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Was die Vernunft leisten kann

Emil Doerstling (1859-1940), Creative Commons
Gemälde von 1892/93: Kant und seine Tischgenossen |
Emil Doerstling (1859-1940), Creative Commons

Das Erbe Kants, Teil 2

Warum ist die Philosophie Kants so bahnbrechend? Kant schrieb die umfassendste Darstellung menschlicher Erkenntnis überhaupt. Peter Vollbrecht über die Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis nach Kant und die Bedeutung der Ideen von Freiheit, Moral und Schönheit für unser Leben, jenseits von Metaphysik.

Bekanntlich hatte Immanuel Kant selbst seine Philosophie auf einen Set von Grundfragen zurückgeführt: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Alle drei Fragen, so ergänzte er, würden umgriffen von einer vierten: Was ist der Mensch?

Kants Antworten darauf spannen ein hochkomplexes System auf aus theoretischer und praktischer Philosophie. Sie inspirierten zunächst den alten Kontinent, setzten dann über Zivilisationsgrenzen hinweg und gelten heute als philosophisches Welterbe.

Einen Klassiker zeichnet aus, dass man mit ihm stets erneut Anschluss an die Gegenwartsprobleme suchen kann. Kant als Denker der Freiheit wäre das philosophische Gewicht, das man angesichts der politischen und ökologischen Weltlage in die Waagschale werfen kann.

Denn Freiheit ruft zum Frieden auf. Immanuel Kant als Friedensbringer – das ist der Herzschlag seiner Philosophie.

Nur der Mensch kann über sich selbst nachdenken

Die Grundidee Kants ist zunächst einmal denkbar einfach und überzeugend: Nur als vernünftiges Wesen ist der Mensch in der Lage, sich selbst zum Thema zu machen. Indem er über sich nachdenkt, sucht er Sinn und Orientierung. Auch das ist schon ein Philosophieren, wenngleich noch im alltäglichen Verstand.

Professionell aber wird es, wenn die Vernunft sich selbst analysiert und Einsichten gewinnt über den gesamten Erkenntnisapparat aus Sinneswahrnehmungen, Anschauungen und Vorstellungen, Einbildungs- und Urteilskraft, Verstandes- und Vernunfttätigkeit.

In der Kritik der reinen Vernunft, 1781 in der ersten und sechs Jahre später in der zweiten Auflage erschienen, hat Kant die umfassendste Vernunftkritik geleistet, die je ein Menschenhirn unternommen hat.

Wobei der Ausdruck ›Kritik‹ nicht im negativen Sinn zu verstehen ist, sondern eher in demjenigen, der dem griechischen krinein nahekommt: scheiden, unterscheiden, differenzieren.

Der Vernunftbegriff der Transzendentalphilosophie ist seitdem so etwas wie der philosophische Goldstandard der westlichen Zivilisationen geworden – und er übt darüber hinaus große Strahlkraft auf afrikanisches und asiatisches Denken aus.

Wenn Erkenntnis an Grenzen stößt

Die transzendentalphilosophische Vernunft ist weit mehr als bloße Ratio. Über den Verstand geht sie hinaus, indem sie die Ebene der Empirie verlässt und Fragen nach den ersten und letzten Dingen stellt. Doch damit gerät sie in ein Dilemma.

Denn will die Vernunft darauf antworten, so übersteigt sie dabei ihre Kompetenz. Andererseits kann sie von diesen Fragen auch nicht lassen, denn sie drängen sich ihr auf, notwendigerweise.

In diesem Zwielicht formieren sich überdies die interessantesten und tiefsten existenziellen Themen des Menschen: Freiheit, Selbstsein, Transzendenz, Anfang und Ende.

Hier, wenn irgendwo, stellt sich die Vernunft mit weitgeöffnetem selbstkritischem Auge dem Delphischen gnothi seauton. Das »Erkenne dich selbst« ist Sache der Vernunft, nicht des Verstandes.

Der Verstand bleibt nämlich auf empirische Daten verwiesen, die ihm die Sinnesorgane bereitstellen: »Begriffe ohne Anschauungen sind leer«. In dieser Hinsicht verbeugt sich der Verstand vor dem Empirismus.

