Interview mit Dennis Wittrock
Dennis Wittrock berät als Coach Firmen, die nach dem Holakratie-Modell selbstorganisiert und hierarchiefrei arbeiten, z.B. den Finanzdienstleister Hypoport. Im Interview spricht er über Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die Schritte der Umsetzung in einem Unternehmen und über den Sinn von Arbeit.
Das Interview führte Birgit Stratmann
Frage: Holakratie ist eine neue Form der Zusammenarbeit in Unternehmen und Insitutionen, die alte Hierarchien durch agile Netzwerke ersetzt. Was fasziniert Sie daran?
Wittrock: Es ist eine Alternative zur klassischen Managementstruktur. Ich wollte nie in Unternehmen arbeiten, in denen Menschen herumkommandiert werden. Aus diesem Grund habe ich in alternativen Institutionen gearbeitet, z.B. als Geschäftsführer vom Integralen Forum e.V.
Der Kern von Holakratie ist, dass Menschen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Das hat mich fasziniert: Man kann Unternehmen und Organisationen anders organisieren, und es funktioniert sogar.
Sie arbeiten seit 2016 bei encode.org. Wie kam es dazu?
Wittrock: Encode.org ist mit Holakratie organisiert und entwickelt das System laufend weiter: Wenn es keine Manager gibt, wieso gibt es dann noch Angestellte? Warum sind einige Eigentümer und andere nicht? Das Unternehmen erstellt rechtliche, finanzielle und soziale Grundlagen für Selbstorganisation.
Wir führen gemeinsam
Lassen Sie uns ein Unternehmen als Beispiel nehmen. Sie begleiten seit 2018 die Hypoport AG als interner Holakratie Coach, eine im DAX gelistete Firma aus der Finanzbranche mit rund 1.700 Mitarbeitern. Wie kam das Unternehmen darauf, alte Hierarchien abzuschaffen?
Wittrock: Es gab eine Firmenveranstaltung, die „Leadership Days“, auf der neue Prinzipien für die gesamte Hypoport-Gruppe beschlossen wurden. Eins davon hieß „wir führen gemeinsam“, das andere „wir organisieren uns dezentral“. Das fanden erst mal alle gut, aber niemand wusste, wie das eigentlich konkret geht.
Die Verantwortlichen haben sich dann verschiedene Modelle angeschaut, z.B. Soziokratie, und sich dann für Holakratie entschieden. Denn diese Struktur hat mit der „Verfassung“ ein Regelset und ist gut skalierbar. Außerdem gibt es eine internationale Praxisgemeinschaft, die viel Erfahrungswissen bereitstellt.
Warum wollte Hypoport das machen? Was war die Motivation?
Wittrock: Erstens will die Firma Talente anwerben. Es gibt ja einen regelrechten Kampf um gute Mitarbeiter. Ein Unternehmen muss zukünftigen Mitarbeiterinnen Vorteile bieten, abseits von kleinen Wellness-Einheiten, Kicker-Tischen, Partys und Ausflügen. Als Fintech-Unternehmen ist Hypoport vor allem auf der Suche nach Entwicklern, und die sind rar. Wenn junge Menschen autonom, kreativ und eigenverantwortlich arbeiten können, hat die Firma einen echten Vorteil.
Zweitens müssen wir angesichts von Komplexität, raschen Veränderungen und Unsicherheiten auf den Märkten neue Wege finden, Unternehmen zu führen. Mit hierarchischen Strukturen können wir in dieser Situation kaum mehr Schritt halten. Bis die Entscheidungen oben gefällt sind, hat sich das Gefüge unten schon wieder verändert. Das führt zu Frustrationen und dazu, dass viele an ihrem Arbeitsplatz innerlich auschecken.
Der Wandel wird ohnehin kommen. Im Holakratie-Modell ist der kontinuierliche Change quasi eingebaut. Sobald wir die Machtpyramide durch selbstorganisierte Strukturen ersetzt haben, aktualisiert sich das System durch die Mitarbeiter permanent selbst.
Der Wandel ist radikal
Was waren die ersten Schritte?
Wittrock: Zuerst hat die höchste Ebene von Hypoport die Entscheidung getroffen, ihre Macht abzugeben. Es ist keine Revolution von unten. Sonst wäre der ganze Prozess nicht legitimiert und könnte jederzeit wieder einkassiert werden.
