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„Die Krise ist der Neuanfang”

Glynnis Jones/ shutterstock.com
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Das Gespräch führte Christian Salvesen

Frage: Charles, ich bin beeindruckt von Ihrer leidenschaftlichen und umfassenden Arbeit – wie Sie Ihre Einsichten mit anderen teilen, im Internet und über Ihre Bücher. „Renaissance der Menschheit“ behandelt ein Riesenthema. Lässt sich in wenigen Sätzen sagen, worum es da geht?

Eisenstein: Wer wirklich begreift, wie schlimm die Krise auf diesem Planeten ist, der kann schon verzweifeln: Nicht nur, weil das Problem unlösbar erscheint, sondern vor allem, weil die Menschheit insgesamt nicht einmal einen Versuch unternimmt, es zu lösen. Es scheint, dass im Grunde wir selbst das Problem sind.

Das Buch Renaissance der Menschheit greift diese Verzweiflung auf. Es führt alle heutigen Krisen auf eine gemeinsame Wurzel zurück, die ich als „Trennung“ bezeichne. Trennung von der Natur, von den anderen, von der Gemeinschaft, ja sogar von uns selbst, von unserem Körper. Geld, Medizin, Erziehung, Politik, Technik, all unsere sozialen Einrichtungen sind Ausdruck der Trennung – und deswegen steuern sie alle den kritischen Punkt an.

Der Grundgedanke meines Buches ist, dass diese vielfältige Krise nicht das Ende, sondern einen Neuanfang darstellt. Eine Geburtskrise, die uns in eine neue Epoche stößt: die Wiedervereinigung (reunion). Wir sehen doch längst, dass diese Vorstellungen von der Eroberung der Natur und der Vorherrschaft des Individuums nicht stimmen. Im Grunde ist die Reise des Menschen der vergangenen 1000 Jahre, in der so ziemlich jeder nur mögliche Fehler begangen wurde, Teil eines viel umfassenderen Prozesses.

Sie schreiben, dass die globale Krise eine spirituelle Dimension habe. Welche wäre das?

Eisenstein: Mit „spirituell“ meine ich nicht einen Bereich, unabhängig von der Materie. Ich weise damit vielmehr daraufhin, dass die Krise bis ganz tief zum Grund reicht und somit auch grundlegende Veränderungen bringt. Nicht nur Institutionen und Systeme befinden sich in der Krise, sondern unsere alltägliche Lebensweise und unser Selbstverständnis. Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Diese Fragen stellen sich heute neu und fordern ganz neue Antworten.

Die Illusion der Getrenntheit

Das Gefühl der Getrenntheit ist die Grundkrise der Menschheit und das Hauptthema Ihres Buches. Hat sich dieses Problem eigentlich geändert seit Adam und Eva? Ist die Illusion des Ich bzw. des getrennten Individuums die Ursache der globalen Krise?

Foto: C. Salvesen
Foto: C. Salvesen

Eisenstein: Ja, das ist eine Möglichkeit, das Problem zu umreißen. Diese Illusion der Getrenntheit geschah allerdings nicht urplötzlich, sondern entstand über die Jahrtausende. Auf der Grundlage der Getrenntheit entwickelten wir Menschen wiederum Methoden und Technologien, die diese Illusion verstärkten.

Nehmen wir die Landwirtschaft als Beispiel. Aus einer Fähigkeit symbolischer Darstellung, der Sprache, kamen wir zu der Überzeugung, dass die Natur uns gehört. Und in der Landwirtschaft verwirklichten wir diese Idee der Zähmung und Kultivierung von Pflanzen und Tieren. Damit befinden wir uns in einem von Menschen domestizierten Bereich, der von der Natur abgetrennt ist.

Sie beschreiben aber auch ein ganz neues Selbstverständnis, aus dem die Lösung unserer Probleme erwachsen könnte. Welches Konzept schwebt Ihnen da vor?

Eisenstein: Es ist zwar ein Konzept, aber geht darüber hinaus. Es handelt sich vor allem um ein neues Selbstgefühl. Das neue Selbst ist das verbundene Selbst, das Selbst der Zwischenmenschlichkeit. Wir werden uns nicht mehr als diese isolierten Blasen erleben, die mit anderen Blasen in einer Welt „da draußen“ interagieren. Dieses mit allem verbundene Selbst erkennt auf Anhieb die Wahrheit, dass der Wohlstand anderer Menschen auch mein Wohlstand ist. Wie würde wohl eine Wirtschaft aussehen, die auf dieser Einsicht beruht?

Sie beschreiben in Ihrem Buch eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv. So wie ich den Ansatz von Mystikern begreife, heißt das: Sobald das Ich verschwindet, gibt es keine Trennung mehr – und auch das Kollektive ist nicht mehr von Bedeutung. Was sagen Sie?

Eisenstein: Über Metaphysisches zu brüten ist nicht meine Sache. Wenn ich von Wiedervereinigung spreche, dann meine ich kein undifferenziertes Einheitsempfinden. Es geht nicht darum, dass das getrennte Ego falsch ist und verschwinden muss. Es hat seinen Platz. Das Problem ist heutzutage, dass wir darin fast ständig gefangen sind.

