. Weitere Themenschwerpunkte waren Meditation in Medizin und Therapie. Der Mediziner Jost Langhorst präsentierte Forschungsergebnisse, wonach achtsamkeitsbasierte Gruppentherapiesettings dazu beitragen können, dem Stress bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen bis hin zur Gen-Ebene entgegenzuwirken.

Christine Brähler, Psychologische Psychotherapeutin und Ausbilderin in Mindful Self-Compassion (MSC), berichtete von Studien, die zeigen, dass die Praxis des Selbstmitgefühls mit psychischem und körperlichem Wohlbefinden, Lebensqualität und Resilienz korreliert. Selbstmitgefühl könne krankheitsfördernden Faktoren wie Scham, Selbstverurteilung und Grübeln entgegenwirken.

Sehr bewegend und beeindruckend war der lebensnahe Vortrag der Zen-Meisterin und Palliativmedizinerin Friederike Boussevain. Sie zeigte im Rückblick auf 25 Jahre ärztlicher Tätigkeit die Grenzen des Machbaren in der Hospizarbeit auf. „Meiner Erfahrung nach geht das Leben der meisten Menschen trotz Achtsamkeit und Meditation mit einem Fragezeichen zu Ende.“

Sie betonte wie ihre Vorredner, dass Achtsamkeit eine Haltung sei und keine Pille. Über Spiritual Care und Begleitung Sterbender im Krankenhausalltag: Patienten zuzuhören bewirke mehr als alle Untersuchungen. Ihre Kritik: Die Gerätemedizin begünstige eher ein „Krankheitssystem“als ein Gesundheitssystem. Es bleibe einfach keine Zeit für Patienten.

Arbeit am Inneren – eine Frage des Überlebens

Nach Impulsen von Sinnforscherin Tatjana Schnell führte Harald Walach aus, warum wir eine Kultur des Geistes brauchen. Menschen litten heute unter Sinnlosigkeit, der Sucht nach Abwechslung und Ausgebranntsein, so der Professor für Forschungsmethodik an der Medizinischen Universität Poznan in Polen. „Geistige Hygiene“, wie er es nennt, also eine Arbeit am Inneren sei eine Überlebensfrage unserer Kultur.

Walach machte deutlich, dass der Umgang mit der eigenen Bewusstheit ein politischer Akt sei und keine Privatsache. Das individuelle Bewusstsein sei Ausdruck des universellen Bewusstseins. „Wir können die Welt nur ändern, indem wir das Bewusstsein ändern.“

Zum Abschluss sprach Gert Scobel, Professor für Philosophie und Fernsehmoderator über Paradoxien der Meditation. Er kritisierte, dass die neurowissenschaftliche Fixierung zu einer weitgehenden Verdrängung der ursprünglich ethischen und sozialen Aspekte von Achtsamkeit führe.

Achtsamkeit sei in Gefahr, zu rein ökonomischen Zwecken zu dienen. Die Zunahme von internetbasierten Anwendungen und Apps unterstütze die gängige Konsumhaltung, die den Trend zu „Achtsamkeit light“ und „McMindfulness“ begünstige. Es sei an der Zeit, Weisheit zu entwickeln und dem Vorschlag des Dalai Lama zu folgen, Achtsamkeit als säkulare Meditation mit einer säkularen Ethik zu verbinden.

Tobias Esch, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Kuratoriums „Meditation & Wissenschaft 2018“, bedankte sich zuletzt besonders beim Spiritus Rector Michael von Brück, der die Programmgestaltung seit 2010 begleitet, und Nadja Rosmann, die den Kongress organisiert hatte und tosenden Beifall des Publikums erhielt.

Michaela Doepke

Weitere Infos, Bestellung von DVD-Mitschnitten, Online-Streamings und Downloads der Vorträge unter: www.meditation-wissenschaft.org (alle Informationen dazu sind ab Mitte Dezember 2018 online)

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