Interview mit Fernsehmoderator Gert Scobel
Weisheit ist in den traditionellen Kulturen von Ost und West eine angesehene Tugend, doch in unserem Alltag kommt sie kaum vor. Fernsehmoderator und Buchautor Gert Scobel möchte das Thema wieder ins Bewusstsein rücken. Wolf Schneider sprach mit ihm über diese unterschätzte Fähigkeit.
Frage: Was ist Weisheit?
Scobel (lacht): Das ist eine gute Frage. Meiner Ansicht nach ist Weisheit die Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen, und zwar auch in Situationen, die kritisch oder existentiell bedrohlich sind.
Sehr zeitgemäße Antwort. Das ist einer der Punkte, der mir an Ihrem Buch so gut gefallen haben. Rückt damit Weisheit in die Nähe der Einfachheit?
Scobel: Einerseits ja. Andererseits habe ich versucht, Weisheit wieder anschlussfähig zu machen an wissenschaftliche Diskussionen. Das beherrschende Thema der Wissenschaften ist seit langem das Verstehen und die Steuerung von Komplexität. Weisheit wird jedoch immer noch als etwas Esoterisches betrachtet, wird von der Mehrheit nicht ernst genommen und kommt daher in unserem Alltag so gut wie gar nicht mehr vor.
In der Antike allerdings war Weisheit hoch angesehen.
Scobel: Richtig. Deshalb habe ich überlegt, wie ich es mit meinem Buch schaffen kann, vernünftigen Menschen, die es gewohnt sind, rational an die Dinge heranzugehen, zu zeigen, dass Weisheit etwas mit ihrem Leben zu tun hat und auch anschlussfähig ist an verschiedene Wissenschaften.
Wo finden Sie in Ihrem Leben Ansätze von Weisheit, wo vermissen Sie Weisheit in Ihrem Beruf oder Privatleben?
Scobel: Was die Öffentlichkeit angeht, vermisse ich Weisheit weitgehend vollständig. Bei politischen Entscheidungen, aber auch wenn es darum geht, gesellschaftliche Probleme zu lösen, mit ihren Auswirkungen auf die Psyche der Menschen und wenn es um kulturelle Verfahren geht, ist Weisheit keine Kategorie, die zählt.
Ich selbst hatte das Glück relativ früh, ich glaube es war am Tag nach meinem Abitur, Hugo Makibi Enomiya-Lassalle kennenzulernen. Das Gespräch mit ihm hat mir gezeigt, dass die buddhistische Philosophie nicht wie westliche Philosophie etwas ist, was sich jemand ausgedacht hat – eine Sammlung von Ideen.
Vielmehr ist sie etwas, das man spüren kann, das sich körperlich auswirkt und das auch im Alltagsleben Anwendung findet – das habe ich bei Lassalle gesehen. Da wusste ich: Das gibt es! Das ist keine Illusion. Also mach dich auf den Weg. Im Lauf der Zeit hab ich dann etliche andere weise Menschen getroffen.
Zur Weisheit gehören viele verschiedene Skills
Der Buddhismus zielt ja, zumindest in der Urversion, auf Erleuchtung ab. Wie setzt sich Weisheit gegenüber Erleuchtung ab? Sie wollen weise werden. Wollen Sie auch erleuchtet werden?
Scobel: Die Frage ist: Was heißt Erleuchtung? Wenn man unter Erleuchtung Erwachen versteht, sieht die Sache anders aus. Jeder kennt das, wenn er morgens aufwacht und noch so einen Rest Traum im Kopf hat und nicht so genau weiß »Wo war ich da eigentlich?«.
Mit dem Aufwachen stellt sich allmählich ein klareres Bild der Welt ein. Das ist der Vorgang des Erwachens. Ich denke, in diesem Sinn hat Weisheit mit Erwachen zu tun. Es muss aber nicht jeder Weise im buddhistischen Sinn erleuchtet sein. Ich weiß beispielsweise nicht, ob ein Nikolaus von Kues erleuchtet war. Tatsächlich ist das auch im Nachhinein schwer festzustellen.
Zum praktischen Alltag: Weisheit soll sich im Alltag bemerkbar machen. Sie sind Familienvater, da wird doch auch einige Weisheit verlangt im Umgang mit den Kindern, oder?
Scobel: Nein. Da wird zunächst mal Zuneigung, Liebe, Konsequenz und einfach eine aufgeschlossene Haltung Kindern und ihrer Persönlichkeit gegenüber verlangt. Weisheit gehört nicht zu den Grundkonzepten von Pädagogik. Aber natürlich schadet Weisheit auch nicht im Umgang mit Kindern.
