Interview mit Gesine Schwan zur Migrationspolitik
“Die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge in Deutschland bedroht unsere Demokratie und stärkt die AfD“, ist Gesine Schwan, SPD, überzeugt. Sie hat konkrete, praxistaugliche Vorschläge für eine menschliche Migrationspolitik, in der die Interessen der Kommunen und der Geflüchteten berücksichtigt werden. „Abschottung ist eine Scheinlösung“, so die Politikwissenschaftlerin.
Das Interview führte Birgit Stratmann
Frage: Laut Deutschlandtrend der ARD vom 13. Oktober 2023 halten 44 Prozent der Deutschen die Migration für das wichtigste politische Problem. Ist das ein Erfolg der AfD?
Schwan: Ich glaube nicht , dass die Propaganda der AfD dafür verantwortlich ist, sondern die Dynamik, die die AfD mit ihren Wahlerfolgen auslöst. Die Angst der anderen Parteien, Wähler an die AfD zu verlieren, führt dazu, dass sie das Thema Migration über Gebühr betonen, ja dramatisieren. So kann das (falsche) Bild entstehen, das allergrößte Problem auf Erden sei der Zuzug von Flüchtlingen.
Eine mir vertraute Person, die politisch interessiert ist, habe ich nach ihrer Einschätzung gefragt, wie viele Geflüchtete in diesem Jahr nach Deutschland gekommen sind, die Ukraine ausgenommen. Sie meinte, es seien wohl zwei bis drei Millionen Menschen, obwohl es in dem Jahr 220.000 Asylbewerber waren. (Im Jahr 2023 werden es ca. 300.000 Asylanträge in Deutschland sein, Anm. der Red.)
Die reale Zahl erklärt nicht, warum das Thema derart aufgeladen ist. Die Dramatisierung ergibt sich aus der Machtkonkurrenz der Parteien. Hinzu kommt, dass im Zuge der Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge, die wir ja wollen, nicht genügend finanzielle Mittel an die Kommunen geflossen sind. Denn sie haben mehr Ausgaben für Infrastruktur, Bildung, Kitas, Wohnraum usw. Hier gab es ein Tauziehen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden um finanzielle Ressourcen. Und das hat die Angst befeuert.
Moralisch halte ich es für verwerflich, ständig Öl ins Feuer zu gießen. Leider gestaltet die Politik nicht, sie reagiert nur. Auch von Bundesinnenministerin Nancy Faser hatte ich mehr erwartet, realistische Alternativen werden nicht weiterverfolgt. Ich verfechte eine Strategie, die auf einem Ausgleich von Interessen Einheimischer und Geflüchteter beruht.
Politik und Medien könnten ja auch die positiven Aspekte der Migration betonen – das geschieht aber nicht. Wir hatten vor einiger Zeit ein Interview mit dem indischen Vordenker Parag Khanna. Er meint, die alternden Gesellschaften des Nordens seien ohne Migration nicht überlebensfähig. Wie sehen Sie das?
Schwan: Wenn man vernünftig und rational an die Sache herangeht, dann sieht es doch so aus: Deutschland braucht jedes Jahr 400.000 Arbeitskräfte zusätzlich. Mit pragmatischen Regelungen in der Migration könnten wir viele Probleme in beiderseitigem Interesse lösen. Obendrein wäre es auch eine kulturelle Bereicherung, wenn sich verschiedene Kulturen hier begegnen.
Wir handeln auch gegen unsere eigenen Interessen.
Sie hatten 2021 in Ihrem Buch „Europa versagt. Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich” praktische Vorschläge für eine andere Politik entwickelt, u.a. nicht alle EU-Staaten zur Aufnahme zu verpflichten, sondern eine „Koalition der Willigen“ zu schmieden. Warum kommen alternative Konzepte in den politischen Debatten, auch Ihrer Partei, der SPD, nicht vor? Oder gab es Resonanz von politischen Entscheidungsträgern zu Ihrem Buch?
Schwan: Leider gab es nur Resonanz aus den Fachgremien, zum Beispiel seitens der Arbeitsgemeinschaft Migration der SPD-Bundestagsfraktion. Aber wir erreichen mit unseren Konzepten nicht die ganze Bundestagsfraktion und die Spitzen der Partei. Die Angst vor der skandalisierenden Ausnutzung des Mirgationsthemas ist größer als der Wille, das Problem wirklich zu lösen und dabei neue politische Wege einzuschlagen.
Ist das nicht ein Armutszeugnis für die Politik? Man kann ja keine PR-Politik machen, Politik muss die Probleme lösen.
Schwan: Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, spielt der PR-Aspekt immer eine Rolle, weil die Außendarstellung wichtig für den Machterhalt ist. Und die Macht ist nun einmal eine zentrale Kategorie in der Politik und ihre realistische Voraussetzung.
Was die Migrationspolitik betrifft, so werden auch die Interessen der Deutschen und Europäer verraten. Es geht nur noch darum, sich abzuschotten. Damit handeln wir nicht nur unmoralisch, sondern auch gegen unsere Interessen.
