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“Mehr auf das antworten, was uns aus der Zukunft entgegen kommt”

Foto: Maja Heinrich
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Interview mit Otto Scharmer über Transformation

Wir stehen am Wendepunkt unserer Zivilisation, ist Otto Scharmer, Forscher und Dozent am MIT in Boston, überzeugt. In dieser Zeit können wenige Menschen und kleine Handlungen große Wirkung haben. Ein Interview über Widerstände gegen Veränderung, warum wir an einer Entwicklungsschwelle stehen und ins Handeln kommen müssen.

Das Gespräch führten Mike Kauschke und Birgit Stratmann

Wir befinden uns in einer Zeit mit multiplen Krisen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Sie sprechen von einem Wendepunkt unserer Zivilisation, wo es zur völligen Zerstörung oder zu einem tiefgreifenden Wandel kommen kann. Wie kann aus Ihrer Sicht der Weg in die Transformation gelingen?

Scharmer: Vor kurzem war ich in New York bei der UNO-Vollversammlung. Hier gibt es auch kleinere Treffen von hochrangigen Entscheidungsträgern. Das Hauptthema war die Klimaproblematik und die Frage, wie wir auf die Polykrise antworten können.

Dabei war man sich in drei Punkten einig: Erstens, wir wissen, was die Probleme sind. Zweitens, wir wissen auch, was die Lösungen sind, wie z. B. fossile Brennstoffe im Boden zu belassen. Drittens ist klar, dass genau das nicht passiert: Jedes Jahr pumpen wir mehr fossile Brennstoffe aus dem Boden.

Unser Wissen spiegelt sich nicht im Handeln. Wir sind völlig in alten Verhaltensstrukturen gefangen, das heißt, auf einer systemischen Ebene haben wir es mit einer Entkoppelung zu tun: einer Entkoppelung zwischen dem, was wir denken und sagen, und dem, was wir tun. Es ist auch eine Trennung zwischen Kopf und Hand, und diese lässt sich nur durch die Aktivierung des Herzens überwinden. Das ist der blinde Fleck auf systemischer Ebene.

Die nötige Transformation habe ich auch als systemische Evolution von 1.0 bis 4.0 beschrieben. Die Ebene 1.0 ist an Input und Autorität orientiert. Bei 2.0 geht es um das Ergebnis, den Output und die Effizienz, das alte Paradigma, in dem wir uns jetzt befinden. Auf der Ebene 3.0 geschieht ein Blickwechsel hin zu den Usern, den Bürgerinnen, den Patienten im Gesundheitssystem oder den Lernenden im Bildungssystem. Dorthin bewegt sich heute die Innovation.

Die Ebene, die wir eigentlich erreichen müssen, habe ich vorläufig „Evolution 4.0“ genannt. Das bezeichnet den Wandel vom Ego-System zum Öko-System. Mit „Öko“ meine ich das Wohlergehen aller Beteiligten, nicht nur der Menschen, sondern auch der anderen Wesen der Erde.

Das bedeutet nicht nur Nachhaltigkeit im Sinne einer Bewahrung, sondern eine regenerative Ökonomie mit den entsprechenden gesellschaftlichen Strukturen. Um diese Transformation zu erreichen, müssen wir das „Betriebssystem“ unserer Kultur verändern, was auch mit einer inneren Transformation, einem Bewusstseinswandel zu tun.

Der blinde Fleck der Achtsamkeit ist der Glaube, dass sich Systeme ändern, wenn der Einzelne sich verändert.

Sie haben sich auch intensiv mit Achtsamkeit beschäftigt. Wie kann die Entwicklung von Achtsamkeit zu diesem Bewusstseinswandel beitragen?

Scharmer: Achtsamkeit hat eine bemerkenswerteste Entwicklung durchlaufen. Viele Menschen haben gelernt, wie sie durch die Kraft der Achtsamkeit den inneren Ort, aus dem heraus sie handeln, kultivieren können. Das ist die Voraussetzung für einen Bewusstseinswandel.

