Interview mit Andreas Weber
Wie können wir so leben, dass alle Wesen, auch Tiere und Pflanzen, leben können, fragt der Biologe Andreas Weber. Das Artensterben zeigt, dass es kein Geben und Nehmen mehr mit der Natur gibt. Im Interview spricht Weber auch über wirtschaftliche und private Interessen, die das Lebendige missachten, und wie wichtig es ist, Beziehungen in Gegenseitigkeit zu vertiefen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke
Frage: Angesichts des Artensterbens wird die Bedeutung der Biodiversität und Artenvielfalt zunehmend wahrgenommen. Sehen Sie das als eine positive Entwicklung? Wie können wir diesen Bewusstseinswandel unterstützen?
Weber: Begriffe wie Biodiversität oder Artenvielfalt sind technische Begriffe, die das Angesprochene aus dem eigenen Erleben herausnehmen. Das dominierende Argument hier ist, wir Menschen bräuchten die Komplexität der Biosphäre für unsere Zwecke, weil sie der Zivilisation Stabilität gibt.
Ich empfinde den Verlust von Artenvielfalt vielmehr persönlich als Verlust von Freunden oder Verwandten, als Verlust der anderen Wesen, mit denen ich intensive und freudvolle Beziehungen teile. Das ist mein Empfinden, insofern ist es auch ein emotionaler Prozess. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auch diese persönliche Dimension erfassen. Aber viele Menschen erleben überhaupt nicht mehr, dass Beziehungen mit anderen Wesen möglich sind.
Wie sehen Sie die Auswirkung des „Verlustes von Freunden“ auf uns Menschen?
Weber: Freunde haben heißt, in Beziehungen aufgehoben sein, die mich halten, aber gleichzeitig etwas von mir verlangen. Das ist die Definition einer intakten Beziehung: ich gebe und nehme. Dieses Geben und Nehmen haben wir weitgehend aus den Augen verloren. Unter Menschen kann man vielleicht noch so argumentieren, aber in den Beziehungen zu unseren nichtmenschlichen Freunden und Freundinnen würde kaum jemand sagen, dass wir ihnen auch etwas schuldig sind.
Andererseits gibt es in uns ein unbewusstes Wissen darüber. Mein Nachbar wässert seinen Garten nicht nur, weil er sich verpflichtet fühlt, sondern weil es ihm etwas gibt. Es sind Beziehungen, die uns erfüllen, weil wir gehalten werden und Leben stiften können.
Wenn wir diese Beziehungen nicht mehr führen können, dann fehlt dieses Glück des Gehaltenseins und Gebenkönnens. Wenn wir als Menschen in einem Leben stiftenden Ganzen selbst Leben stiften, dann fühlen wir uns erfüllt und heil.
Viele Menschen können sich deshalb nicht wirklich heil fühlen. Wenn wir diese Freundschaften mit unseren Mitwesen verlieren, dann verarmen, erkranken und verrohen wir seelisch. Wodurch wir die Welt noch stärker des Lebens berauben. Das ist eine Abwärtsspirale.
Wie können wir Beziehungen in Gegenseitigkeit vertiefen?
Was sind Wege aus dieser Spirale heraus?
Weber: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Es ist natürlich so, dass jede und jeder Einzelne diese Freundschaften pflegen kann und daran auch gesunden wird. Gleichzeitig leben wir in einer traumatisierenden Gesellschaft, in der wir von wenigen des Lebens beraubt werden.
Aufgrund von relativ wenigen Mächtigen gesteuerten oder kontrollierten Abläufen können wir uns nicht frei entscheiden. Es wirken Wirtschaftsinteressen und private monetäre Interessen, die das System der Traumatisierung aufrechterhalten.
Deswegen kommen wir da nicht so leicht wieder heraus, aber zumindest kann ich im Kleinen etwas bewirken, etwa indem ich die Bäume hinter meinem Haus vor der Dürre rette. Indem ich Zwiesprache mit der Nachtigall halte, die dieses Jahr direkt unter meinem Fenster singt. In dieser Hinsicht sinnvoll zu leben, das kann jede und jeder.
Das ist aber kein Rezept für eine hedonistische Rettung, sondern auch eine Idee, wie wir Beziehungen in Gegenseitigkeit vertiefen können. Wenn jeder das tun würde, hätte das einen riesigen Effekt. Wenn etwa jeder Gartenbesitzer ein Zehntel seines Grund und Bodens der Natur so überlassen würde, dass Insekten dort wieder ihr Zuhause fänden, wäre damit das Insektensterben gestoppt.
