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Die Ethik kreist zu sehr um den Menschen

Stanislav Kachyna /shutterstock.com
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Ein Standpunkt von Claus Eurich

Die meisten Ethiker stellen den Menschen ins Zentrum ihrer Überlegungen – mit fatalen Konsequenzen für die Erde. Claus Eurich will die Ethik in den Dienst des Lebens insgesamt stellen. Artikel 1 des Grundgesetzes solle lauten: „Die Würde des Lebens ist unantastbar“. So kämen Natur und Tieren auch Rechte zu.

In der modernen Welt hat sich der Mensch ins Zentrum allen Geschehens gerückt. Er ist sich selbst der einzige und letzte Maßstab geworden. Der technische Fortschritt und der teilweise unermessliche Reichtum wurden mit der schonungslosen Ausbeutung der Lebensgrundlagen und der natürlichen Ressourcen bezahlt. Das nichtmenschliche Leben geriet in diesem Prozess zur reinen Verfügungsmasse für menschliche Konsumbedürfnisse und den Ruf nach immer mehr. So hat ein gewaltiges Artensterben in Flora und Fauna begonnen.

Es erhebt sich an dieser Stelle die Frage, wie es denn sein kann, dass das schlimme Unrecht, das der Mensch an seinen Mitgeschöpfen, ja am Lebewesen Erde insgesamt, verursacht und begangen hat, nicht zu einem Aufschrei der Ethiker geführt hat. Der Grund ist einfach: Mit wenigen Ausnahmen, wie vor allem Albert Schweitzer, Peter Singer und auch Arthur Schopenhauer schien und scheint es ihnen eine niederrangige Frage zu sein. So verharrt die europäische Ethik bis heute in ihrer anthropozentrischen Nische, verlängert also den unsere Gattung beherrschenden Egozentrismus auf das Leben schlechthin.

Sie ist ganz auf den Menschen, seine Rechte, seine Bedürfnisse, seine Umgangsweisen mit Seinesgleichen beschränkt. Ihr muss wohl auch seit jeher instinktiv klar gewesen sein, in welche Schwierigkeiten ihre geistigen Gebäude gerieten, würde sie das Gebot der Liebe zu allen Lebewesen ins Zentrum rücken. Über den Menschen hinauszugehen sei für sie, wie Schweitzer betonte, lediglich ein unbedeutender Anbau an das ethische Hauptgebäude.

Tiere bleiben außen vor

„Wie die Hausfrau, die die Stube gescheuert hat, Sorge trägt, daß die Türe zu ist, damit ja der Hund nicht hereinkomme und das getane Werk durch die Spuren seiner Pfoten entstelle, also wachen die europäischen Denker darüber, daß ihnen kein Tier in der Ethik herumlaufe. Was sie sich an Torheiten leisten, um die überlieferte Engherzigkeit aufrechtzuerhalten und auf ein Prinzip zu bringen, grenzt ans Unglaubliche. Entweder lassen sie das Mitgefühl gegen Tiere ganz weg, oder sie sorgen dafür, daß es zu einem nichtssagenden Rest zusammenschrumpft.“ (Schweitzer: Kulturphilosophie. Band I und II. München 2007, S.295)

Dies muss auch den Weltreligionen, vor allem den abrahamitischen, also Judentum, Christentum und Islam, vorgeworfen werden. Sie haben den auf einer umfassenden Ethik basierenden Kulturfortschritt, den sie durch ihren großen Einfluss auf die Weltanschauung der Menschen hätten bewirken können, verweigert. Ihr Denken ist, wie in der Kultur dann insgesamt, an der Aufgabe gescheitert, den universalen Schöpfungs- und Lebensimpuls mit einer entsprechenden Ethik zusammenzudenken. So verharren sie in einem Stadium selbstverschuldeter Lebensignoranz. Und so erweisen sie sich in einem tieferen Sinne als evolutions- also entwicklungsfeindlich.

Ethik an das Denken koppeln

Ethik heute, wenn sie sich selber ernst nehmen und nicht mit der Nischenposition einer interessengesteuerten Systemethik (Wirtschaftsethik, Bioethik, Medizinethik, Medienethik etc.) zufrieden geben möchte, braucht den Bezug auf das Leben an sich.