Doch wie steht es um höhere Begriffe wie Freiheit, Seele oder Gott, die nicht über die Sinne erfahren werden können? Der Verstand greift da ins Leere. Dabei sind es gerade diese anspruchsvollen Dimensionen unserer Existenz, mit denen wir unser menschliches Selbstbild zeichnen. Diese Ideen sind Werke der Vernunft.

Unverzichtbar seien diese Ideen, sagt die Vernunft, doch unbeweisbar bleibt deren Existenz. Ob unser Wille wirklich frei ist, ob wir tatsächlich eine unzerstörbare Seele haben, ob es einen Gott gibt – das alles muss letztlich unbeantwortbar belieben, hier stößt unsere Erkenntnis an einen Grenzstein.

Kant schuf ein neues Menschenbild

Hinter der Erkenntnisfrage steht ein neues Menschenbild, das eine Brücke baut zwischen dem physischen, biologischen einerseits und dem intelligenten, vernünftigen Menschen andererseits. Wir sind ja nicht nur funktionale Zellhaufen, sondern wir sind auch Verstand, Vernunft, Geist und – für Kant die entscheidende Kompetenz – Moral.

Wir ragen gleichsam mit unserm Kopf heraus aus der materiellen Welt der Physik und streben danach, eine moralische Weltordnung zu etablieren, in der auch die politischen Auseinandersetzungen ethisch eingehegt werden können. Menschen sind moralfähige Wesen, das ist es, was sie – so sieht es Kant – von den Tieren unterscheidet.

Gewiss – in den letzten Jahren hat die Verhaltensforschung Erstaunliches zu den kognitiven und emotionalen Fähigkeiten der Tiere zutage gefördert. Kants Speziesismus wird man heute korrigieren müssen, denn Kant zieht eine scharfe Trennlinie zwischen Mensch und Tier.

Die Welt der Erscheinungen und die Welt der Vernunft

Doch weiter auf Kants Hauptstraße: Wir stehen nur physisch unter dem Diktat der Naturgesetze, meint er.

Als vernünftige Wesen hingegen gehören wir noch einer anderen Weltordnung an, der »intelligiblen Welt« oder auch der »noumenalen Welt«, wie sich Kant ausdrückt. Damit kennzeichnet er den Umstand, dass wir kraft Vernunft in einer Welt der Freiheit leben.

Wir sind in zwei Welten zuhause: In der raumzeitlichen Welt der Naturphänomene, der Geschichte, der Politik, der alltäglichen und weniger alltäglichen Dinge, Kant nennt sie die Welt der Erscheinungen – und sodann in einer Vernunftwelt, die uns einen fundamentalen Wert verleiht: die unantastbare, unveräußerliche Menschenwürde.

Und ebendiese Würde belastet uns mit der Aufgabe, ihr weltweit Anerkennung zu erkämpfen und eine internationale Rechtsordnung mit drei anwachsenden Rechtskreisen zu etablieren: die republikanischen Verfassungen der Einzelstaaten, das verbindliche Völkerrecht und das Weltbürgerrecht, eine genuin Kantische Erfindung, in der man einen Vorläufer des Asylrechts ansehen kann.

Die Kluft zwischen Körper und Geist überbrücken

Schon wieder sind wir zum Weltrecht vorgeeilt, zweifelsohne ein wichtiges Vermächtnis Kants, ja vielleicht sogar das wichtigste. Doch dabei haben wir ein Friedensangebot aus dem Blick verloren, das Kant an den Menschen adressiert, genauer an die beiden Grundcharaktere, die in stetem Zwist stehen: Trieb und Vernunft.

»Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« Was da nicht recht zusammenpassen will, das ist die Vernunft mit ihrer altruistischen Weitsicht und der Körper mit seiner selbstsüchtigen Triebwelt.

Ich denke, jede und jeder kennt diesen inneren Konflikt zur Genüge. Wie oft handeln wir unseren Einsichten zuwider! Das einmal zugestanden – doch können wir den inneren Zwist nicht beilegen, wenigsten temporär in einem Augenblick strahlenden Glückes?

Nun, mit dem Glück hält sich Kant bedeckt. Das Glück sei ein wichtiges Gut, doch es sei nicht alles. Keineswegs sei es, wie Aristoteles wähnte, das höchste Ziel allen Strebens.