Was mir vorschwebt ist der Übergang zu einem beweglicheren, gleichsam flüssigen Selbst mit verschiedenen konzentrischen Ebenen. Es gibt das Selbst des einzelnen Ich, das Selbst der Familie, der Gemeinschaft, der Menschheit, des Landes, des Planeten, des Kosmos. In der Wiedervereinigung werden die gefühlten Verbindungen zu diesen größeren Aspekten des Selbst, die wir zurzeit – von wenigen Momenten abgesehen – als fremd bzw. als das Andere empfinden, wieder zum Leben erweckt. Diese kurzen Momente der Verbundenheit sind ein Ausblick auf das Kommende. Wer solche Momente erfährt, weiß, dass sie wirklich sind, wirklicher als das normale Leben.

Doch wie gelingt es, aus diesem kontrollierenden Selbst herauszukommen?

Eisenstein: Überwiegend nicht durch unsere eigenen Anstrengungen. Wir haben wohl etwa soviel Anteil an dem Prozess wie ein Fötus an der Geburt. Wehren wir uns, dauert die Geburt länger, doch wir werden letztlich trotzdem geboren. Genauer gesagt, wir werden vom kontrollierenden Selbst befreit, wenn die Kontrolle aufhört. Das geschieht bereits auf einer kollektiven Ebene, während wir gerade darüber reden.

Ein ganz gutes Beispiel für dieses Kontrollselbst ist die Sucht: Drogen können einem eine gewisse Kontrolle über das Leben und den Schmerz geben. Sie wirken eine Weile, doch irgendwann lassen sich die Wirkung und damit die Abhängigkeit nicht mehr aufrecht erhalten.

Worin sehen Sie eigentlich den Sinn des Lebens?

Eisenstein: Ich glaube, der Sinn ändert sich – je nachdem, wie weit wir durch das Leben gegangen sind. Es ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Vielleicht meint mancher, es sei etwas, das wir erschaffen, weil es nicht absolut ist. Doch das stimmt so auch nicht. Es ist eher etwas, das uns gegeben wird. Eine leichter zu beantwortende Frage wäre: Was ist der Zweck des Lebens? Das lässt sich allgemein beantworten: Er besteht darin, zu lernen, zu spielen, zu erforschen, zu lieben, das Leben zu erfahren und seine Geschenke zu vergeben.

„Die meisten arrangieren sich zu sehr mit den Verhältnissen“

Sie haben sich in der Occupy Money Movement engagiert. Können Sie etwas dazu sagen?

Eisenstein: Ich war nicht unmittelbar in Occupy involviert im Sinne von auf der Straße kampieren. Ich habe nur einige folgenreiche Artikel geschrieben und wurde in einem bekannten Video gezeigt: Occupy Wall Street: The Revolution is Love. Ich glaube, die Bewegung war ein voller Erfolg, auch wenn sie bisher politisch keine greifbaren Ergebnisse gebracht hat. Kein Gesetz wurde geändert. Dennoch: Das allgemeine Bewusstsein, die öffentliche Wahrnehmung hat sich gewandelt. Eine Art Schuld erschien auf dem Radarschirm der Öffentlichkeit. Die Bewegung hat auch gezeigt, dass der einfache Bürger Macht hat.

Die Zeit war zwar noch nicht reif für eine echte Machtübernahme des Volkes. Die Menschen haben sich hierzulande immer noch zu stark mit den Verhältnissen arrangiert. Die meisten glauben, dass das System funktioniert und die Normalität zurückkehrt. Diese Illusion höhlt zwar allmählich aus.

Dennoch bedarf es wohl einer großen Krise, um sie ganz zusammenbrechen zu lassen. Niemand kann sagen, wann das sein wird. Doch wenn es geschieht, werden die Menschen wieder auf der Straße sein und die Dinge werden eine Eigendynamik entwickeln, mit unvorstellbaren Veränderungen über Nacht.

In einem Ihrer Videos im Internet sagen Sie, Geld sei „eine Geschichte“. Können Sie das etwas ausführen?

Eisenstein: Geld ist ein Übereinkommen über die Bedeutung von Symbolen. Auf der rein physischen Ebene unterscheidet sich das Konto von Bill Gates kaum von meinem: Nur eine Aneinanderreihung von Bits in irgendeinem Computer. Doch wie diese Daten interpretiert werden, das macht einen gewaltigen Unterschied.

Sollte das gesellschaftliche Übereinkommen, das diesen Daten einen Wert zubilligt, wegfallen, dann ist das Geld nur noch eine belanglose Datei, ein Stück Papier mit Tinte drauf. Wie die Geschichte des Geldes enden kann, haben die Deutschen ja in der Weimarer Republik erfahren.

In meinem Buch Sacred Economics gehe ich folgender Frage nach: Warum haben wir uns für eine Geschichte des Geldes entschieden, in der das Geld im Konflikt mit dem Wohlergehen dieses Planeten und dem Überleben der Zivilisation steht? Warum haben wir einem Wertesystem zugestimmt, das, wenn überhaupt, nur in einer kurzen Zeitspanne unterstützend wirkt?

