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„Wir brauchen die Vision eines anderen Amerikas“

Alex Gakos/ shutterstock.com
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Gespräch mit Charles Eisenstein

Die USA befinden sich in einer Krise, nicht erst seit Trump. Ein Zurück auf „normal“ wird nicht gebraucht, so der Kulturphilosoph Charles Eisenstein. Er spricht im Interview über schädliche Strukturen, die Ähnlichkeit der großen Parteien und die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen.

Das Gespräch führte Geseko von Lüpke vor dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol am 6. Januar 2021, um einen Blick auf die Zeit nach Trump zu werfen.

Frage: Wie würden Sie die Situation in den USA nach diesen vier Jahren der Trump-Administration beschreiben?

Eisenstein: Sie ist extrem polarisiert. Und jeder weiß, dass sie stärker polarisiert ist als je zuvor. Im politischen Bereich ist die Kommunikation zwischen den beiden Seiten im Wesentlichen zusammengebrochen. Sie befinden sich in völlig unterschiedlichen Realitäten. Ich sehe nicht, wie sich das in nächster Zeit ändern soll.

Haben wir so etwas wie nicht länger die ‘Geteilten Staaten von Amerika’ – zumindest wenn man das Verhältnis der beiden großen Parteien betrachtet? Und: Gibt es auch ein anderes Amerika, das nicht geteilt ist? Gibt es einen Teil der Bürgerschaft, der eine gemeinsame Vision von einer anderen Zukunft hat?

Eisenstein: Ich glaube nicht, dass es eine gemeinsame Vision gibt, aber es gibt den Wunsch nach Einheit, nach Heilung, den Wunsch, wieder zusammenzukommen und eine Nation zu sein. Im Gespräch mit den Menschen stelle ich fest, dass die sehr konservativen Wähler nicht wirklich hasserfüllt waren, aber sie fühlten sich irgendwie sehr hoffnungslos.

Leider verschwindet in der Zeit des Coronavirus die Möglichkeit, persönlich zu interagieren. Die einzige Interaktion, die den Menschen zur Verfügung steht, ist die digitale Kommunikation. Das verschärft meiner Meinung nach die Tendenz zur Spaltung.

Ich glaube nicht, dass sich das grundlegende Weltbild der Amerikaner ohne eine noch tiefer gehende Krise wirklich ändern wird.

Halten Sie in dieser Situation der Spaltung einen politischen Wandel mit der neuen Administration um Joe Biden für möglich?

Eisenstein: Fast jedes Mal, wenn ein neuer Präsident gewählt wird, sagt er ein paar Worte darüber, wie wir wieder zusammenkommen, unsere Differenzen heilen und der anderen Seite die Hand reichen können.

Aber die zugrunde liegenden Spaltungen setzen sich immer wieder durch. Die ‘normale Uneinigkeit’, an die wir uns gewöhnt haben, beherrscht sehr schnell den politischen Alltag, und wir befinden uns dann wieder in der gleichen alten Situation. Ich glaube nicht, dass sich das grundlegende Weltbild der Amerikaner ohne eine noch tiefer gehende, große Krise wirklich ändern wird.

Sie erwähnten die so unterschiedlichen Sichtweisen oder Narrative der beiden großen Parteien. Liegt das wirkliche Problem der USA in den unterschiedlichen politischen Ansätzen der beiden großen Parteien? Oder geht es beim Kern und der Wurzel der Krise, von der Sie sprechen, um etwas ganz anderes?

Eisenstein: Die Demokraten und Republikaner sind in vielen Fragen vordergründig scheinbar vehement unterschiedlicher Meinung. Aber auf einer tieferen Ebene sind sie sich völlig einig, insbesondere über die Rolle Amerikas in der Welt: Die Idee, dass wir die globalen Guten sind, die Helden. Dass die amerikanischen Werte und der “American Way” ein richtiges Modell für den Rest der Welt sind, das notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Die Aufrechterhaltung von 800 Militärbasen, das Festhalten an der neoliberalen, marktwirtschaftlichen Wirtschaft, die der ganzen Welt aufgezwungen wird, das internationale Schuldenregime. Darüber sind sich beide Parteien wie im Gleichschritt einig.