Der blinde Fleck der Achtsamkeit liegt aber in der Annahme, wenn nur alle an sich selbst arbeiten würden, dann wird sich unser System transformieren. So wird heute selbst bei Goldman Sachs Meditation angeboten. Das ist gut, aber es verändert nicht die extraktiven, das heißt ausbeuterischen ökonomischen Praktiken und zerstörerische Systeme.

Was meinen Sie damit?

Scharmer: Extraktion bedeutet, dass wir Werte abschöpfen und herausziehen, sowohl aus der Erde als auch aus den ökonomischen Verhältnissen. Darunter leiden die Menschen, die gegenüber diesen ökonomischen Strukturen machtlos sind – und das ist die Mehrheit der Weltbevölkerung. Deswegen wählen so viele Menschen Trump und andere Rechtspopulisten. Durch die ökonomischen Verhältnisse, aber auch kulturell fühlen sie sich ausgeschlossen, was zu einer inneren Verhärtung führt.

Wenn nun Menschen in den gleichen ökonomischen Systemen beginnen, Achtsamkeit zu praktizieren, dann können diese extraktiven Praktiken noch effizienter durchgeführt werden. Der Grundfehler ist die Annahme, dass ein System nicht mehr sei als die Summe seiner Teile.

Wir stehen an einer Entwicklungsschwelle und müssen ins Handeln kommen.

Was ist dieses „Mehr“, das Sie hier ansprechen?

Scharmer: Das ist die Transformation des Betriebssystems, das unserer Kultur zugrunde liegt. Diese Veränderung wird im herkömmlichen Ego-Denken vermieden, aber auch bei den Menschen, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen. Auf beiden Seiten wird nicht richtig hingeschaut. Dieser doppelte blinde Fleck hat zu der Situation geführt, in der wir uns befinden.

Laut einer kürzlichen Studie der G20-Länder, die vor allem für die Umweltprobleme verantwortlich sind und 60 Prozent der Weltbevölkerung und 80 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts umfassen, befürworten drei Viertel der hier lebenden Menschen die Transformation der Ökonomie, um besser auf die ökologischen und sozialen Herausforderungen zu antworten. Aber es passiert nicht. Das ist der Moment, in dem wir leben.

Wenn ich privat mit Ministern und Entscheidungsträgerinnen rede, dann sehe ich, dass ein Bewusstsein dafür da ist, dass wir uns in vielen Bereichen in die falsche Richtung bewegen und eigentlich schon in einem Prozess des Kollabierens sind.

Bei einem der UNO-Meetings trafen sich Minister, CEOs der größten Stiftungen und andere Entscheidungsträger. Ein Minister aus Südostasien fragte in die Runde: Gibt es irgendjemanden hier, der nicht glaubt, dass das gegenwärtige System zerbrochen ist, also in der Grundsubstanz dysfunktional?

Es herrschte Stille im Raum, alle schauten einander an, keine einzige Hand ging hoch. Das ist der jetzige Stand. Also sowohl drei Viertel der Bevölkerung als auch die Entscheidungsträger wissen, dass es so nicht weiter geht.

Wir stehen sowohl individuell als auch kollektiv an einer Entwicklungsschwelle: Wir wissen eigentlich, was nicht funktioniert und was anders sein müsste, aber wir bekommen es noch nicht ins Handeln. Denn das würde bedeuten, dass wir durch einen tieferen Prozess des Loslassens und Kommenlassens gehen müssten.

Wir brauchen Prozesse, um Führung durch Loslassen und Kommenlassen zu ermöglichen.

Wie könnte so ein gesunder Prozess aussehen?

Scharmer: Das Buch „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 war eine der Initialzündungen für die Umweltbewegung, als deren Teil ich mich fühle. Das war einer der Gründe, später ins MIT nach Boston zu gehen. Donella Meadows, eine der Autorinnen, fragte 1999: Was sind die wichtigsten Hebel-Punkte, um ein System zu verändern? Als Antwort kommen natürlich Dinge wie Gesetzgebung und Finanzwesen. Aber das Wichtigste ist die Veränderung des Paradigmas.