Das ist eine äußerst dringliche Frage, denn die Geschichte des Geldes fällt zunehmend auseinander, genau wie unsere Institutionen. Noch ist sie da, wird aber immer dünner. In meiner Jugend gab es nichts Verlässlicheres und Dauerhafteres als die Aktien mit dem Dreifachen A (die triple-a Aktion an der blue chip Börse) und die Rente. Doch heute vertrauen wir nicht mehr darauf. Sobald sich der Zusammenbruch unseres Geldsystems deutlich beschleunigt, können und werden wir ein neues Geldsystem aufbauen – auf einem anderen Übereinkommen.

„Wir sind hier, um zu geben“

Zwei Ihrer aktuellen Schlagwörter lauten Zeit-Bank (time bank) und Geschenk-Kultur (gift culture). Können Sie dazu und zu dem Hintergrund etwas sagen?

Eisenstein: Time-Banking ist eine einfache Möglichkeit zum geldlosen Austausch von Geschenken und Interessen auf regionaler Ebene. In der Regel bieten die Leute ihren Service und ihre Wünsche elektronisch im Netz an. Wenn jemand einem anderen hilft, sind auf seinem Konto zum Beispiel zwei Stunden gut geschrieben und auf dem des Geholfenen stehen zwei Stunden Schulden. Die gutgeschriebenen zwei Stunden können dann bei einer anderen Dienstleistung „ausgegeben“ werden. Damit wird die Gemeinschaft wieder aufgebaut und gefördert, und zwar an gerade den Stellen, wo die Verbundenheit verschwunden ist.

Statt einen Babysitter, einen Taxifahrer oder jemanden zum Rasenmähen zu bezahlen können sich die Menschen gegenseitig helfen. Wenn sie sich dann schließlich kennen und einander vertrauen lernen, vergessen sie womöglich das gegenseitige Aufrechnen von Stunden. In einer erfahrenen Geschenk-Ökonomie muss niemand darüber Buch führen. Jeder weiß genau, wer großzügig war und wer nicht.

Die alten Stammeskulturen waren Geschenk-Ökonomien. Der von heutigen Ökonomen so gern beschworene Tauschhändler spielte dabei gar nicht so eine wichtige Rolle. Heute sind Geschenkbeziehungen durch Geldbeziehungen ersetzt worden. Zum Beispiel: Als ich klein war, achteten die Nachbarn gegenseitig auf die Kinder nach der Schule und niemand musste für diesen Service namens Kindertagesbetreuung (day care) bezahlen. Wir Kinder spielten draußen und wurden nicht – wie heute – für Geld mit Videospielen betreut.

Noch vor wenigen Jahrhunderten bezahlten die Menschen nicht für Musik, sondern sangen und musizierten stattdessen gemeinsam. Sie bezahlten auch nicht für Arzneien. In jedem Dorf gab es wenigstens eine Großmutter, die mit Kräutern kurierte. Und beim Häuserbauen half man sich auch gegenseitig.

Heute sind all diese gegenseitigen Hilfen in bezahlte Dienste übergegangen. Die Menschen vertrauen nicht mehr auf Geschenke ihrer Mitmenschen und deswegen gibt es auch keine Gemeinschaft. Gemeinschaft ist aus Geschenken gewoben. Wenn ich dich nicht brauche und du mich auch nicht, ist unsere Verbindung wohl eher oberflächlich.

Was möchten Sie Ihren Lesern sagen?

Eisenstein: Den Lesern möchte ich sagen, dass wir uns im Übergang zu einer Epoche des Gebens und Schenkens befinden. Wir sind hier, um zu geben. Vielleicht hast du in deinem Beruf und bei deiner Arbeit – falls deine Geschenke nicht gewürdigt werden – schon mal das Gefühl gehabt, dass du dein Leben nicht wirklich lebst. „Ich wurde nicht auf die Erde geschickt, nur um das hier zu tun!“ Dieses Gefühl ist wahr.

In ungewissen Zeiten, wenn alles, was früher sicher war, zweifelhaft erscheint, können wir uns nicht länger auf unsere alten Ideen und Strategien verlassen. Stattdessen sollten wir unserem Wunsch zu geben vertrauen und unsere Entscheidungen ausrichten an der Frage: „Was möchte ich aus dem Herzen heraus geben?“ Viele Menschen erleben jetzt, wie sich für sie im Rahmen einer solchen Haltung ganz neue Möglichkeiten eröffnen.

Charles Eisenstein, geboren 1967, graduierte an der renommierten Universität in Yale in Philosophie und Mathematik. Persönliche, spirituelle und globale Krisensituationen führten ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der Körper-Geist-Medizin und -Philosophie. Heute präsentiert er seine Visionen als gefragter Vortragsredner, veranstaltet Seminare, verfasst Essays sowie Bücher zu neuen Wirtschafts- und Lebensformen. Zu seiner Website

Buchtipps:

Charles Eisenstein: Die Renaissance der Menschheit: Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters. Scorpio 2012

Charles Eisenstein: Keine Forderung kann groß genug sein: Die Revolution der Liebe. Der Geist von Occupy. Scorpio 2012

 

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