Ein Kommentar von Christoph Quarch
Am Streit um Griechenland, am Ukraine-Konflikt und besonders am Flüchtlingsproblem zeigt sich die Krankheit Europas, so die Einschätzung des Philosophen Quarch. Ein Wirtschaftsraum zu sein, ist nicht genug. Was Europa fehlt, ist eine Vision, etwa die Idee, ein gemeinsames Haus zu sein.
Es steht schlecht um Europa. Die Krankheit unseres Kontinentes tritt in diesen Tagen deutlich zu Tage. Nicht nur im Streit um Griechenland. Viel mehr noch im Gezerre um die Flüchtlinge aus Afrika. Es ist beschämend zu erfahren, dass Frankreich seine Grenzen dicht macht, um zu verhindern, dass Afrikaner von Italien aus ins Land gelangen. Es ist beschämend, dass ein Land wie Großbritannien sich solidarlos von dem Rest Europas abwendet, um keine Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. Es ist beschämend, dass sich osteuropäische Staaten wohl groß damit tun, schwere NATO-Waffen bei sich zu stationieren, aber keine Flüchtlinge aufzunehmen. Die ganze Art und Weise, wie die europäische Politik mit dem Flüchtlingen umgeht, schreit zu Himmel.
Es ist wie einst im alten Rom, und das ist kein gutes Zeichen: Der Niedergang beginnt am Rand. Wenn dort nicht bald tragfähige Lösungen gefunden werden, wird aus dem Niedergang ein Untergang. Erschütternd ist, dass diese Lösungen nicht in Sicht sind. Ja, dass man sich nicht einmal die Mühe macht, wirklich couragiert nach ihnen zu suchen: Symptome eines inneren Zerfalls, der an den Grenzen klar zutage tritt. In Griechenland und in der Ukraine, im ganzen Mittelmeer und nun auch noch an den innereuropäischen Grenzen, an denen wir uns wieder auf Kontrollen einstellen müssen.
Wir haben die Tugenden vergessen
Wo liegt das Problem? Das Problem steckt im Zentrum, es steckt im Herz. Europa ist herzkrank. Europa fehlt etwas, das wirklich eint. Allein ein Wirtschaftsraum zu sein, ist nicht genug. Und wenn in diesen Tagen von einer „Wertgemeinschaft“ gesprochen wird, dann verrät sich darin erst recht, dass es an einem echten geistigen Gravitationskern mangelt. Denn die Werte, die benannt werden, sind alt und verbraucht: Demokratie und Freiheit. Das sind zwar schöne Qualitäten, ohne Zweifel – doch beider Wert besteht von Alters her darin, dass sie im Dienste anderer Ideen stehen – im Dienst von Idealen oder Tugenden: Gerechtigkeit, Harmonie, Lebendigkeit, Menschlichkeit. Und eben die scheinen in Vergessenheit geraten zu sein. Man lobt die Mittel und vergisst den Zweck. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.
Europa fehlt die Seele. Europa fehlt eine Vision. Allein ein Wirtschaftsraum zu sein, ist nicht genug. Zumal die Wirtschaft schwächelt und das System der freien Marktwirtschaft immer deutlicher zu erkennen gibt, dass es seine Wohlstandsversprechen auf Dauer nicht wird einhalten können – und dass das schon jetzt nur um den Preis von Ausbeutung und Naturzerstörung, von Entfremdung des Menschen und Auflösung sozialer Strukturen funktioniert.
Europa braucht eine Vision, die trägt – die stark genug ist, die Menschen an sich zu binden und die Neuankömmlinge zu integrieren; die stark genug ist, den Mut zu einem Schuldenerlass für Griechenland aufzubringen und eine klare Linie an den Grenzen zu ziehen. Nur wer im Innern fest ist, kann an der Grenze sicher sein.