Sie haben auch Vorschläge entwickelt, die Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik zu dezentralisieren und die Kommunen stärker einzubeziehen. Heute aber scheinen es gerade die Kommunen zu sein, die Probleme haben mit Flüchtlingen. Müssten Sie Ihr Konzept an dieser Stelle überdenken?
Schwan: Die Voraussetzung für mein Konzept ist, dass es einen europäischen Fonds für kommunale Integration und Entwicklung gibt. Dieser würde allen europäischen Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen möchten, Mittel bereitstellen. Die Entscheidung, ob und wie viele Geflüchtete aufgenommen werden, soll bei den Kommunen liegen.
Weiter plädiere ich dafür, kommunale Entwicklungsbeiräte einzusetzen, in denen die Verantwortlichen vor Ort zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern, aber auch Vertretern von NGOs, Handelskammer, Industrie usw. die Lage besprechen und Entscheidungen vorbereiten.
Auch schlage ich ein digitales Matching-System, das die Bedürfnisse von ankommenden Geflüchteten und Kommunen abgleicht und Menschen zusammenbringt.
Wenn es für die Kommunen einen Anreiz gäbe, Geflüchtete aufzunehmen, bin ich überzeugt, dass sich plötzlich alle möglichen Türen öffnen würden.Ich plädiere dafür, ihnen zusätzich zu den Integrationskosten Ausgaben in derselben Höhe zu finanzieren für ihre eigenen Belange, unabhängig von den Geflüchteten. Dieses Prinzip wird schon in der kommunalen Inklusionspolitik mit großem Erfolg praktiziert.
Der Versuch der Abschottung ist eine Scheinlösung.
Nach dem jüngsten europäischen Asylkompromiss hat sich wieder der Ansatz auf europäischer Ebene durchgesetzt, sich abzuschotten und Migration eher zu verhindern. Sind Sie darüber frustriert?
Schwan: Ich bin zu alt, um frustriert zu sein. Die Europäische Union hat immer auf Abschreckung gesetzt; sie will das Problem auslagern an afrikanische Staaten, an sogenannte sichere Drittstaaten. In der Europäischen Kommission gab es nie einen Perspektivwechsel dahingehend, dass Regelungen in beiderseitigem Interesse möglich sein könnten.
Auch das Management an den Grenzen ging immer gegen Geflüchtete. Aber all die Maßnahmen werden nichts daran ändern, dass Menschen ihr Land verlassen. Es sind nur Scheinlösungen, die von europäischer Ebene kommen.
Die Demokratien werden sogar noch geschwächt, weil man die Probleme nicht löst und seine eigenen Werte verrät. Und dann kommen noch die Rechtsextremen, Teile der Konservativen, in Dänemark auch der Sozialdemokraten, die das Thema Migration für ihren Wahlkampf nutzen. Sie schüren die Angst vor Migranten und stellen sich als Beschützer dar. Das ist alles kurzsichtig und die Lage eskaliert weiter. Es schürt die Gewalt und die Wut.
Sie sagten, sie seien zu alt, um frustriert zu sein. Ist das Ihre stoische Ruhe oder haben Sie einfach keine Erwartungen mehr?
Schwan: Ich habe Erwartungen und ich arbeite ja dafür, dass sich die Politik ändert. Aber mir ist klar, dass Politikerinnen und Politiker den Weg des geringsten Widerstands gehen. Ich hatte große Hoffnungen in die Ampel gesetzt, die vernünftige Sachen in den Koalitionsvertrag geschrieben hat.
Doch die Innenministerin agiert zögerlich, statt sich eine gute Strategie zu überlegen und diese dann durchzusetzen. Stattdessen moderiert sie die Konflikte und laviert sich durch. Wie könnte man Politik mehr diskreditieren, als so passiv zu sein?
Deutschland zählt ja weltweit zu den fünf größten Aufnahmeländern von Flüchtlingen, laut Zahlen vom UNHCR von 2022; der überwiegende Teil stammt aus der Ukraine. Gleichzeitig ist es eines der reichsten Länder. Welche Verantwortung hat Deutschland und wo liegen die Grenzen der Verantwortung?
Schwan: Die Grenzen der Verantwortung liegen da, wo die Verantwortung nicht ausführbar ist oder wo es widerstreitende Verantwortungsfelder gibt. Wir haben Verantwortung, Geflüchtete aufzunehmen, und wir sind verantwortlich dafür, dass alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland bezahlbaren Wohnraum haben. Aus meiner Sicht schließt sich beides nicht aus. Man muss eben nur Bedingungen dafür schaffen.
Der Zulauf zur AfD macht mir große Sorgen.
Die AfD ist in Deutschland im Aufwind, sogar in Hessen und Bayern hat die Partei 2023 zugelegt. Aus Angst versuchen nicht nur konservative Politiker, mit Stimmungsmache gegen Flüchtlinge zu punkten. Und auch die Medien ziehen mit, indem sie Migration als bedrohlich darstellen. Kann das funktionieren?