Besonders wichtig ist, dass die Entscheider auch über zu erwartenden Komplikationen aufgeklärt werden. Der Wandel ist radikal. Alle müssen umlernen, die alten Muster funktionieren nicht mehr, z.B. dass mir jemand sagt, was ich zu tun habe.
Als nächstes hat die Geschäftsführung die „Verfassung“ unterschrieben. Sie signalisiert damit: Wenn wir die Organisation beeinflussen wollen, spielen wir nach den gleichen Spielregeln wie alle anderen. Die Macht geht von Personen über in einen Prozess.
Angenommen, ein früherer Manager will mir für meine Arbeit sagen, wie ich sie machen soll, obwohl ich per Verfassung das Recht habe, diese Arbeit selbstverantwortlich zu entscheiden. Ich muss dann dieser Weisung nicht folgen.
Was ändert sich noch?
Wittrock: Man nimmt das alte Organigramm. Die alten Stellenbeschreibungen werden übersetzt in Rollen, Zuständigkeiten. Diese werden Kreisen zugeordnet (die ehemaligen Abteilungen) und eine neue Struktur wird aufgesetzt, die in einer Software abgebildet wird. Die Arbeit bleibt zunächst gleich. Nur die Art, wie sie organisiert wird, ist anders.
Dann kommt es zu Spannungen, und diese sind sehr wichtig, denn sie informieren sie uns darüber, was noch nicht funktioniert. Dann fangen wir an zu justieren und passen die Struktur an die Bedürfnisse des Unternehmens an. Z.B. kann es sein, dass Rollen falsch ausgelegt sind, dass Rollen fehlen, dass es unklare Zuständigkeiten gibt. Die Probleme in der Struktur gab es vorher auch schon. Aber nun gibt es ein Format, um sie zu lösen: das sog. Governance Meeting.
„Nicht alles, was konventionelle Firmen machen, ist falsch“
Angenommen, ich bin für Marketing zuständig und will eine Werbekampagne machen. Kann ich einfach loslegen?
Wittrock: Wenn Ihre Rolle das erfordert, ja. Beim Marketing ist Ihre Aufgabe, die Bekanntheit des Produkts oder der Firma zu steigern. Es ist in Holakratie erlaubt, alles zu tun, was Sie für sinnvoll halten, um den Purpose (Zweck/ Anliegen) Ihrer Rolle auszudrücken.
Habe ich auch ein Budget? Denn Macht ist ja an Geld geknüpft, und z.B. für eine Anzeigenkampagne brauche ich 30.000 Euro.
Wittrock: Sie gehen dann zum „Lead Link“ Ihres Kreises – das ist diejenige Person, die standardmäßig die Ressourcen des jeweiligen Kreises verteilt.
Ist diese Person dann wie eine Vorgesetzte, da sie über die Mittel bestimmt?
Wittrock: Sie ist keine Vorgesetzte im üblichen Sinne, sondern ihre Rolle ist dazu bestimmt, die Ressourcen im jeweiligen Kreis zu verteilen. Man könnte diese Verantwortung auch einer anderen Rolle zuordnen oder eine weitere Rolle schaffen.
Holakratie bedeutet nicht, dass jeder Mitarbeiter frei über die Ressourcen einer Firma verfügen kann. Nicht alles, was konventionelle Firmen machen, ist schlecht, z.B. eine ausgewogenen und abgestimmte Budgetplanung. Es gibt bei uns nur viel mehr Möglichkeiten für den Einzelnen, Dinge zu ändern.
Waren alle Mitarbeiter bei Hypoport auf Anhieb überzeugt, dass das der richtige Weg ist?
Wittrock: Klar gab es Mitarbeiter, die Bauchschmerzen mit der Einführung hatten. Ich weiß von zwei oder drei Mitarbeitern, die das Unternehmen verlassen haben und auch Holakratie als Grund genannt haben. Aber das war nur ein Teil der Beweggründe. Die allermeisten haben es relativ gut angenommen und es gab überraschend wenig Widerstand.
Wichtig ist, alle durch interne Trainings mit den neuen Strukturen vertraut zu machen. Darüber hinaus gab es Weiterbildungen für Multiplikatoren, die die Prozesse anleiten und andere darin ausbilden können, sowie Glossare, Blogs und regelmäßige Fragerunden.
