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Wenn ein Fluss Rechte hätte…

Dave Hoefler/ Unsplash
Dave Hoefler/ Unsplash

Die Rechte der Natur ins Grundgesetz aufnehmen

Im Mai 2024 feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Die Verfassung ist kostbar, sichert sie dem Menschen doch umfassende Rechte. Doch könnte auch die Natur Rechte erhalten? Das wäre kein juristischer Kniff, sondern eine Revolution im Denken: Flüsse, Berge, Wälder wären Subjekte wie wir Menschen und könnten Schutz einklagen. Damit würden wir die Verwandschaft mit der Mitwelt anerkennen.

Die Loisach entspringt gleich unterhalb des mächtigen Zugspitzmassivs, rauscht zwischen hohen Bergen, fließt in den Kochelsee, in die Isar und weiter in die Donau – bis ins Schwarze Meer. Geographisch ein hübscher, kleiner oberbayerischer Fluss, gesäumt von Wanderwegen, wenig begradigt, genutzt von ein paar Kraftwerken.

Der Dokumentarfilmer und Aktivist Claus Biegert sagt: „Die Loisach soll Rechtsperson werden! Und die Loisach, wenn sie was zu sagen hat, wird sie nicht nur für sich sprechen, sondern für alle Flüsse. Insofern spielt es jetzt keine Rolle, ist sie bedroht oder nicht bedroht.“

Claus Biegert ist kein einsamer Spinner aus Oberbayern, sondern Teil eines weltumspannenden Netzwerkes von Juristen, Aktivistinnen, Naturschützern und Wissenschaftlerinnen, die eine Wende im Denken einleiten wollen.

Hier und weltweit – um den Verursachern von Klimakatastrophe und Artensterben auch juristisch Widerstand zu leisten. Zwar gibt es Gesetze zum Tier- und Umweltschutz sowie Paragrafen in Länder- und Bundesverfassungen, die den Erhalt der Natur und Lebensgrundlagen für künftige Generationen garantieren sollen.

Doch all diese Rechte betreffen den Menschen: Für die Natur geklagt werden kann in der Regel nur, wenn ein Vertreter der Gattung homo sapiens gefährdet und geschädigt wird.

Die Natur selbst ist weitgehend rechtlos. So wie es früher auch Leibeigene, Sklaven, Frauen, Kinder, Behinderte waren. Rechte können also erweitert werden, wenn sich das Denken ändert.

Die Natur hat ein Recht auf Würde

‚Should trees have standing?‘ – ‚Sollen Bäume vor Gericht gehen?, fragte deshalb schon 1972 der kalifornische Jura-Professor Christopher Stone. Was vor einem halben Jahrhundert ungläubiges Gelächter hervorrief, wird heute in 40 Ländern ernsthaft diskutiert.

Das deutsche ‚Netzwerk Rechte der Natur‘ hat bereits die entsprechenden Artikel für eine Reform des Deutschen Grundgesetzes formuliert:
„Im einem ersten Schritt müssen die Rechte der Natur anerkannt werden von unserer Gesellschaft, und im zweiten Schritt muss das Grundgesetz ergänzt werden um die Rechte der Natur.

Wie die ‚Menschenwürde‘, so wird es eben diesen Begriff der ‚Würde der Natur‘ geben.

Das Tier hat für uns selbstverständlich eine Würde, genauso wie für uns der Baum eine Würde hat, weil es Leben ist. Und die Grundstimmung für die Rechte der Natur ist ja die, dass dieses Leben gefährdet ist“, sagt Peter Mohr, Rechtsanwalt in Hamburg und im Vorstand des Vereins ‚Rechte der Natur‘.

Er war vom Umweltrecht primär frustriert, weil vor Gericht die Natur meist den Kürzeren zog. Gemeinsam mit anderen engagierten Vordenkerinnen und Vordenkern gründete er deshalb das Netzwerk, das aktuell für die radikale Idee vermehrt Gehör bekommt.