Auch über die Grundstruktur unserer Wirtschaft oder unser Gesundheitssystem gibt es kaum unterschiedliche Sichtweisen. Keine der beiden Parteien befürwortet eine allgemeine Gesundheitsversorgung für Alleinstehende oder gar einen grundlegenden Umbau des Strafvollzugssystems oder der Gefängnisse oder irgendeine andere tiefgreifende Veränderung.

Dabei sage ich nicht, dass es egal ist, welche Partei im Amt ist, oder dass es keine Unterschiede gibt. Aber die Grundbedingungen, die die eigentlichen Probleme in den USA verursachen, werden bestehen bleiben, egal welche Partei an der Macht ist, wenn sich nicht radikal etwas ändert.

Dem Rassismus muss man auf struktureller Ebene begegnen. Es reicht nicht, Spuren des Rassismus in einem selbst auszulöschen.

In dieser für die zivilgesellschaftliche Opposition schwierige Zeit der Trump-Jahre habe ich von vielen Freunden in den USA gehört, dass die Zahl neuer Initiativen enorm gestiegen ist. Wie würden Sie dieses Wachstum der Gegenkulturbewegung in den letzten vier Jahren beschreiben? Ist denn ein Bewusstsein gewachsen, dass sich in den USA etwas grundsätzlich ändern muss?

Eisenstein: Vielleicht liegt der Grund für das explosive Wachstum der Basis- und Gemeinschaftsbewegungen darin, dass mit der Wahl von Trump viele Menschen die Hoffnung aufgegeben haben, dass die Regierung das Richtige für uns tun wird. Jetzt, da Biden gewählt ist, werden vielleicht einige Leute wieder Hoffnung haben, dass die Regierung der Verbündete des sozialen Friedens werde, zur Heilung des Rassismus beiträgt, die wirtschaftliche Ungleichheit angeht und so weiter.

Ich fürchte jedoch, dass diese Hoffnungen enttäuscht werden, denn die wirklichen strukturellen Grundlagen, sagen wir, des Rassismus in diesem Land, sind das wirtschaftliche und sogar physiologische und kulturelle Erbe von Generationen und Jahrhunderten von Traumatisierung. Das verschwindet nicht einfach, weil Sie in Ihrem Büro, in Ihrem Unternehmen oder in Ihrer Regierungsstelle ein Diversity-Training absolvieren. Das ändert nicht das wirtschaftliche Erbe und das soziale Erbe des Traumas.

Das könnte sogar weitergehen, selbst wenn es keine wirklichen Rassisten mehr gäbe, d.h. Menschen, die eine bewusste Ideologie von “Schwarze Menschen sind minderwertig” haben. Solange die herkömmlichen Strukturen sich nicht ändern, bleibt die Situation fast unverändert. Man muss eigentlich keine Rassisten haben, damit der Rassismus auf der strukturellen Ebene weitergeht.

Dem Rassismus muss auf einer strukturellen Ebene begegnet werden, während es bei unserem gegenwärtigen Zeitgeist mehr um die individuelle Ebene geht und darum, die Spuren des Rassismus in einem selbst auszulöschen. Aber das ändert nicht notwendigerweise etwas an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und um sie nach außen hin zu verändern, ist ein Systemwechsel erforderlich. Das ist für diejenigen, die in das System eingebettet sind, sehr viel schwieriger durchzuführen und ist sicher alles andere als bequem.

Noch versuchen wir auf die Krisen mit Reperaturmaßnahmen zu reagieren.

Sie sprachen von einer notwendigen Krise, um den tieferen Grund der Konflikte wirklich zu berühren. Was ist ihr Bild einer solchen Krise? Braucht es so etwas wie einen Zusammenbruch des Systems, bevor die tieferen Probleme wirklich gesehen und behandelt werden?