Aber das Problem besteht darin, dass Einzelne kein Interesse an diesem anderen Leben haben, sondern nur daran, dass es ihnen persönlich gut geht. Ich sehe momentan nicht, wie die relativ Wenigen, denen das Leben wirklich am Herzen liegt, diese Strukturen ändern können. Da bin ich pessimistisch.
Ich habe die Befürchtung, dass der Kapitalismus eine Einbahnstraße ist, aus der man nicht mehr herauskommt. Wir müssen ihr jetzt folgen, das ist so mein Lebensgefühl im Moment. Das ändert aber nichts daran, dass ich weiter im Kleinen meinen Teil geben werde.
Wir müssen eigentlich eine Revolution für das Leben vorbereiten, wie das Eva von Redecker in ihrem Buch nennt. Aber ich sehe keine Mehrheit, die eine solche Revolution der Gegenseitigkeit umsetzen kann. Gleichzeitig vermag sich jeder jetzt schon in diese Gegenseitigkeit hinein begeben.
Wir leben in einem Spannungsfeld. Einerseits gibt es die Strukturen des kapitalistischen Systems und die Wirtschaft mit ihrer eigenen Wachstumslogik, die das Lebendige zerstört oder missachtet. Und dann gibt es die Bewegungen, die versuchen, die Beziehungen zur Vielfalt des Lebendigen aufzunehmen.
Viele haben bisher nur an die Ordnung in ihrem privaten Leben gedacht, jetzt merken sie, dass die Ordnung im gesamten Leben verschwindet.
Zumindest bei einer Zahl von Menschen wächst ein gewisses Bewusstsein für die Mitgeschöpflichkeit. Es gibt einen Rückgang von Fleischkonsum und ein Gefühl, dass wir die Tiere anders behandeln sollten. Auch ein Bewusstsein dafür, dass wir die Vögel und die Insekten brauchen. Viele Menschen pflegen eine Beziehung zu Haustieren. Es scheint im menschlichen Herzen doch ein Wissen davon zu geben, dass wir nicht allein sind und dass es auch guttut, dass andere Wesen da sind. Würden Sie das als einen Hoffnungsschimmer sehen?
Weber: Ich lebe ja auch mit einem, wie es heißt, Haustier zusammen. Meine Pudelfreundin ist eigentlich mein Guru und hat mir schon unglaublich viel beigebracht. Ich finde es immer unterstützenswert, wenn Menschen mit Nichtmenschen zusammenleben, weil sie das für eine direktere Beziehung zur Lebendigkeit öffnet.
Nichtmenschliche Personen verwirklichen diese Beziehungen meist besser als wir, deswegen sollten wir bei ihnen in die Lehre gehen. Das wussten schon die indigenen Kulturen. Es gibt natürlich auch toxische Beziehungen zwischen Menschen und ihren privaten Haustieren. Aber generell halte ich solche Verbindungen für gut. Es ist wichtig, dass Kinder diese Beziehungen eingehen dürfen.
Ich erlebe auch die positiven Reaktionen auf meine eigenen Aktivitäten und viele Buchtitel zum Thema Lebendigkeit, es gibt ja derzeit einen Nature- Writing-Boom. Wir leben heute wieder in einer der holistischen Wellen, in denen sich Menschen für das Leben und die Innerlichkeit interessieren – so wie Anfang der 1920er oder 1970er Jahre auch schon.
Tendenziell sehe ich eine langsame Bewegungsrichtung hin zu einer Kultur der Lebendigkeit. Auch in Deutschland werden die Rechte der Natur diskutiert. Man fragt: „Kann ein bayerischer Fluss vielleicht als Rechtsperson angesehen werden?“ Das finde ich auf jeden Fall unterstützenswert. Die generelle Entwicklungsrichtung sehe ich gleichwohl eher pessimistisch.
Wir werden sehen, wie es sich weiterentwickelt. Es sind immer Überraschungen möglich. Mittlerweile sind auch anthropozentrisch eingestellte und konservativ orientierte Menschen um das Leben auf der Erde besorgt. Wenn ich an meine konservative Nachbarschaft in Berlin in der Nähe des Grunewald denke, dann merkt man, dass vielen der Klimawandel unheimlich ist, zum Beispiel, wenn es länger nicht regnet.
Viele haben bisher vor allem an die Ordnung in ihrem privaten Leben gedacht, aber jetzt merken sie, dass die Ordnung im gesamten Leben auf einmal schwindet. Ich bin sicher, dass diese Erfahrung zunehmen wird.
Wir verletzen die Wirklichkeit immer wieder dadurch, dass wir sie nicht sehen.
