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Wie Weisheit im täglichen Leben hilft

Philippe Leone/ Unsplash
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Drei Fragen zur Weisheit an vier Menschen

Weisheit ist ein Begriff, mit dem Menschen in vielen Kulturen der Welt etwas verbinden. Wir haben vier Menschen gefragt, was sie unter Weisheit verstehen, wie sie sich der Weisheit in ihrem Leben annähern und was ihnen in schwierigen Lebenssituationen hilft. Lesen Sie die Antworten aus verschiedenen Perspektiven.

„Weisheit heißt, dem Herzen folgen”

Dr. Andreas Weber, Biologe und Philosoph

Was ist für Sie Weisheit, welche Qualitäten verbinden Sie damit?

Weber: Weisheit bedeutet, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Nicht dem Wunschdenken zu verfallen, sich nicht von Hoffnungen und der Begierde, Schmerz zu verdrängen, leiten zu lassen, sondern von der Wahrheit.

Zum Glück haben wir ein Organ, um diese Wahrheit zu erfassen: unser Herz. Für die Sufis ist das Herz ein immaterielles Wahrnehmungsorgan dafür, wie sehr wir mit der Liebe in Kontakt sind, aus der alle Wirklichkeit fließt.

Andreas Weber, Foto: Petra Dolezalova

Der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry formulierte das in dem Satz: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.” Diese Aussage ist radikaler, als es zuerst scheint. Sie heißt, dass wir dem Herzen ganz vertrauen können, auch mit geschlossenen Augen.

Das Herz ist die Stimme der Wirklichkeit in uns. Fast immer wissen wir es, wenn wir der Stimme des Herzens zuwiderhandeln, wenn wir nicht auf das leise Bitten des Herzens hören. Weisheit heißt dem Herzen zu folgen.

Wie nähern Sie sich der Weisheit in Ihrem Leben an? 

Ich übe, auf die Stimme des Herzens zu hören. Das ist, wie sich vorstellen lässt, gar nicht so leicht. Das Herz kann sich öffnen, wenn wir uns Stille nehmen, um zu lauschen.

Sein Wissen sagt uns nicht nur die Richtung, sondern verstörmt auch eine ganz besondere Süße, an der wir erkennen können, dass wir uns in der Wahrheit befinden. Vor allem lässt sich Herzwissen auch von nichtmenschlichen Wesen lernen. Der kleine Fluss in meinem Dorf, die Weidenröschen des Spätsommers sind immer in ihrem Herzen, sie geben sich der Wirklichkeit bedingungslos hin und dienen so der Liebe.

Was hift Ihnen in schwierigen Lebenssituationen?

Hingabe an das Herz. Auch das ist wieder am leichtesten unter den nichtmenschlichen Mitwesen, die nichts anderes können als mit dem Herzen ganz eins zu sein. Wer ganz eins mit dem Herzen ist, öffnet dessen liebenden Raum für andere. Aber dieser Raum ist auch in mir. Wenn ich bedrückt bin oder ängstlich, ist es Zeit, das eigene Wünschen und Wollen abzugeben und dem Herzen zu vertrauen. “Wisse, der Spiegel des Herzens ist unendlich”, sagt der Sufi-Dichter Rumi.

Andreas Weber ist Meeresbiologe und promovierter Philosoph. In seinen Büchern, Vorträgen und Workshops erforscht er das eigene Spüren als Zugang zur Innenerfahrung einer lebendigen Wirklichkeit und entwickelt auf dieser Grundlage eine „Erotische Ökologie“.

Weisheit und das Vertrauen in den Prozess des Lebens

Dr. Sylvia Kolk, Buddhismus-Lehrerin

Was ist für Sie Weisheit, welche Qualitäten verbinden Sie damit?

Kolk: Grundlegend für weises Erkennen und Handeln ist für mich die Verbindung von Fühlen und Denken, Intuition und Verstand. Ohne Kontakt zu sich selbst, ohne Fühlen, ist Weisheit nicht möglich. Und das schließt die Fähigkeit zur Empathie ein.

Weisheit beruht auf einer tiefen Einsicht in die Bedingtheiten und Zusammenhänge allen Lebens. Das bedeutet, in komplexen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren und die Zusammenhänge einbeziehen zu können. Weisheit wurzelt in der Tiefe des Bewusstseins. Letztlich in der Stille.

Diese Klarheit wiederum wird durch die Furchtlosigkeit des Herzens ermöglicht. Wir scheuen uns nicht, Fehler zu machen, weil wir wissen, dass wir an ihnen reifen.

Wie nähern sie sich der Weisheit in ihrem Leben an?

Sylvia Kolk, Foto: privat

Kolk: Indem ich innehalte und mir Zeit zum Nachspüren nehme. Dann erfahre ich und weiß, ob eine klare Erkenntnis möglich und eine Entscheidung getroffen werden kann. Wenn nicht, braucht es Geduld. Das Entscheidende ist das Vertrauen in den Prozess des Lebens. Egal, in welcher Lebenssituation ich mich befinde.