Europa braucht ein Maß von innen. Es kann nicht ewig wachsen – nicht wirtschaftlich und auch nicht geographisch. Wir wären gut beraten, eine klare Grenze im Osten zu ziehen. Bis hier und nicht weiter. Um dann eine couragierte Politik mit den Ländern jenseits dieser Grenze zu verfolgen: der Ukraine, der Türkei, den nordafrikanischen Staaten. Dort sind unsere Kräfte und Energien gut investiert. Dort Infrastrukturen und einen nachhaltigen Grenzverkehr aufzubauen, ist viel besser, als das bisherige Rumlavieren und die lächerliche Strategie, mit Hilfe von Fronttex Schiffe-Versenken spielen zu wollen.
Der grüne Kontinent: Eine ökologische Vision
Der klaren Grenze nach außen entspricht ein klares Maß nach innen: Wirtschaftliches Wachstum kann das Maß nicht sein. Es kann nur menschliches Wachstum sein: ein Mehr an Menschlichkeit, an Nachhaltigkeit im Umgang mit einander und mit der Natur.
Europa braucht eine ökologische Vision – die Vision eines gesunden und lebendigen Oikos: eines gemeinsamen Hauses – eines Hauses, in dem für viele Platz ist; in dem man sich gemeinsam hilft, weil man weiß, dass man zusammengehört. Es braucht die Vision eines Lebens in spannungsvoller Harmonie, in der die Vielfalt ebenso bestehen darf wie das Bewusstsein darum, dass man ein gemeinsames Haus bewohnt; die Vision einer Kultur, die es als höchstes Ziel erkennt, im Einklang mit der Natur und den großen Gesetzen der Erde zu leben. Der Grüne Kontinent – das wäre die Vision, die eint und die uns stark macht. Wer sich auf sie verpflichtet gehört dazu. Wer nicht, bleibt draußen – und darf sich einer guten Nachbarschaftspflege gewiss sein.
Doch davon sind wir weit entfernt. Im Augenblick gilt „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Man spielt „Flüchtlinge“ verschieben. Ist doch egal, was in Italien und Griechenland geschieht – Hauptsache der eigene Wohlstand ist nicht in Gefahr, so scheint das Credo, und das nicht nur in Deutschland. Überall treibt der Ökonomismus seine unheilvollen Keile ins europäische Haus. Griechenland ist nur ein Beispiel dafür, TTIP und CETA sind weitere: Die europäischen Wurzeln (die nun einmal in Griechenland liegen) werden ignoriert, die kulturelle Identität Europas um eines Freihandelsabkommens mit Amerika willen wird geopfert.
Neu denken lernen
Was ist konkret zu tun? Ich weiß es nicht. Einfache Lösungen wird es nicht geben. Gut wäre es, wenn wir die Größe aufbrächten, den Griechen zu vertrauen und der Regierung Tsipras die Chance gäben, ihr Land auf ihre Weise zu reformieren, anstatt ihnen die Rezepte einer gescheiterten Marktideologie aufzwängen zu wollen. Gut wäre es, ein für alle mal die Grenzen der EU festzulegen – ohne Türkei und Ukraine, um diesen Staaten ebenso wie den nordafrikanischen Mittelmeeranrainern im selben Atemzug ein langfristiges und nachhaltiges Nachbarschaftshilfeprogramm vorzulegen. Gut wäre es, Italien und Griechenland mit den Flüchtlingen nicht allein zu lassen.
Am besten aber wäre es, ein neues Denken zu gebären, doch das ist leider das, was den Menschen am allerschwersten fällt. Gleichwohl sollten wir die alte Formel von Jacques Delors zu neuem Leben erwecken und als Bürgerinnen und Bürger einen Diskurs darüber beginnen, wie wir Europa eine Seele geben können – eine Seele und ein Herz. Europas Herz wird nur gesunden, wenn es seinen Geist kuriert.
Lesen Sie auch den Beitrag des Autors “Tsipras kämpft für die Freiheit” und den Artikel der Philosophin Ursula Baatz “Europa beginnt im Orient”
Dr. Christoph Quarch ist freischaffender Philosoph, Autor, Vortragender und Veranstalter philosophischer Reisen. www.christophquarch.de