Schwan: Die Stimmungsmache ist zerstörerisch für unsere Demokratie und gibt der AfD weiter Auftrieb, und dazu tragen auch die Medien bei. Journalisten werden nicht zur politischen Verantwortung gezogen. Wir brauchen mehr Menschen, die eigenständig denken, sich ein eigenes Urteil bilden, die selbst recherchieren und Vorschläge entwickeln, wie wir gerecht und lösungsorientiert handeln können.
Frage: Was sagen Sie Menschen hierzulande, die aufgrund von Inflation und steigenden Energiepreisen Angst haben, dass sie selbst nicht mehr genug zum Leben haben?
Schwan: Wir sind betroffen von der Weltsituation, von den Energiepreisen, von der Klimakrise. Aber eben nicht nur wir. In Afrika nimmt die Dürre Menschen in bestimmten Regionen die Lebensgrundlage. Gleichzeitig fischen europäische Fischereifirmen die Meere vor Afrika leer und machen die lokale Fischerei kaputt. Die Weltsituation erlaubt es keinem von uns, sich der Verantwortung zu entziehen.
Hierzulande müssen wir die soziale Gerechtigkeit mit der notwendigen Transformation verbinden.
Macht Ihnen der derzeitige Aufschwung der AfD Sorgen oder setzen Sie auf die 80 Prozent der Bevölkerung, die sich in der Mitte versammeln? Was sollte die Mehrheit tun, um die Demokratie zu schützen und zu stärken?
Schwan: Der Zulauf zur AfD macht mir große Sorgen. Man kann nicht bloß auf die Mehrheiten setzen, obwohl ich schon einen Unterschied zur Weimarer Republik sehe.
Ich setze auf die Stärkung der Demokratie durch eine kluge Ausweitung von Partizipation auf der kommunalen Ebene. Hier müssen die Bürgerinnen und Bürger mehr mitgestalten und mitreden können. Und hier können wir auch die Behauptung der AfD widerlegen, dass immer nur „die da oben“ entscheiden.
Unsere Nicht-Regierungsorganisation „Berlin Governance Plattform“ initiiert Projekte in den Kommunen mit kommunalen Entwicklungsbeiräten, mittlerweile sind es schon sieben. In den Runden sitzen Gewählte und die Nicht-Gewählten zusammen, um die langfristige Entwicklung ihrer Kommune, ihrer Stadt zu erörtern und Vorschläge zu erarbeiten.
Das ist in dieser krisengeschüttelten Zeit jedes Mal eine positive Erfahrung. Auch Experten für Rechtsextremismus bestätigen, dass diese Form der kommunalen Bürgerbeteiligung eine zeitgemäße Politik ist, um der AfD das Wasser abzugraben und die Demokratie zu stärken.
Prof. Dr. Gesine Schwan ist Präsidentin und Mitbegründerin der Berlin Governance Platform. Die SPD-Politikerin und Politikwissenschaftlerin ist zudem Vorsitzende der Grundwertekommission ihrer Partei. Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrin in Frankfurt (Oder), von 2005 bis 2009 Koordiatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen. Autorin des Buches: “Europa versagt. Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich”, S. Fischer 2021.
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Ich bin mit Gesine Schwan der Meinung, dass Abschottung am meisten uns selbst als demokratischer Gemeinschaft schadet. Die populäre Fokussierung auf das ‘Dagegen’ bewirkt, dass keine Aufmerksamkeit mehr auf die positiven Potentiale der Gesellschaft gerichtet wird. Die große Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft in großen Teilen der Bevölkerung, die 2015 der Menge der ankommenden Flüchtenden entgegengebracht wurde, ist vollkommen überdeckt worden durch das Schüren von Ängsten und Kritik am Vorgehen der Regierung. Dabei könnte gerade die Möglichkeit, Hilfsbereitschaft und engagiertes Handeln für die Gemeinschaft anzubieten und damit auch Gemeinschaft mitzugestalten, dazu beitragen, das demokratische Bewusstsein zu stärken. Wenn in den Medien und in den Politiker-Reden nur über Flüchtlingsströme als Krise und Bedrohung gesprochen wird, wird immer nur die Furcht heraufbeschworen und unsere Fähigkeit zum Mitgefühl und unser Wunsch nach Mitwirken in der Gemeinschaft unterdrückt. Wie Gesine Schwan sagt, kann sich die Politik der Verantwortung für die Welt nicht entziehen. Ebenso müssten die Politiker auch den Bürgern bewusst machen, dass in einer Demokratie jeder Einzelne Verantwortung für die Gemeinschaft trägt, als positive Möglichkeit, sich einzubringen. Die Abschottungspolitik schafft genau das Gegenteil, auch in den Köpfen der Menschen: Abgrenzung, Feindschaft und Unfrieden.
Danke für Ihre Gedanken dazu. Das mit dem Mitgefühl ist ein guter Punkt. Und dass es eine Win-Win-Situation sein könnte, wenn die Voraussetzungen stimmen. Abschotten ist eigentlich keine Lösung, die Politik sollte viel mehr gestalten.