Man kann Kinder gut erziehen, ohne weise zu sein. Und umgekehrt kann man von Kindern viel lernen, auch über Weisheit und das Erwachen. Ich glaube, ich habe meine Kinder einigermaßen gut erzogen. Zumindest sind sie selber nicht unzufrieden. Meine Tochter sagte kurz nach ihrem Abitur: »Das habe ich und das habt ihr gut gemacht!«
Ich suche auch immer danach, wo es sichtbar ist im Alltag und halte mich nicht so daran fest, ob sich jemand so nennen würde. Einen spirituellen Weg gehen ist eher was Subtileres und hat fließende Übergänge. Manchmal wünsche ich mir weisere Autofahrer, weisere Politiker sowieso.
Paul Baltes, Leiter des Max-Plank-Instituts für Bildungsforschung, wollte wissen: Welche Fähigkeiten gehören zur Weisheit? Beispielsweise ist das die Fähigkeit, mit Ambiguität und Widersprüchen umzugehen. Weisheit hat auch mit der Fähigkeit zu tun, sich nachhaltig zu verhalten und zu denken.
Oder damit, auf andere Leute eingehen zu können, sich also in andere Menschen hineinzuversetzen und Problemlösungen zu finden. Da gibt es eine ganze Palette von »Skills«, die mit Weisheit verbunden sind. Keine von diesen Fähigkeiten allein macht Weisheit aus, aber sie haben alle damit zu tun.
Alte Menschen sind nicht unbedingt weise
Frage: Auf jeden Fall ist Weisheit ein hoher Wert für Sie, und wir sind uns wohl einig, dass sie in unserer Gesellschaft zu kurz kommt.
Scobel: Richtig. Die empirische Forschung hat herausgefunden, dass die Skills oder die Fähigkeiten, die zur Weisheit gehören, ungefähr mit dem 25. Lebensjahr abgeschlossen sind. Ich vermute, dass das damit zu tun hat, dass das soziale Lernen ungefähr erst mit dieser Zeit richtig abgeschlossen ist. Bis dahin geht unsere Gehirnentwicklung weiter. Mit ihr entwickelt sich das soziale Lernen.
Soziales Lernen heißt beispielsweise, in eine Gruppe von Menschen zu kommen und sofort zu erkennen: »Der ist traurig; das ist das Alpha-Tier; der ist eher aggressiv; der ist gutmütig…«. Dieses sogenannte soziale Sehen ist eine hoch komplexe, kognitiv, sehr aufgeladene Angelegenheit. Baltes hat herausgefunden, dass das mit 25 abgeschlossen ist. Aber dann geht es weiter, und die nächste Frage ist natürlich: Wie kultiviere ich das weiter? Da fehlen in unserer Kultur die Hinweise und Anleitungen, wie wir das machen sollen. In den alten Kulturen gab es das schon eher.
Da stimme ich Ihnen zu, auch wenn nicht alles, was alt ist, auch deswegen richtig sein muss.
Scobel: Stimmt. Aber in vielen vergangenen Kulturen gab es Wertschätzung für Weisheit, und das gilt es jetzt wieder zu entdecken und zu kultivieren. Zum Beispiel bestand der Wert der alten Menschen, die nicht mehr zeugungsfähig waren, vor allem darin, dass sie mit ihrem Wissen und ihrer Weisheit etwas beitragen konnten.
Das ist die einzige Eigenschaft des Alters, die positiv besetzt ist, auch in unserer Kultur noch. Was Baltes herausgefunden hat, und das entspricht leider auch meiner Wahrnehmung: Mit zunehmendem Alter wird man nicht automatisch weiser, und nicht alle alten Leute sind auch weise. Ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben muss man Weisheit aktiv kultivieren. Die entscheidende Frage ist daher: Wie ermöglichen wir das in unserer Gesellschaft? Was tun wir in den Schulen? Wo lernt man Weisheit, wie lernt man das, und warum spielt das bei uns keine Rolle?
„Wir sollten endlich anfangen, Weisheit zu kultivieren“
Was können wir tun, um Weisheit ins Leben zu bringen?
Die Schule ist ein ganz wesentlicher Ort, an dem Weisheit entwickelt werden kann. Das heißt, man sollte an Schulen nicht nur Sprachen und Mathematik lernen, sondern auch verstehen, was etwa in einem passiert, wenn man Angst hat. Was geschieht, wenn ich gestresst bin? Oder wenn ich verliebt bin, einen Rausch erlebe? Wie mache ich das eigentlich, mich in all diesen Situationen selber kennenzulernen?
In englischen Schulen wird inzwischen stark mit dem Ansatz der positiven Psychologie gearbeitet. Wie schaffe ich zum Beispiel ein positives Ambiente, in dem ich positive Erfahrungen verstärken und negative besser verarbeiten lasse? Das ist ein psychologischer, aber sehr hilfreicher Ansatz, der sich lernen lässt.
Weitere Möglichkeiten sind Atemübungen, Aufmerksamkeitsübungen, Konzentrations- und Meditationsübungen. Wir leben in einem Staat, der Religion und Gesellschaft zu Recht unterscheidet. Weisheit aber ist unabhängig davon und keine Weltanschauung. Deshalb sollten wir endlich anfangen, sie zu kultivieren. Das hilft allen.
