Die 3. Achtsamkeitsübung: Wahre Liebe
Der Meditationsmeister Thich Nhat Hanh hat fünf Achtsamkeitsübungen entwickelt, nach entsprechend allgemein anerkannten ethischen Richtlinien. Yesche U. Regel stellt die dritte Regel vor: wahre Liebe und Achtsamkeit in sexuellen Beziehungen.
Im Bewusstsein des Leidens, das durch sexuelles Fehlverhalten entsteht, bin ich entschlossen, Verantwortungsgefühl zu entwickeln und Wege zu erlernen, die Sicherheit und Integrität von Individuen, Paaren, Familien und der Gesellschaft zu schützen. Im Wissen, dass sexuelles Verlangen nicht Liebe ist und dass sexuelles Handeln, das durch Begierde motiviert ist, immer sowohl mir als auch anderen schadet, bin ich entschlossen, keine sexuelle Beziehung einzugehen, ohne wahre Liebe und die Bereitschaft zu einer tiefen, langfristigen und verantwortlichen Bindung, von der meine Familie und meine Freunde wissen.
Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Kinder vor sexuellem Missbrauch zu schützen und um zu verhindern, dass Paare oder Familien durch sexuelles Fehlverhalten auseinanderbrechen. In dem Bewusstsein, dass Körper und Geist eins sind, bin ich entschlossen, geeignete Wege zu erlernen, um gut mit meiner sexuellen Energie umzugehen und die vier grundlegenden Elemente wahrer Liebe – liebevolle Güte, Mitgefühl, Freude und Unvoreingenommenheit – zu entwickeln, sodass mein eigenes Glück und das Glück von anderen wachsen kann. Indem wir wahre Liebe üben, werden wir auf sehr schöne Weise in die Zukunft fortbestehen.
Verantwortung für das eigene Sexualverhalten übernehmen
Die 3. Achtsamkeitsübung behandelt – negativ ausgedrückt – das Sich-Enthalten von unheilsamen sexuellen Ausdrucksformen und die Frage, wie man – im positiven Sinn – Sexualität gesund und heilsam gestalten und dabei Verantwortung übernehmen kann. Sexualität zu leben ist eine intensive Erfahrung und so wird diesem wichtigen Bereich des menschlichen Verhaltens eine hohe Bedeutung beigemessen.
Was ist das Problem mit Sexualität, wo sie doch angenehm und genussvoll sein kann und maßgeblich für die Fortpflanzung jeder Spezies auf diesem Planeten ist?
Es geht vor allem um Verantwortung bzw. ein Verantwortungsgefühl. Sexualität kann im schönen und heilsamen Sinn nur zwischen zwei Menschen geschehen, die einander bewusst zugetan sind, und sie ist so gut wie immer ein Akt, der Folgen hat. Wer einmal mit einem Menschen so innig verbunden war, kann das nicht ohne Weiteres wieder vergessen. Ein tiefer Eindruck bleibt immer zurück und zumeist auch irgendeine Absicht der Wiederholung und Fortsetzung.
Bei sexuellem Fehlverhalten geschieht entweder ein gewaltsamer Übergriff, was bedeutet, dass das beidseitige Einvernehmen nicht eindeutig vorhanden ist, oder die emotionalen, menschlichen und sozialen Folgen des sexuellen Kontakts werden ignoriert.
Verletzungen vermeiden
Eine gesunde, heilsame Sexualität würde demnach vor allem auf gegenseitiger Liebe basieren, die den echten Wunsch mit sich bringt, den Partner zu erfreuen und miteinander glücklich zu sein; darüber hinaus ist sie frei von Unklarheit in Bezug auf die möglichen Folgen des sexuellen Kontakts zweier Menschen. Und hier kommt eine buddhistische Einsicht ins Spiel:
Begierde ist nicht Liebe; Begehren darf nicht mit Liebe verwechselt werden. Der Mensch selber muss lernen, diese Neigungen in sich zu unterscheiden, um Liebe zu erlernen und Begehren als das zu erkennen, was es ist.
Wenn wir sagen: „Ich liebe dich“, und selbst, wenn wir sagen: „Ich liebe Pizza“, meinen wir da nicht, dass wir sie einfach nur begehren? Die körperlich-psychischen Gefühle des Reizes und der Erregung, so biologisch und elementar sie sein mögen, sind immer Hunger, Gier, Begierde. Liebe, um es ein wenig romantisch zu sagen, kommt von Herzen.
Es geht um den Schutz von „Individuen, Paaren, Familien und der Gesellschaft“, denn wenn hier keine stabile Liebe und Weitsicht da ist, kommt es fast automatisch zu Verletzungen, wenn nicht zu Dramen, zu leidvollen Emotionen und zwischenmenschlichen wie individuellen Krisen.