Eisenstein: Mit dieser Krise ist das wie in einer gescheiterten Beziehung, einem unbefriedigenden Job oder einer anderen schwierigen Situation im Leben. Am Anfang versucht man, die Probleme zu beheben und nicht die zugrunde liegende Ursache anzugehen. Irgendwann jedoch wird die Krise so tief, dass sie Sie zwingt, die zugrunde liegenden Probleme zu betrachten.

Noch versuchen wir auf die Krisen mit Reperaturmaßnahmen zu reagieren. Deshalb glaube ich, dass wir im Moment noch nicht ganz so weit sind. Wir denken, dass die Probleme unserer Zivilisation, unsere ökologischen Probleme zum Beispiel durch eine technische Lösung gelöst werden könnten.

Zum Beispiel wird versucht, die nationale Sicherheit dadurch zu erreichen, dass man die ganze Welt einfach ein bisschen besser kontrolliert. Vielleicht – so denkt der Mainstream – könnten wir die Kriminalität stoppen, indem wir überall Kameras und einen Algorithmus aus der Künnstlichen Intelligenz haben, mit dem wir vorhersagen können, wann jemand ein Verbrechen begehen wird.

Letztendlich versagen aber auch diese Maßnahmen, denn die Arten von Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen, passen nicht zu den Technologien und Reaktionen, die uns zur Verfügung stehen oder die wir legitimerweise in Betracht ziehen.

Wir machen all diese staatstragenden Handlungenstatt uns zu fragen: Könnte es nicht auch sein, dass unsere Reaktionen auf den Terrorismus den Terrorismus verschlimmern? Könnte es sein, dass unsere Reaktionen auf die Einwanderung und das gesamte globale Grenzsystem die Einwanderung verschlimmern?

Wir beginnen, auf einer immer tieferen Systemebene zu suchen. Und wenn das passiert, dann wissen wir plötzlich nicht mehr, was wir tun sollen. Wir sind mit unserem Latein am Ende. Das ist also die Art der Krise, von der ich spreche. Wir befinden uns in einem Zustand der Verwirrung. Aber gleichzeitig ist dieser Zustand die Voraussetzungen dafür, dass eine neue Geschichte, ein neues Narrativ entsteht und in Gang kommt.

Die Geschichte jetzt schon leben, in die wir uns verändern wollen.

Ist dieses neue Narrativ oder Weltbild, das da mühsam geboren wird, mit irgendeiner Art von politischer Kraft verbunden? Sie waren vor Jahren eine der führenden Persönlichkeiten der systemkritischen Occupy-Bewegung. Gibt es so etwas wie einen politischen Willen für ein neues Paradigma im demokratischen System?

Eisenstein: Ich glaube nicht, dass irgendjemand wirklich weiß, was er im Moment tun soll. Das ist sogar an den Rändern der Gesellschaft so, wo es kreative Leute gibt, die radikale soziale Experimente versuchen, die keine Hierarchien erschaffen, die partizipatorisch sind, die dezentralisiert sind und so weiter.

Andererseits sind viele Experimente im Gange, und ich denke, dass – zu welchen Regierungsformen wir in Zukunft auch immer kommen werden – es das Ergebnis vieler Experimente und vieler Fehlschläge sein wird. Aber wir wissen es noch nicht.

Nochmal: Gibt es eine politische Kraft, die sich für diese Art von grundlegender Veränderung einsetzen könnte? Gibt es für so eine Wende ein politisches Bewusstsein?

Eisenstein: Es gibt eher so etwas wie eine politische Frage, die sich aus dem tiefen Wunsch nach einer grundlegend anderen Welt ergibt.

Es gibt bereits sehr viele Think Tanks des bestehenden Systems, aber ihre Vorstellungskraft reicht bei weitem nicht, um sich Ziele auszudenken, die wir als Gesellschaft wirklich ansteuern wollen. Gerade jetzt, nach der Wahl von Joe Biden, atmen viele Menschen erstmal auf und denken, jetzt können die Dinge wieder zur ‘Normalität’ zurückkehren.