Der Urwaldarzt, Philosoph und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer hat hierzu mit seiner „Ehrfurcht vor dem Leben“ die Fundamente gelegt. Auf diesem Wege kommt es darauf an, dass eine solche Ethik nicht nur aus Gefühlen, einem empathischen Postulat oder Empörung über die bisherigen Defizite erwächst, sondern sie sich denknotwendig erschließt. Sie sollte an die Philosophie entsprechend rückgekoppelt sein.

Das Denken und das entsprechende Erkennen haben bezüglich des Lebensprozesses bislang sehr weitgehend versagt, bzw. sie haben die in ihnen tradierten Grenzen nicht in Frage gestellt. Entsprechend kastriert war die daraus folgende sogenannte Vernunft.

Vernunft hat aber keinen anderen Sinn, als dem Leben umfassend zu dienen. Und so wartet sie noch auf ihre Befreiung und Vertiefung, um zeitunabhängige Notwendigkeiten begründet zu formulieren. Nur das beugt Postulaten vor, die lediglich aus einem spontanen Gefühl entstanden sind und darauf ihr „Ethos“ gründen. Nur das vermag sich kraftvoll, selbst in emotional erkalteten Zeiten, zu positionieren und sich als stärker zu erweisen als jede sogenannte Macht der Verhältnisse.

Die Natur hat keine Rechte

Es ist naheliegend, dass dem vorherrschenden anthropozentrischen Ethos der Vergangenheit und Gegenwart auch ein Würdeverständnis folgt, das den Menschen als Ausgangs- und Zielpunkt der Orientierung sieht. Alle großen Verfassungen auf dieser Erde haben das übernommen und befördert.

Dies gilt auch für das ansonsten großartige Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Der Mensch alleine ist hier Ausgangs- und Zielpunkt der Orientierung. Würde kommt alleine ihm zu. Einklagbare Rechte werden im Wesentlichen nur ihm zugesprochen. Seine Vermehrung und seine Bedürfnisse stehen außer Frage. Heute sehen wir nicht nur, sondern wir beginnen drastisch zu spüren, welche Folgen diese Selbstbezüglichkeit hat. Nicht nur der Mensch, das Leben an sich auf diesem Planeten steht am Scheideweg.

Das Ethos des Lebens und ein daraus folgendes Würdeverständnis setzen an diesem Punkte an. Sie folgen dabei einer durch nichts in Frage zu stellenden Logik des Lebens. Diese respektiert, dass der Mensch Leben ist, das leben will – aber eben immer inmitten von vielfältigem Leben, das gleichfalls leben will.

„Lebensrechte“ nehmen damit den übergeordneten Rang ein. Die Verantwortung und Aufgabe des Menschen und der
 Menschheit insgesamt ist es danach, Leben zu fördern, zu bewahren und zu pflegen. Dieser Dienst am Leben ist dabei zugleich der größte Dienst, den der Mensch sich selber leisten kann. Denn nur dann wird er im Netzwerk des Seins überdauern. Nur dann zeitigt Ethik auch einen tieferen, evolutionären Sinn und sieht sich nicht reduziert auf eine geistige Spielwiese.

Den Begriff der Würde ausweiten

Seitens des Menschen die Würde des Lebens zu verstehen und zu respektieren, setzt voraus, dass wir Menschen uns zunächst unserer eigenen Würde und der eines jeden Menschenwesens wahrhaft bewusst werden, diese in Tiefe respektieren und sie leben. Dann vermögen wir, von uns kommend, das Lebensprinzip weiter zu denken und als evolutionären Grundsatz zu verstehen.

Menschenrechte, auch dies muss an dieser Stelle betont werden, rücken durch die Lebensrechte also nicht in die zweite Reihe. Vielmehr erhalten sie eine noch größere, und den Menschen weit überstrahlende Tiefe. Sie sind nun nicht mehr anders zu denken und zu empfinden als konvivial.

Ich möchte deshalb dafür plädieren, und in absehbarer Zeit eine Petition dazu starten, Artikel 1 des Grundgesetzes einen neuen und vertieften Ausgangspunkt zu geben. Statt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ soll es zukünftig lauten: Die Würde des Lebens ist unantastbar!

Damit allein würde der Bezug zum Leben und der Umgang mit ihm noch nicht besser, genauso wenig wie sich die Menschenrechtslage allein ob der Allgemeinen Menschenrechtserklärung grundlegend verändert hat. Aber es gäbe fortan einen Ankerpunkt, von dem aus verbindlich Begründung eingefordert werden kann, wenn es um Interventionen in Lebensprozesse geht, die dem Würdegebot zuwider laufen. Die darauf aufbauenden Diskurse würden langfristig das Bewusstsein dem Leben gegenüber verwandeln.