„Die Zeit der Sonntagsreden ist vorbei“
Nun geht es ja nicht nur darum, wie man arbeitet, sondern was das Unternehmen verkauft. Die Methode steht jedem offen, auch Konzernen, die z.B. Pestizide herstellen oder Waffen bauen. Besteht hier nicht die Gefahr der Selbsttäuschung? Ich installiere ein agiles Selbstmanagement-System und trotzdem richte ich mit meinen Produkten Zerstörung an? Müsste man nicht auch über die Motivation reden?
Wittrock: Ja, natürlich sollte man über den Zweck, bzw. Purpose des Unternehmens sprechen, das ist bei uns eine zentrale Frage. Aber wie bei jedem Werkzeug ist die Arbeitsweise von Holakratie neutral, was den Einsatz betrifft. Das Regelset schreibt die Werte nicht vor. Auch die Mafia könnte nach diesen Prinzipien arbeiten.
Wer sich darauf einlässt, tut dies jedoch aus bestimmten Beweggründen, etwa den Menschen mehr Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Und natürlich liegt dieser Praxis ein Menschenbild zugrunde.
Welches denn?
Wittrock: Es gibt im Arbeitskontext im Wesentlichen zwei Menschenbilder. Entweder Sie betrachten die Menschen als faul und egoistisch, dann müssen Sie sie gängeln und kontrollieren. Oder Sie sehen die Potenziale im Menschen, ihre Kreativität und Kooperationsbereitschaft.
In Holakratie arbeiten wir entsprechend der zweiten Sichtweise. Bei uns geht es um die Autonomie der Rollen. Das funktioniert nur, wenn wir den Menschen trauen, dass sie das System nicht egoistisch ausnutzen, sondern einen Beitrag zu einem höheren Purpose leisten wollen.
Sie hoffen also, dass Sie Firmen anziehen, die Ihrem Menschenbild entsprechen?
Wittrock: Ich kann nicht ausschließen, dass auch andere es verwenden, aber natürlich geht es darum, einen sinnvollen Zweck hervorzubringen. Nehmen wir an, Monsanto würde nach Holakratie arbeiten, dann wäre interessant zu sehen, was passiert.
Die Mitarbeiter sind Sensoren für ein Unternehmen. In einem hierarchischen Konzern haben sie nicht die Möglichkeit, ihre Spannungen im Sinne der Organisation zu prozessieren. Mit Holakratie könnten sie das aber. Eine Organisation ist nur dann gesund, wenn sie langfristig zur Gesundheit ihres umgebenden Systems beiträgt und fähig ist zur Symbiose. Dafür muss sich vielleicht ihr Purpose weiterentwickeln. Es wäre also gut, wenn gerade solche Unternehmen damit arbeiteten, weil sich dann vielleicht der gesunde Menschenverstand und mehr Sinnhaftigkeit durchsetzen würden. Dann stünde nicht der Shareholder Value im Fokus, da bin ich mir sicher.
Was bedeutet es Ihnen ganz persönlich, mit der Methode von Holakratie zu arbeiten?
Wittrock: Ich erfülle mit meiner Arbeit meinen individuellen Purpose, nämlich Räume zu schaffen für die Entstehung eines integralen, ganzheitlichen Bewusstseins, das viele Perspektiven einschließt. Holakratie ist für mich wie ein Leuchtturm, der zeigt, wie man die Wirtschaft konkret in diese Richtung transformieren kann.
Sonntagsreden darüber, was wir eigentlich bräuchten und sollten, haben wir genug gehört. Jetzt geht es darum, konkret zu demonstrieren, dass der Wandel bereits in der Arbeitswelt angekommen ist – für all diejenigen, die Augen haben, um zu sehen und Ohren, um zu hören. Eine Alternative existiert. Der Erfolg von Holakratie ist ein Beleg dafür.
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Dennis Wittrock, M.A., ist ein zertifizierter Holacracy® Coach und arbeitet derzeit hauptsächlich als interner Holakratie Coach bei der Hypoport AG. Zuvor war er aktiv als Gründer und Co-Direktor der Integral European Conference und als Geschäftsführer des Integralen Forums. Er hat einen Magister in Philosophie. Webseite: www.integral-con-text.de