Aber die Normalität ist nicht das, wo wir hinwollen. Das alte ‘Normal’ war nicht sehr gut. Es war vielleicht nur ein etwas langsameres Abgleiten in die ökologische Katastrophe und die Ungleichheit des Wohlstands und so weiter. Ich meine, all diese Dinge geschahen unter Obama, genau wie unter Bush, genau wie unter Clinton. Es ist also nicht so, dass wir auf dem ‘richtigen Weg’ waren , bis Donald Trump gewählt wurde.

Niemand glaubt, dass die Welt immer besser wird.

Gibt es nach Occupy noch so etwas wie eine Gegenbewegung in den USA? Oder andere Gruppen, den einen großen Wandel vorantreiben?

Eisenstein: Es gibt eine Menge ungenutzter Wut, Verärgerung und Zorn in der Bevölkerung der USA, der meist auf sehr unorganisierte Weise zum Vorschein kommt. Aber diese Gefühle haben sich nicht zu einer wirklich kohärente politischen Philosophie entwickelt oder eine Vision für die Zukunft formuliert.

Niemand glaubt, dass die Welt immer besser und besser wird. Kaum jemand zeigt noch Bereitschaft, in das System zu investieren. Diese Unzufriedenheit ist also wie ein Lavasee, der unter der Oberfläche brodelt. Und jedes Mal, wenn sich eine Gelegenheit bietet, die tief genug ist, haben wir eine Eruption.

Aber bisher war diese Energie chaotisch und gegen sich selbst gerichtet. Die Wut, der Groll und die berechtigte und authentische Wut einer Gruppe von Menschen in der Gesellschaft richtet sich dann gegen eine andere Gruppe von Menschen. Sie kämpfen gegeneinander, aber lassen das größere System unangetastet.

Solange wir also nicht in der Lage sind, die Vision eines anderen Amerikas zu formulieren, welche die aktuellen politischen Kategorien und Parteien umgeht, und von Menschen jenseits von ‘rechts’ oder ‘links’ angenommen werden kann, wird sich wirklich nichts ändern.

Wir befinden uns ja dann offenbar in einerr Situation, in der wir kollektiv noch nicht wirklich verstanden haben, dass wir einem zerstörerischen Narrativ oder ‘falschen’ Weltbild folgen. Was muss geschehen, um dieses Weltbild zu ändern?

Eisenstein: Auch ich habe keinen Plan, wie das Narrativ unserer Kultur oder die Geschichte unserer Zivilisation praktisch verändert werden kann. Mir geht es eher um den persönlichenWunsch, an einer möglichen Veränderung teilzuhaben. Die Art dieser Teilhabe ist für jeden Menschen anders.

Es geht um jeden Einzelen: Denn der Übergang, den wir durchmachen, ist nicht nur ein Übergang in unseren Konzepten oder unserer Wahrnehmung oder unserer Art, die Welt zu verstehen. Er ist auch ein Übergang in unseren persönlichen Entscheidungen und in unserem Seinszustand.

Das klingt erstmal sehr allgemein. Können Sie das an Beispielen klarer beschreiben?

Eisenstein: Nun, eine Möglichkeit, zur Veränderung unserer Geschichten beizutragen, besteht darin, die Geschichte schon zu leben, in die wir uns verändern wollen. Zum Beispiel mit Menschen, die empatisch sind, einfach freundlich, großzügig und mitfühlend. Da geht es einfach darum, Liebe in die Welt zu bringen.

Man mag das vielleicht nicht als etwas ‘Politisches’ betrachten, aber die Erfahrung, die andere dann machen können, hilft, sie in Menschen zu verwandeln, die leichter eine Geschichte der Verbundenheit akzeptieren.

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Charles Eisenstein ist ein amerikanischer Kulturphilosoph, freier Schriftsteller und Vortragsredner. Er graduierte an der Yale University in Philosophie und Mathematik. Vertiefte Studien in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte sowie spiritueller Philosophie schlossen sich an. Er ist Vordenker der Occupy-Bewegung. Zu seiner Website

Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung, ökologische Ethik, Schamanismus, Spiritualität.

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