Mehr zum Thema

Claus Eurich. „Radikale Liebe. Die Lebensethik Albert Schweitzers – Hoffnung für Mensch und Erde“. Petersberg, Dezember 2019 (Verlag Via Nova)

Claus Eurich. Aufstand für das Leben. Vision für eine lebenswerte Erde. Petersberg 2016

Auf Ethik heute: Ehrfurcht vor dem Leben: Albert Schweitzers Ethik und die Grenzen des Guten, von Detlef Kühn

 

privat

Prof. Dr. Claus Eurich ist Philosoph, Kontemplationslehrer und Autor zahlreicher Bücher. Er war bis 2017 Hochschullehrer für Kommunikation und Ethik am Institut für Journalistik der TU Dortmund. Kontakt: clauseurich@web.de, Claus Eurich betreibt einen Blog

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Alle Kommentare

Wie schön, endlich wieder einmal aus profundem Munde eine solche Auffassung in der Öffentlichkeit lesen zu dürfen – meinen herzlichsten Dank dafür, Herr Prof. Dr. Eurich! Ihre Auffassung über die zeitgenössische, abendländische Ethik teile ich voll und ganz. Albert Schweitzer hat in der Tat das, was Ethik eigentlich ausmachen sollte, konsequent in Wort und Tat umgesetzt. Obwohl Schweitzers “Ethik des Lebens” schon nahezu ein Jahrhundert der Öffentlichkeit zugänglich ist, wurde sie bislang von der akademischen Ethik kaum zur Kenntnis genommen und ist den meisten Menschen gänzlich unbekannt – leider!

Obwohl ich Schweitzers Auffassung einer alles Leben umfassenden (und damit sogenannten holistischen) Ethik voll und ganz teile, sowie Schweitzer dafür meine allergrößte Wertschätzung entgegenbringe, birgt diese Auffassung jedoch eine Reihe von Problemen. Schweitzer selbst hat diese jedoch – zumindest meiner Kenntnis nach – zeitlebens nicht weiter thematisiert. Diese sind (zumindest) folgende:

1. Zunächst müsste der Begriff “Leben” genauer bestimmt werden, damit er Grundlage einer Ethik sein kann.

2. Zudem wäre festzulegen, welches Leben und unter welchen Bedingungen zu schützen ist.

3. Dazu sind Wertmaßstäbe zu definieren, die in Abwägungssituationen zuverlässige Kriterien anbieten.

Zu (1): Bisher wird der Begriff Leben in den verschiedenen akademischen Disziplinen wie Biologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Soziologie u.a. sehr unterschiedlich definiert. Von seinem Umfang werden diesem meist alle Menschen, Tiere und (die meisten) Pflanzen zugeordnet, aber eher selten anorganisches Leben wie z.B. das Erd- und Mineralreich. Dieses Problem ist aber aus meiner Sicht lösbar. Im Rahmen meiner (noch nicht ganz abgeschlossenen) Dissertation habe ich eine solche Begriffsbestimmung gefunden, die meines Erachtens eindeutig und zugleich hinreichend belastbar ist.

Zu (2): Grundsätzlich muss jedem klar sein, dass jegliches Leben – somit auch das menschliche – nur auf Kosten anderen Lebens stattfinden kann und sogar muss. Um zu wissen, wann und unter welchen Bedingungen wir zur Bewahrung unseres eigenen Lebens anderes Leben schädigen oder gar vernichten dürfen, benötigen wir eindeutige Kriterien und kommen somit

zu (3): Diese Kriterien basieren auf Wertmaßstäben, die zu bestimmen nicht ganz einfach ist. Wir müssen hier nämlich definieren, wann und unter welchen Umständen wir in welchem Maße anderes Leben beeinträchtigen dürfen, um unser eigenes Leben zu erhalten. Diese Maßstäbe zu bestimmen ohne sich in bestimmte Widersprüche zu verwickeln oder in andere Schwierigkeiten zu ihrer Begründung zu geraten, ist kein einfaches Unterfangen und wäre noch zu leisten.

Somit halte ich Ihre Petition zur Änderung des Grundgesetzes bezüglich § 1 für sehr unterstützenswert, sehe es aber für unbedingt geboten an, wenigstens die drei genannten Probleme möglichst schon vor der Änderung desselben zu lösen.

Mit herzlichen Grüßen
Frank Kirschberger.

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