Das meine ich, wenn ich von einem Paradigmenwechsel von Ego zu Öko spreche. Das Paradigma der Ökonomie bestimmt, was Priorität hat, wofür wir Ressourcen einsetzen und wie wir Entscheidungsprozesse strukturieren. Wer hat zu entscheiden? Geht es nur um den Shareholder Value? Welche Stimme haben die anderen Stakeholder, die zukünftigen Generationen, die Natur?

In diesem Paper schreibt sie auch, dass es eine Sache gibt, die noch wichtiger ist, um ein System zu transformieren: Es ist die Fähigkeit, die Paradigmen zu transzendieren.

Nur mit neuen Strukturen werden wir auf das antworten können, was uns aus der Zukunft entgegen kommt

Wir entwickeln das Bewusstsein dafür, dass ein Paradigma eben auch nur eine Sichtweise ist, mit der wir eine Situation betrachten können. Es geht also um das Loslassen aller Sichtweisen, damit wir neue Möglichkeiten kommenlassen können. Das hat wiederum einen Bezug zur Achtsamkeit.

Auf der Führungsebene bedeutet es, in einen Prozess zu gehen, um eine Führung durch Loslassen und Kommenlassen zu ermöglichen. Es ist ein Prozess der Öffnung, und das ist natürlich schwierig, wenn ich viel zu verlieren habe. Das fängt schon damit an, dass ich zum Beispiel in der Universität gelernt habe, Vermögen anzuhäufen, anstatt wegzugeben. Das sind schwierige Prozesse, die wir lernen müssen.

Aber im Zeitalter der Disruption, in dem wir uns jetzt befinden, müssen wir Strukturen, Organisationsformen und Entscheidungsprozesse verflüssigen – und zwar auf eine Weise, dass sie sich mit einer Situation verändern können und viel mehr auf das antworten können, was uns aus der Zukunft entgegenkommt. Die Fähigkeit des Loslassens und Kommenlassens ist eigentlich die Voraussetzung, um zukunftsfähig zu sein.

Wenn wir nicht manchmal verzweifelt sind angesichts der Krisen, sind wir nicht im Kontakt mit der Wirklichkeit.

Inmitten dieser krisenhaften Situation verbreiten Sie Zuversicht. Spiegelt das auch Ihre innere Gemütslage wider oder plagen Sie auch manchmal Zweifel, Ängste oder Hilflosigkeit?

Scharmer: Wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir nicht nur die Klimakrise, sondern neben vielen anderen Krisen auch den Krieg in der Ukraine.

Angesichts dieser Weltsituation trifft der Satz zu: “If you are not confused, you’re out of touch”. (Wenn Sie nicht verwirrt sind, sind Sie nicht im Kontakt mit dem, was ist.)

Wenn wir durch die neue Komplexität, in der wir leben, nicht an die Grenzen unseres Wissens kommen, dann haben wir nicht mitbekommen, was eigentlich los ist. Und genauso denke ich: Wenn wir nicht manchmal Zweifel und Depression spüren, die überall in der Luft liegen, dann sind wir nicht in Berührung mit dem, was geschieht. Dann hast du eigentlich den Schuss nicht gehört.

Wenn wir diese Dynamik als Bewusstseinsprozess verstehen, dann ist es die erste Stufe im Prozess des Aufwachens. Erst gab es Ignoranz und Verleugnung, dann schauen wir hin. Das ist ein Fortschritt, und deshalb ist auch die Depression ein gutes Zeichen.

Es ist ein tieferer Zugang zur Wirklichkeit, wenn wir beginnen, uns mit der gegenwärtigen Situation stärker auseinander zu setzen. Wir lassen diese äußere Situation an uns heran.

Aber das ist natürlich nicht genug, denn Depression bedeutet, dass ich nicht an meine wirklichen, tieferen Quellen herankomme. Das ist die nächste Stufe dieses Prozesses.