Es gibt auch Ansätze wie regeneratives Design, wo man Organisationen oder Systeme nach Prozessen gestalten will, die dem Lebendigen nachempfunden sind. Halten Sie das für eine gute Idee oder eher eine weitere Ausnutzung der Natur?
Weber: Das finde ich natürlich erst einmal gut. Meine Mentalität ist in der Hinsicht weniger technisch, sie ist eher imaginativ. Regeneratives Design bedeutet für mich, dass wir ernsthaft mit allen anderen Wesen eine Gegenseitigkeit eintreten. Wie können wir so leben, dass alle anderen Wesen besser leben können als vorher? So würde ich damit beginnen.
So machen das auch viele traditionelle Kulturen. Sie sagen, die menschliche Verantwortung bestehe darin, dass ein Ökosystem, in dem Menschen eingebettet sind, fruchtbar bleibt. Dafür müssen Menschen hart arbeiten. Sie haben sich darum zu kümmern, dass alle Wesen anwesend bleiben können.
Regeneratives Design ist vielleicht eine Art und Weise, wie unsere Kultur diese Verantwortung übernehmen kann. Aber die Gefahr bei so einem technischen Konzept besteht darin, dass wir auf der Seite des Nichtbelebten bleiben, dass wir nicht verstehen, dass diese Welt ein geteilter Prozess ist, auf einer körperlichen und einer seelischen Ebene.
Wir sind mit allen, mit denen wir in Berührung sind, innerlich in Kontakt und sie auch mit uns. Wenn wir das nicht verstehen, dann können wir nicht wirklich heilend wirken, weil wir eine fundamentale Seinsweise außer Acht lassen. Wir verletzen die Wirklichkeit immer wieder dadurch, dass wir sie nicht sehen. Wenn man etwas nicht sieht, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass man es zerstört.
Wir leben in einer Welt der Subjekte, die Beziehungen eingehen, in denen sie sich miteinander und durcheinander verwandeln.
Diese seelische Berührung bedeutet auch, die Natur und ihre Wesen nicht mehr als getrennt von mir zu erleben.
Weber: Wenn ich etwas nach der Natur designen will, dann wird sie allein durch diese Perspektive schon zu einem Objekt. Von Natur können wir sinnvoll nur dann sprechen, wenn wir die ganze kreative Wirklichkeit meinen. Wenn wir also nach dem Vorbild der kreativen Wirklichkeit etwas “designen”, dann müssen wir selbst diese kreative Wirklichkeit sein, weil das eben “kreative Wirklichkeit” heißt: Es gibt keine außerhalb der lebenigen Abläufe stehenden Objekte.
Die Frage ist dann: Wie gestalten wir diese kreative Wirklichkeit so, dass sie weiter kreativ bleiben kann? Dann bin ich sofort an dem Punkt, wo ich konkret überlegen muss, wie ich mit den Wesen in meiner Umgebung zusammenleben kann. Um ein greifbares Beispiel zu geben:
Ich schaue hier aus meinem Fenster: Ich sehe davor die Pflanzen-Personen, mit denen ich auf diesem Stück Erde zusammenlebe. Ich sehe, wie die Krähen-Personen auffliegen und wieder landen. Sie sind heute besonders aufgeregt. Wenn ich all diesen Wesen auf eine solche Weise gegenüber trete, kann ich nicht anders als mich zu fragen: Wie kann ich gemeinsam mit ihnen die kreative Wirklichkeit bewohnen? Darauf kommt es an.
Eine derartige Haltung verspricht übrigens stets eine emotionale Belohnung. Wir fühlen uns immer dann gut, wenn wir in Beziehungen leben. Wir leben ja immer schon in einer Welt der Subjekte, die Beziehungen engehen, in denen sie sich miteinander und durcheinander verwandeln. Wenn ich spüre, dass ich auf produktive Weise an dieser gemeinsamen Welt teilhabe, gibt mir das die Erfahrung von Sinn. Das kann die empirische Psychologie experiementell nachweisen.
In Wirklichkeit gibt es die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, die im Zentrum unserer abendländischen Kultur steht, gar nicht. Alles existiert vielmehr in einer Wechselseitigkeit zwischen Subjekten. In unserer Zivilisation ist uns das leider völlig abhandengekommen. Wir haben die tiefe Erfahrung von der Welt als geteilte Innerlichkeit ideologisch ausgeschlossen. Das sollten wir schleunigst ablegen, sonst kann es nicht gutgehen.
Andreas Weber ist Biologe, Philosoph, Journalist, Autor, Dozent am am Bard College in Berlin. Autor einiger Bücher, u.a. “Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften”, 3/2019 sowie “Sein und Teilen. Eine Praxis schöpferischer Existenz”, 2017. www.autor-andreas-weber.de
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