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„Wir sind als Zivilisation gescheitert“

Rhyor/ Photocase
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Interview mit Claus Eurich

Für Prof. Claus Eurich spiegeln die Aktionen der „Letzten Generation“ eine tiefe Hoffnungslosgkeit wider. Und diese sei berechtigt, denn unsere Kultur schreibt die Zerstörung fort. Ein Interview über das notwendige Ende eines destruktiven Systems, Zukunftsvisionen und wie wir Kraft für Neues schöpfen.

Das Gespräch führte Geseko von Lüpke

Frage: Nach einer Umfrage sind 80 Prozent der jungen Menschen zwischen 16 und 26 in Angst vor der Zukunft, in Klimaangst, in relativ düsteren Zukunftserwartungen! Benennt sich so eine Organisation wie die ‚Letzte Generation‘ zurecht so?

Eurich: Ich glaube, der Begriff ist bewusst gewählt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, weil man sonst nicht gehört wird. Dennoch müsste man mit solchen Begriffen wie ‚erstes‘ oder ‚letztes‘ sehr vorsichtig sein. Denn wir können es nicht wissen, ob es so ist.

Ich bin allerdings der Überzeugung, dass wir auf das Ende einer bestimmten Form von Kultur und auch von menschlicher Zivilisation zulaufen. Aber das wird nicht das Ende sein. Die Entwicklung wird weitergehen, nur vermutlich in ganz anderer Weise. Mensch sein wird sich in anderer Weise entwickeln und ausgestalten.

Was passiert da in den Aktivisten, wenn sie sich auf die Straße kleben?

Eurich: Es ist eine Ohnmachtsschrei. Und es ist dieses Empfinden, dass wir mit den klassischen Wegen von Politik und Ökonomie irreversibel gescheitert sind. Es ist zudem eine fundamentale Kritik daran, dass immer noch die Dinge, die uns an den Rand des Abgrunds geführt haben, als Heilmittel für die Zukunft prognostiziert werden – wie immer weitere technologische Entwicklungen und weiteres Wachstum.

Daraus entsteht eine innere Hoffnungslosigkeit. Unsere Kultur versteht es nicht, den Menschen wirklich Halt zu geben und Institutionen zu errichten, die sagen: „Es geht weiter. Wir müssen nur die Wege dafür finden. Und wir werden alles tun, diese Wege zu öffnen.“ Diese Zuversicht in unserer Kultur ist fast vollständig verloren gegangen. Es ist eine Kultur des ‚immer weiter so‘ und damit der Fortschreibung von Destruktion.

Diese Zivilisation hat ihren Endpunkt erreicht und muss zerbrechen.

Besteht dann die Gefahr, dass wir die Krise nicht als Impuls zum Wandel nehmen, sondern innerlich aufgeben?

Eurich: Wir leiden, weil wir zusehen müssen, wie dieser Planet geplündert wird und wie mehr und mehr Arten und Lebensformen von der Erde unwiederbringlich verschwinden – täglich mehr als 200 Arten.

Anders verhält es sich bezogen auf die menschliche Zivilisation und die Zivilisations-Prozesse, die uns dorthin geführt haben. Ich glaube, dass diese Art von Zivilisation und Größenwahn neben allem, was sie ja an ganz Wunderbarem auch hervorgebracht hat, einen Endpunkt erreicht hat und zerbrechen muss.

Die Mitglieder der ‚Letzten Generation‘ sehen das ganz klar. Das Verkehrssystem, das sie blockieren, ist ihnen egal, weil sie wissen, es ist mit ein Verursacher. Diesen Blick und diese Argumentation kann ich nachvollziehen und ich teile sie sogar.

Gleichzeitig sind solche Aktionen für die große Mehrheit der Menschen völlig unverständlich, weil sie von genau diesem System leben. Sie spüren für sich: „Wenn mir das wegbricht, bricht mir meine Existenz und meine Art zu leben weg“. Also wird lieber weggeschaut.

Ich hoffe nur, dass wir friedfertige Wege finden, mit diesen Grund-Widersprüchen umzugehen, und nicht in bürgerkriegs-ähnliche Zustände abrutschen, in denen es nur um die Verteidigung von Besitzständen geht, auf die sowieso kein Mensch auf dieser Erde irgendein Anrecht hat.

Das Leben ist in mir.

Es wird oft der Zustand einer kollektiven Depression diagnostiziert. Entsteht so etwas aus vielen individuellen Reaktionen oder ist es ein kollektiver Ausdruck von ‘Nicht-mehr-weiter-wissen’?

Eurich: Es kommt da ganz viel zusammen und verbindet sich zu einer unbekannten Qualität. Da ist zum einen die individuelle Ebene mit Gefühlen wie Ohnmacht und der Gewissheit, gescheitert zu sein.