Die Bereitschaft zu einer „tiefen, langfristigen und verantwortlichen Bindung“ und eine gewisse Öffentlichkeit der Beziehung verleihen der Nähe, die zwischen zwei Menschen entstanden ist, erst eine Ruhe und Kraft. Es bedarf einer psycho-sozialen Infrastruktur, in deren Rahmen sich intime Nähe leben, gestalten und ausdrücken lässt.
Diese Achtsamkeits-Richtlinie ist also nichts für Menschen, die nur das sexuelle Abenteuer suchen oder sogar bereit sind, dafür Geld zu bezahlen oder zu erhalten. In dem Rahmen mag es zwar eine gewisse Legalität geben, aber eben doch keine wirklich zufriedenstellende Lebensperspektive.
Lieben lernen
Wahre Liebe zu lernen ist eine langfristige Aufgabe, und dazu braucht es wohl auch langfristige Beziehungen. Viele, die eine lange Partnerschaft verbindet, erkennen eine tiefere Form von Liebe vielleicht erst angesichts von Krankheit der oder des Anderen, im Alter oder wenn man auf etwas gemeinsam Erreichtes oder Vollbrachtes zusammen zurückblicken kann, etwa auf die Kinder, die man groß gezogen hat. Ein Paartherapeut schrieb einmal: „Zuerst blicken sie einander an, dann blicken sie zu zweit auf ein Drittes – das ist Liebe.“
In der buddhistischen Psychologie gilt das Begehren, die Leidenschaft (die „Leiden schafft“), das emotionale Festhalten, als ein „naher Feind“ der echten Liebe, der Qualität von „Metta“ bzw. „Maitri“, was auch als‚ wahre, gemütserlösende und das Herz befreiende Liebe’ definiert wird.
Auch der „nahe Feind“ kann mit Formen emotionaler Liebe einhergehen, aber die warmherzige und wohlwollende Liebe auch behindern. Das macht die Übung von wahrer Liebe so schwer. Zur Unterscheidung der vielen Facetten von Liebe ist Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“ immer noch lesenswert.
Andererseits ist ein gewisses Halten und Aufrechterhalten der Liebe auch notwendig für ihre Qualität und bringt erst das Verantwortungsgefühl hervor. Wer wirklich wünscht, dass der Partner und die Kinder glücklich sind, der möchte bei ihnen bleiben, die Beziehungen pflegen, sie schön gestalten, dabei Sorge und Fürsorge übernehmen und vor Angst und Gefahr schützen.
Deshalb ist Missbrauch in einer intimen Beziehung, zumal Kindesmissbrauch, ein schlimmer Bruch allen Vertrauens. Er fügt tiefe Wunden und Verletzungen zu und ist, welche Gründe es dafür auch gibt, ein Verbrechen.
Auch der Übermut in sexuellen Beziehungen, der Exzess oder die Promiskuität, kann heftige emotionale Irritationen auslösen und sogar Gewalttaten nach sich ziehen. Oft zerbrechen dadurch enge Beziehungen, Partnerschaften und Familien.
Der Wert der festen Beziehung
Es geht hier nicht um eine pietistische Moral und altmodische Vorstellungen von sexuellem Anstand, die oft auch Gewalt und Missbrauch nach sich gezogen oder verdeckt haben. Wobei Thich Nhat Hanh Heirat und Ehe durchaus befürwortet.
Die Ehe ist ein Versprechen, langfristig als Paar zusammen zu bleiben und dabei eine besondere Qualität der Gemeinsamkeit zu entwickeln, die Treue, Fürsorge und Verantwortung für den gesamten Kontext der Partnerschaft einschließt, also auch für die Familien, aus denen beide stammen, und die Freundschaftskreise, denen beide angehören sowie die Nachfahren.
Natürlich können auch Patchwork-Familien Harmonie und Gesundheit entfalten, wenn es gelingt, offen und ehrlich miteinander umzugehen und auch den Kindern gegenüber emotional authentisch zu sein, z.B. indem man kindgerecht erläutert, was mit den Beziehungen geschehen ist und wie man versucht, das Beste daraus zu machen.
Liberal gedacht gehört vielleicht auch die Trennung zur emotionalen Authentizität, wenn man erkennen muss, dass eine Beziehung oder Ehe gescheitert ist.