Zentral geht es darum, Ökosystemen, Flüssen, Bergen, aber auch Tiergattungen das Recht auf Würde, Unversehrtheit, freie Entwicklung und Lebendigkeit einzuräumen. Und so letztlich den Rechtsstaat mit Rechten der Natur so zu erweitern, dass die planetaren Grenzen respektiert werden.

Das soll in erster Linie der bedrohten Natur helfen, schützt zugleich aber auch den Menschen – verhindert es doch, dass er ungebremst an dem Ast weitersägt, auf dem die ganze Menschheit sitzt.

Der Mensch sieht sich als Herrscher über die Natur

Deutlich wird: Da geht es um mehr als nur neue Paragrafen in Grundgesetz und Länderverfassungen. Da geht es um ganz neue Welt- und Menschenbilder, die den homo sapiens runterholen von der Spitze der Schöpfungspyramide, auf der er sich sieht.

Thilo Wesche, Philosophie-Professor in Oldenburg und Autor der Buches ‚Die Rechte der Natur‘, erklärt es so: „Unser bestehendes Natur-Verhältnis ist da ganz eindeutig: Der Mensch ist das Subjekt, das Rechte besitzt, das Ansprüche hat.

Und die Natur ist lediglich ein Objekt, über das diese Ansprüche und Rechte ausgeübt werden. Das ist ein ganz asymmetrisches Verhältnis: Der Mensch herrscht und die Natur ist unterworfen.

Und die ‚Rechte der Natur‘ versuchen, die Natur auf Augenhöhe zu stellen mit bestehenden Rechten, die die Menschen besitzen. Also es wird erst einmal eine Waffengleichheit hergestellt zwischen Rechten von Menschen und Rechten der Natur.“

Den Aktivisten in Zivilgesellschaft, Wissenschaft und auch der Kirche geht es um eine Zukunft, in der Frieden zwischen Mensch und Natur herrscht – mit Kooperation statt Ausbeutung, Würde statt Zerstörung, Gemeinsamkeit statt Trennung. Da braucht es für ein neues Denken neue Begriffe.

Unsere Verwandtschaft mit der Mitwelt erkennen

In den zukünftigen Verfassungstexten soll nicht mehr der Begriff der ‚Umwelt‘ stehen, der suggeriert, die Welt wäre da draußen – um uns herum. Hans Leo Bader sammelt zurzeit Unterschriften für ein bayerisches Volksbegehren, dass statt der ‚Umwelt‘ der ‚Mitwelt‘ Verfassungs-Rechte geben soll. Das ist eine Weltbild-Veränderung von kulturhistorischen Dimensionen, manche sprechen von einer neuen ‚kopernikanischen Wende‘.

Claus Biegert will mit seinem zurzeit entstehenden Dokumentarfilm ‚Ich bin die Loisach‘ zunächst einen inneren Wandel erreichen: Dass die Menschen entlang des Flusses begreifen, dass dieses malerische kleine Gewässer zu ihnen gehört, ihr Trinkwasser sie durchfließt, ihr Leben nährt, sie sowas wie ‚Verwandte‘ sind.

„Diese Verwandtschaft mit unserer Mitwelt ist eine verloren gegangene Erkenntnis. Und deren Wiedergewinnung ist ein unerhörter Reichtum. Denn was gibt es Großartiges als in der Natur, zu der wir gehören, zu gehen und zu spüren: ‚Ich bin nicht allein!‘“

Aktivisten wie Claus Biegert wollen Bewusstseinsarbeit machen, die irgendwann das Fühlen und Denken über die Welt so verändern, dass die ‚Rechte der Natur‘ zur Selbstverständlichkeit werden.

Sie wollen zwei, drei, viele Loisachs, überall Flüsse, Berge, Täler als lebendige Subjekte, wie Menschen mit Rechtstiteln. Auch hier bei uns. Rund vierhundert solcher Orte gibt es weltweit bereits, durchgesetzt von mehreren Hundert Initiativen.

Ecuador verlieh als erstes Land der Natur Rechte

Vorreiter für die Etablierung der Rechte der Natur war das südamerikanische Land Ecuador, dass dem ‚Buen vivir‘ – der indianischen Philosophie des ‚Guten Lebens‘ für Mensch und Schöpfung – folgte.