Der Endzweck des Menschen, ja der Natur überhaupt, das sei der moralische Mensch. Doch den seelischen Konflikt von Vernunft und Neigung, den kann die Vernunft nicht stehen lassen. Und tatsächlich macht sie insgesamt drei Friedensangebote an Körper und Geist.

Versöhnung von Vernunft und Natur

Zwei davon entdeckt die Vernunft an der Natur selbst, genauer: an der Naturschönheit und an der Erhabenheit der großen, ja bedrohlichen Natur. Schluchten und Abgründe, das tobende Meer, Vulkanausbrüche können uns ängstigen, weil die ungestüme Natur uns auf unsere physische Nichtigkeit verweist.

Doch wenn wir dabei auf gesichertem Grund stehen und angstfrei ästhetisch wahrnehmen können, dann ruft die Erfahrung des Erhabenen in der Natur eine Gegenkraft in uns auf, durch die wir der Allgewalt der Natur widerstehen.

Wir besinnen uns auf unsere Selbsterhaltung und stellen den rohen Naturkräften – gleichsam der äußeren Unendlichkeit – unsere innere Unendlichkeit entgegen, die wir unserer moralischen Vernunft verdanken.

Auch in der ästhetischen Erfahrung des Naturschönen sei eine moralische Selbstvergewisserung verkapselt, meint Kant und versöhnt damit die Vernunft mit der Natur. Wer die Schönheit in der Natur genießen könne, bei dem dürfe man eine Sensibilität für Ideen und damit für Moralität vermuten.

Religion als Mittel für Moralität

Auch das dritte Friedensangebot Kants möchte mit den menschlichen Unzulänglichkeiten versöhnen. Kant sucht es in der Religion auf – wohlgemerkt: die Religion und nicht den Kirchenglauben, dem Kant überwiegend ablehnend gegenüberstand.

Es ist durchaus vernünftig, religiöse Gefühle zu hegen, ja treffender noch: sie zu pflegen. Sie können nämlich als Vehikel für die Moralität dienen, wenn sie zur ethischen Motivation beitragen.

Der nackte kategorische Imperativ kommt spröde und lustlos daher. Macht es etwa Freude, ihm zu folgen?

Friedrich Schiller hatte sich bekanntlich in einem Spottgedicht darüber lustig gemacht, dass die Kantische Ethik die freudlose Pflicht fordert: »Gern dien ich den Freunden, doch tu ich’s leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin«.

Die Vernunft kann den moralischen Menschen nicht im Regen der Unzufriedenheit stehen lassen. Sie muss den Menschen trösten können: Es müsse doch ein Wesen geben, bei dem Moralität und Glückseligkeit Hand in Hand gehen. Und dieses Wesen ist – Gott.

Auch in dieser Argumentation bleibt Gott eine bloße unbeweisbare Annahme, keineswegs ist dadurch seine Existenz verbürgt. Kant überschreitet nirgendwo in seiner Philosophie die Grenze, die die Vernunft dem Glauben und damit der Gottesidee zieht.

Zwar ist Gott ein Postulat der Vernunft, aber er ist es nicht als Weltschöpfer oder gar Weltherrscher, sondern die Vernunft weist ihm, pointiert gesagt, ausschließlich moralische Aufgaben zu.

Aus rein ethischen Gründen handeln wir so, als ob es einen Gott gebe. Wir können durchaus an seiner Existenz zweifeln, nicht aber an der Autorität der moralischen Instanz, für die er in Kants »Ethikotheologie« steht. In ihr bleibt Gott eine Option der Vernunft oder, schärfer pointiert, ihr Gefangener.

Lesetipps:

  • Markus Willascheck: Kant. Die Revolution des Denkens. Hamburg 2023
  • Ralf Ludwig: Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Lese-Einführung. München 1995
  • Philosophie Magazin Sonderausgabe Nr. 28: Kant. Die Kraft der Vernunft in chaotischen Zeiten. Berlin 2024

 

Foto: privat

Peter Vollbrecht gründete nach seinem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft das ‚Philosophische Forum Esslingen‘. Seitdem philosophische Reisen in Europa und Südasien, Kooperation mit „Die Zeit“. Das philosophische Programm auf www.philosophisches-forum.de

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