Sexualenergie beherrschen lernen
Sexualität ist eine kostbare Energie, mit der es gilt gut umgehen zu lernen. Methoden des Yoga und der ostasiatischen Arbeit mit dem feinstofflichen Qi bieten hierzu Hilfsmittel, die dazu beitragen können, die sexuelle Kraft auch für andere Funktionen zu nutzen, wie z.B. zur Steigerung von geistiger Wachheit und körperlicher Vitalität.
Man weiß in diesen Disziplinen, dass das begierde-bedingte Ausleben von Sexualität mit einem Energieverlust einhergeht, auch wenn dieser eine gewisse Natürlichkeit besitzt. Thich Nhat Hanh schlägt offenbar vor, Wege zu erlernen gut mit der eigenen Sexualenergie umzugehen, eben auch so, dass diese nicht uns beherrscht, sondern wir sie beherrschen bzw. sinnvoll einsetzen können.
Was ist wahre Liebe?
Thich Nhat Hanh setzt die im indischen Kulturraum berühmten Vier Unermesslichen Geisteshaltungen, die Brahmaviharas, mit wahrer Liebe gleich: liebevolle Güte, Mitgefühl, Freude und Unvoreingenommenheit. Sie sind Facetten der Liebe, die weit über das Begehren, die Leidenschaft oder die bloße Sexualität hinausgehen. Das Glück aller Beteiligten soll wachsen können.
Mit dieser Ausrichtung, so der Autor, wird die Zukunft „auf eine sehr schöne Weise“ erlebt und man wird zu einer gesünderen und friedlicheren Welt beitragen, mit Kindern, die aus relativ gesunden Familien entstammen.
Chancen und Grenzen des Zölibats
Im Fall der ethischen Richtlinien für Nonnen und Mönche wäre das Sich-Enthalten von sexuellen Handlungen als Zölibat sogar das wichtigste Versprechen. Es ist der Verzicht, Begierde auszuleben, den man hier auf sich nimmt. Die Nonne oder der Mönch können, ja müssen lernen, Begierde und Liebe in sich zu unterscheiden. Sie dürfen voller Liebe sein, aber Begierde nicht zu einer Handlung werden lassen.
Ich habe von 1980-1997 als buddhistischer Mönch zölibatär gelebt und bin davon überzeugt, dass man sich unter der Bedingung sexueller Enthaltsamkeit leichter dem geistigen, meditativen Leben widmen kann. Man darf sich von einigen weltlichen Verpflichtungen frei fühlen und lebt in einem gesellschaftlichen Sonderstatus, oft ohne Geld und Besitz, aber auch ohne intime Beziehung und die damit einhergehenden Emotionen.
Wer immer sexuell enthaltsam lebt – und sei es für eine gewisse Lebenszeit – muss Wege zu finden, die Unterdrückung von sexuellen Trieben zu vermeiden. Diese Menschen benötigen dafür vielleicht spezielles Wissen und geistige Unterstützung, etwa geeignete Methoden, um Begierde zu transformieren bis hin zu zölibats-konformen Praktiken der Energie-Arbeit. Sonst besteht die Gefahr, dass es unter dem Deckmantel des Zölibats zu Missbrauchsfällen kommt.
Die Erfindung empfängnisverhütender Mittel und Maßnahmen hat sicherlich manches verändert, und es ist heute eine Freiheit und Verantwortung zugleich, diese angemessen anzuwenden. Doch wird die Empfindlichkeit menschlicher Emotionen durch Pillen und Kondome nicht außer Kraft gesetzt. Vertrauen, Respekt, Rücksicht, Liebe und ein geschickter Umgang mit dem sensiblen Bereich der Sexualität sind nach wie vor von Nöten.
Geistige, spirituelle und allgemein menschlich-biologische Wege können gewiss auch miteinander verbunden werden. Aber auch ein spiritueller Laien-Lehrer begeht einen Missbrauch, wenn sie oder er Rollen vermischt und eine Schülerin oder einen Schüler durch sexuelle Offerten emotional verwirrt und evtl. langfristig verletzt.
Interessant ist, dass Thich Nhat Hanh nicht auf Homosexualität eingeht. Die Achtsamkeitsübung der Verantwortung für das eigene Sexualverhalten und die Kultivierung einer wahren Liebe gilt gewiss für alle Formen der Paarbeziehung.
Yesche Udo Regel
Lesen Sie auch folgende Beiträge des des Autors:
zur 1. Achtsamkeitsübung “Leben schützen”
zur 2. Achtsamkeitsübung “Großzügig sein”
Yesche U. Regel ist freiberuflicher buddhistischer Lehrer für Meditation und Studienthemen. Er war viele Jahre buddhistischer Mönch. Heute leitet er das Paramita-Projekt in Bonn. www.paramita-projekt.de