Alberto Acosta, in Deutschland studierter Wirtschaftswissenschaftler, setzte als Präsident der Verfassungs-gebenden Versammlung 2008 die Natur-Rechte durch: „Wir sind das erste Land, das in einer Verfassung die Rechte der Natur akzeptiert haben. Buen vivir bedeutet das Leben, Individuum und Gemeinschaften müssen im Gleichgewicht mit der Natur leben. Wir sind Natur!“

Die indigenen Völker, tief verbunden mit der Verehrung einer ‚Pacha Mama‘ genannten lebendigen Erde, nutzen gemeinsam mit Umweltschützern das Konzept im postkolonialen Kampf um Landrechte und gegen die Zerstörung durch transnationale Öl- und Bergbaufirmen vor Gericht.

Und immer öfter mit Erfolg: 2022 stoppten Richter in Ecuador ein riesiges Bergbauprojekt für eine Gattung vom Aussterben bedrohter Frösche.

„Reziprozität ist das Kernprinzip vieler indigener Philosophien“, erklärt der politische Philosoph Matthias Kramm: „Diese Weltsicht sagt: ‚Ich werde in eine Natur hineingeboren, ich empfange vom Fluss, ich empfange vom Berg, ich empfange vom Wald.‘ Und komme dadurch auch in diese Pflicht zurückzugeben.“

Derartige Traditionen verbergen sich auch bei Theologen wie Giordano Bruno, Franziskus, den christlichen Mystikerinnen, und der Enzyklika ‚Laudatio Si‘ des Papstes. Bei Denkern wie Spinoza, den Philosophen der Romantik wie Novalis, Schlegel, Tieck, Hölderlin und auch Goethe, später Martin Heidegger oder Albert Schweitzer, dem Tiefenökologen Arne Naess bis zu zeit-genössischen Umweltethikern.

Ein Teil des Flusses, der Natur werden

Entwürfe für eine Reform des Grundgesetzes liegen vor, formuliert von Vertretern der Zivilgesellschaft, aber auch von Profis, wie dem Münchner Jura-Professor Jens Kersten, Autor des Buches ‚Das ökologische Grundgesetz‘: „Wir müssen Dämme gegen die Selbstzerstörung bauen und dafür brauchen wir ein ökologisches Grundgesetz.“

Die ‚Rechte der Natur‘ scheinen noch exotisch und sind doch in Europa längst angekommen. Spanien erklärte 2022 die Salzwasser-Lagune ‚Mar Menor‘ nach einem Volksbegehren zum ersten Rechtssubjekt Europas, nachdem zu viel Gülle und eine dadurch ausgelöste Algenblüte das Binnenmeer bei Cartagena hatte kippen lassen und Tausende von toten aufgedunsenen Fischen mit dem Bauch nach oben schwammen.

An der Oder – aufgeschreckt durch die chemische Vergiftung 2023 – wird zurzeit Ähnliches versucht. An der französischen Loire will man präventiv die Rechte der Natur einführen. In Irland ist ein entsprechendes Volksbegehren in Vorbereitung.

Dokumentarfilmer Claus Biegert: „Ich meine, die Loisach lädt uns ja auch ein, ein Teil von ihr zu werden. Was heißt das: Ein Teil von ihr? Der Idealfall ist, dass wir Menschen mit unserer Mitwelt – den Geflügelten, den Vierbeinigen, den Schwimmenden, den Wurzelnden – dass wir mit denen in Einklang auf dieser Mutter Erde leben. Das sollte unser Ziel sein. Die Loisach soll Rechtsperson werden!“

Geseko von Lüpke

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Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Alle Kommentare

Ihr Lieben Alle,
die ihr diese Zeilen verfaßt .

Ich stimme dem voll und ganz zu .

Gerne unterstütze ich mit meiner Stimme dieses wichtige Anliegen.

Mit Herz grüßt,
Manuela Reitmeier

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