Gleichzeitig aber wirkt natürlich das Kollektive auf den Einzelnen ein. Das Leiden dieses Planeten und der anderen Arten wirkt auch auf uns ein, auf unsere Psyche, weil wir eben Teil des Lebens sind, auch wenn wir uns abgespalten haben. Und das Leiden der Natur ist, auch wenn wir es nicht erkennen, auch unser Leiden. Das legt sich als Schwere auf unsere Psyche.

Daraus können wir uns nur befreien, wenn wir es integrieren: Wenn wir sehen und erkennen und verstehen: “Ja, ich bin das Leben und das ganze Leben ist in mir.“ Und vom diesem ganzen Leben kommt im Moment auch etwas in mir als Person zum Ausdruck.

Dabei ist es wichtig, eine Stabilität in mir zu finden, die über der Zeit und den evolutionären Entwicklungen steht. Denn wir sollten nicht sentimental sein: Dieser evolutionäre Schritt des Niedergangs der Menschheit steht notwendig und unvermeidbar vor uns. Und je früher wir das erkennen und verstehen, je eher können wir ein neues ‘Wir-Gefühl’ entwickeln und endlich in die Phase hinein gelangen, wo wir wieder visions-fähig werden.

Aber dann müssten wir auch eine Zukunftsvision entwickeln.

Eurich: Wir sind als Kultur vollkommen visionslos. Wir wissen nicht, wohin wir wollen. Martin Buber hat in seinem Buch ‘Pfade in Utopia’ schon 1950 geschrieben: “Es gibt für uns kein Zurück. Und es gibt für uns auch keine Rettung in einem Zurück. Es gibt für uns immer nur ein Hindurch. Hindurch werden wir aber nur kommen, wenn wir wissen, wohin wir wollen.“ Und das wissen wir nicht!

Wir orientieren uns in allem, wohin wir wollen, immer nur am Vergangenen. Und versuchen festzuhalten und Wohlstand zu bewahren. Aber einen Blick, eine Empfindung, eine Sehnsucht nach einem versöhnten Leben mit ‚Mutter Erde‘ – mit diesem Lebewesen Erde an sich, dessen Teil wir sind – das haben wir noch nicht.

Und da werden wir im Moment auf sehr schmerzhafte Weise konfrontiert. Ich hoffe, dass wir schaffen, das zu sehen. Denn das ist die Voraussetzung für eine Transformation und einen Wandel.

Wo will ich mit der Erde gemeinsam hin?

Die Öko-Philosophin und buddhistische Lehrerin Joanna Macy hat gesagt: “Wir sind Sterbebegleiter eines untergehenden Systems und Geburtshelfer einer neuen Kultur!” Ist das eine kippelige Zeitenwende, wo wir auf einem schmalen Pfad in die Zukunft gehen?

Eurich: Diese Pfade nach Utopia sind nicht vorgezeichnet, sie ergeben sich im Gehen selbst. Es ist wichtig, diese Prozesshaftigkeit zu sehen und nicht schon wieder zu versuchen, die Zukunft in irgendeiner Weise zu verplanen.

Die bisherigen Baupläne für die Zukunft lehnen sich doch nur am Vergangenen an. Wir sollten aber keinerlei Energie mehr in die vergangenen Systeme stecken! Wir sollten nicht die Destruktionsmaschinen unterstützen, die uns dorthin geführt haben, wo wir sind. Wir müssen so weit wie möglich auf jene Formen des Konsums verzichten, die wir zu einem Leben in Würde nicht brauchen.

Und dann alle Kraft und Energie, die wir haben – und das ist viel – ganz in das Neue stecken und in neue Formen der Vernetzung. Und in neue Formen der Arbeit an mir selber. Dazu fragen wir uns immer wieder neu: “Wer bin ich? Wo stehe ich im Moment als Kind dieser Erde? Und wo will ich mit der Erde gemeinsam hin? Was kann mein persönlicher Beitrag sein? Wie kann ich ihn jetzt in diesem Moment bereits fruchtbar machen?” Das ist die Arbeit, die vor uns liegt.

Die Politik – oder das, was wir in der Vergangenheit Politik nannten – kann dafür vielleicht die eine oder andere strukturelle Hilfe geben. Zuerst aber muss jeder und jede Einzelne von uns selbst neue Wege gehen. Je mehr wir einander auf diesem Weg begleiten und uns verbünden, ohne zu einer kollektiven Herde zu werden, desto leichter wird es natürlich.

privat

Prof. Dr. Claus Eurich ist Philosoph, Kontemplationslehrer und Autor zahlreicher Bücher. Er war bis 2017 Hochschullehrer für Kommunikation und Ethik am Institut für Journalistik der TU Dortmund. Kontakt: clauseurich@web.de, Claus Eurich betreibt einen Blog

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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