Je tiefer wir uns auf die jetzige Situation einlassen, umso mehr finden wir Zugang zu den transformativen Ressourcen.

Ist es also wichtig, einen optimistischen Blick zu finden, der über die Depression hinausgeht?

Scharmer: Also, ich fühle mich nicht als Optimist. Optimismus und Pessimismus sind ganz unangemessene Beziehungen zur jetzigen Situation. Eigentlich geht es darum, mit der Wirklichkeit in Berührung zu sein. Dazu müssen wir uns mit dem, was ist, auseinandersetzen, ohne uns abzuwenden, indem wir uns zuwenden und öffnen.

Wir erkennen, dass in diesem Prozess des Aufwachens ungeheure Ressourcen wach werden. Wir erkennen mehr von dem, wer wir eigentlich sind und was wir eigentlich wollen und was wir in die Welt bringen können. Und diesen Prozess erleben wir in Beziehung. Das gibt mir Mut und Kraft.

Aber ich bin kein Optimist, der eine Harmoniesoße über die unappetitliche Realität gießt. Ich denke, je tiefer wir uns auf die jetzige Situation einlassen, umso mehr Zugang haben wir auch zu den transformativen Ressourcen. Das geschieht durchaus in einem Spannungsfeld, in dem ich mir bewusst bin, wie fragil die jetzige Situation ist.

Gleichzeitig weiß ich, dass wir uns in diesem systemischen Übergangsprozess von einem Gleichgewicht in etwas Neues hineinbewegen, das wir noch nicht kennen. An solchen Punkten einer neuen Verortung können wenige Menschen und kleine Handlungen eine riesige Wirkung haben. Das ist die Verantwortung, die wir alle heute haben. Eine Verantwortung nicht nur gegenüber uns oder unseren Kindern, sondern gegenüber allen zukünftigen Generationen.

Und es ist auch ein Privileg. Wir sind die, die etwas verändern können. Das ist eine inspirierende Möglichkeit, deren Tragweite wir uns bewusstwerden können. Die schöpferischen sozialen Felder entwickeln sich schon an ganz vielen Orten. Die Zukunft ist nicht etwas, das in 100 oder 200 Jahren passiert. Die die Zukunft ist heute schon präsent, in keimhafter Form und oftmals so, dass man sie auf den ersten Blick noch gar nicht erkennt.

Lesen Sie auch den 2. Teil des Interviews mit Otto Scharmer: “Wir müssen kollektive Entscheidungsprozesse transformieren”

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Foto: privat

Otto Scharmer ist Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology, MIT, und Gründer des Presencing Instituts und der u-school for Transformation. Mitbegründer des MITx u-lab, das ein Netzwerk des transformatorischen Wandels mit mehr als 200.000 Nutzern aus 185 Ländern aktiviert hat.

Gemeinsam mit seinem Team hat Scharmer ein globales Action Learning Lab für Hunderte von Entscheidungsträgern in UN-Organisationen sowie Leadership Labs für die Nachhaltigkeitsziele der UNO in 25 Ländern ins Leben gerufen. Sein jüngstes Buch, “Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen”, Carl Auer-Verlag 2022, fasst die Kernprinzipien und Anwendungen des bewusstseinsbasierten Systemwandels zusammen.

Mitglied des “UN Learning Advisory Council for the 2030 Agenda”, des World Future Council und der High-Level 21st Century Transformational Economics Commission des Club of Rome. Ausgezeichnet mit dem Jamieson Prize for Teaching Excellence des MIT und dem European Leonardo Corporate Learning Award. Im Jahr 2021 erhielt er den Elevating Humanity Award des Organizational Development Network. 

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Spannend! Neben die vielen blind spots, die wir alle haben und von denen ich begrifflich so das erste Mal von Dir lieber Otto gelernt habe vor vielen Jahren, tritt nun der blind spot der Achtsamkeit, wenn sie ihre Energie nicht auf eine Systemtransformation richtet…

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