Die entscheidende Frage ist doch: Wenn Sie erkannt haben, was Sie tun sollen, warum tun sie es dann nicht? Beziehungsweise: Wie tun sie es in Zukunft? Sie müssen es ja einüben, es muss wirklich eine körperliche Übung sein. Wir brauchen ein Schulfach „Lebensführung“
So etwas wie die Zazen-Meditation?
Scobel: Ja, das kann Zazen sein, aber das können auch andere Übungen sein. Goleman, der über seine Bücher zur emotionalen Intelligenz bekannt geworden ist, hat ein Buch geschrieben für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Meditations- und Aufmerksamkeitsübungen, gestaltet nach Lebensaltern.
Was ich mir vorstelle ist ein Fach, das wirklich in den Unterricht integriert ist, aber im Alltag wirkt. Ich habe so etwas in der Anwendung bei uns nur ganz selten erlebt. Eine Freundin von mir hat eine Tochter, die war bei einer Klassenarbeit sehr gestresst. Sie saß da vor dem Papier und kam nicht klar damit. Da sagte die Lehrerin: »Pass auf, Emma, du gehst jetzt runter auf den Schulhof, läufst drei Runden, kommst wieder, und dann setzt du dich hin und schreibst weiter!« Sie ging dann auf den Schulhof, ließ ihren Dampf ab, setzte sich dann wieder hin und schrieb die Arbeit.
Das sind Verhaltensweisen, die muss man aktiv lernen und dabei unterstützt werden. Das müssen die Lehrer und die Schüler lernen. Lernen, was passiert, wenn man gestresst ist. Da geht mein Puls nach oben, Adrenalin wird ausgestoßen, meine Atemfrequenz wird höher. Statt sofort wie blind los zu schreiben, sollte ich lieber einfach eine Minute oder zwei atmen, den Puls und mich selber »herunterregulieren«. Dann erst mache ich weiter.
Das ist irgendwo zwischen Sport und Ethik angesetzt. Wie nennen wir das Fach?
Scobel: Ich würde es Lebensführung nennen. Wahrscheinlich gibt es noch einen schickeren Ausdruck, den man dafür finden kann.
Lebenskunst?
Scobel: Von mir aus gerne. Oder Lebensschulung. Jedenfalls handelt es sich um ganz fundamentale Dinge, die man auch im weiteren Leben braucht. Der Neurophilosoph Thomas Metzinger macht gerne darauf aufmerksam, dass wir in unserer Gesellschaft zwar ständig Rausch produzieren, unseren Kindern aber überhaupt nicht beibringen, wie man mit Rausch umgeht. Wie geht man mit den ersten sexuellen Gefühlen um? Wie setzt man Rauscherfahrungen, die Jugendliche nun mal machen, gewinnbringend ein? In fast allen Kulturen gibt es das. Aber nur in wenigen wird es erlernt.
Sie sind ja Fernsehmoderator: Wie kann man im Fernsehen Weisheit vermitteln?
Scobel: Indem man weise ist (lacht). Aber im Ernst: Man kann nur versuchen, keine Dummheit zu vermitteln. Weisheit vermitteln kann man nicht so wie man Schönheitstipps gibt. Nach diesem Prinzip funktioniert nur Germany’s next Top Model und Bibel-TV.
Immerhin tun Sie es, indem Sie es zum Gesprächsthema machen. So wie das etwa auch Sloterdijks Buch »Du musst dein Leben ändern« tut. Es kann durch Lesen Einsichten vermitteln und Impulse geben, das Leben zu ändern.
Scobel: Ich greife Themen, die mit Weisheit zu tun haben, immer wieder auf. Beispielsweise gab es eine Sendung über das Ich, eine über Weisheit und eine über Komplexität.
Weitere Infos:
Lesetipp: Gert Scobel, Weisheit: Über das, was uns fehlt, Dumont 2008
Vortrag von Gert Scobel am 5. Mai 2015 auf Einladung des Netzwerks Ethik heute in Kooperation mit der Universität Hamburg: Video- und Audiodatei
Weisheitstraining: Ein Kurs des Netzwerks Ethik heute in vier Modulen, neuer Start im Januar 2016
Gert Scobel studierte Philosophie und Theologie bei den Jesuiten in Frankfurt, außerdem Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie in Deutschland und Kalifornien. Von 1995 bis 2007 war er Anchorman der täglichen 3sat-Sendung »Kulturzeit«. Von 2004 bis 2008 moderierte er außerdem »delta« und seit April 2008 »Scobel« (Do 21 h, auf 3sat). 2005 wurde er für seine Leistungen bei »Kulturzeit« und »delta« mit dem begehrten Adolf-Grimme Preis ausgezeichnet, und das Medium Magazin ernannte ich zum »Kulturjournalisten des Jahres«.
Wolf Schneider ist Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971-75) in Müchen. 1975-77 in Asien. 1985 Grüdung der Zeitschrift connection. Seit 2007 Theaterspiel & Kabarett.