Klares, weises Erkennen bedeutet für mich, dass ich unterscheiden kann, was meine eigenen Bedürfnisse sind und was die Gesamtsituation erfordert. Beides wahrzunehmen ist wichtig.

Was hilft ihnen in schwierigen Lebenssituationen?

Kolk: Lebenserfahrung und die langjährige Praxis auf einem meditativen geistigen Weg. Dazu gehört die Vertrautheit mit mutigen und sukzessiven Grenzverschiebungen – bis heute.

Was dadurch möglich wird? Tiefes Vertrauen, geistige Beweglichkeit und die radikale Bereitschaft, mich dem Schmerz, dem Verlust – was immer mir das Leben zuwirft – hinzugeben. Mit diesem Vertrauen öffne ich mich unmittelbar dem Geschehen, ohne mich zu verstricken. Es braucht eine Freiheit im Denken und Fühlen und das Wissen um die eigene Tiefe – und die eigenen Grenzen.

Wenn die Lebenssituation wirklich schwierig ist, musst du alles loslassen, was du weißt, was du willst und was dir bisher Sicherheit gegeben hat, und dann sehen, was übrig bleibt. Und: Gerade in schwierigen Lebenssituationen brauchen wir einander. Treue Freundinnen und Freunde sind dann unersetzlich.

Dr. Sylvia Kolk ist seit 28 Jahren als Buddhismus-Lehrerin tätig und hat das buddhistische Stadtzentrum in Hamburg initiiert. Sie verbindet Weisheit und Engagement.

Weisheit ist die Fähigkeit zum Perspektivwechsel“

Michael Hampe, Professor für Philosophie

Was ist für die Weisheit, welche Qualitäten verbinden Sie damit?

Hampe: Es sind vor allem zwei Eigenschaften, die ich mit diesem Wort verbinde: Erstens die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, die eine Bescheidenheit in den eigenen Erkenntnisansprüchen mit sich bringt. Sich zu fragen, ob man andere Personen wirklich versteht, ob sie nicht Recht haben könnten, scheint mir ein Kennzeichen von Weisheit zu sein.

Zweitens ist es die Fähigkeit, nicht in Panik zu geraten, auch wenn man etwas falsch gemacht hat, bloßgestellt wird oder gar mit dem Tod bedroht ist. Dass Irrtümer, Fehler und die eigene Endlichkeit etwas Normales sind, dass sich alle irren, andere verletzen und selbst sterben müssen, lässt sich leicht sagen. Doch diese Einsicht wirklich in seinem Emotionshaushalt einzubauen ist sehr schwer.

Wie nähern Sie sich der Weisheit in Ihrem Leben an?

Michael Hampe, Foto: privat

Hampe: Ich betrachte Weisheit nicht als ein Entwicklungsziel, das ich anstreben kann. Aber ich freue mich, wenn ich zum Perspektivenwechsel gezwungen werde, zumindest nachträglich. Ich versuche, mich zu beruhigen, wenn ich erschüttert darüber bin, welche Fehler ich mache. Ich versuche die Tatsachen, dass Menschen in meiner Nähe sterben als einen Anlass zu nehmen einzusehen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass ich noch lebe.

Was hilft Ihnen in schwierigen Lebenssituationen?

Hampe: Wie wohl den meisten von uns, hilft mir das Gespräch mit mir zugewandten verständnisvollen Menschen, denen es nicht ums Rechtbehalten geht. Manchmal muss ich mich aber auch ganz zurückziehen, um zu verstehen, in welcher Lage ich bin und wie ich mit ihr zurande kommen kann.

Das hat bisher immer geholfen. Aber ich weiß nicht, ob ich nicht auch einmal Situationen ausgesetzt sein werde, in denen ich nicht nur körperlich, sondern auch emotional hilflos sein werde. Mir scheint, dass man das nicht vorher wissen kann.

Michael Hampe ist ord. Professor für Philosophie an der ETH Zürich und Autor, u.a. „Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts. Über das wirkliche Leben“, München 2018. Mitinitiator des Weisheitsportals Metis der ETH Zürich

Weisheit ist auch das Wissen um die eigenen Grenzen“

Dr. Nina Bürklin, Logotherapeutin

Was ist für Sie Weisheit, welche Qualitäten verbinden Sie damit?

Bürklin: Für mich bringt es Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie & Existenzanalyse, gut auf den Punkt: „Denn Weisheit ließe sich definieren als ein Wissen, das gepaart ist mit dem Wissen um seine eigene Grenzen.“

Fundiertes Erfahrungs-Wissen ist die eine Seite der Weisheit. Gleichzeitig gibt es so vieles zwischen Himmel und Erde, das wir uns auch mit Wissenschaft und Forschung nicht erklären können. Um diese Spannung gut aushalten zu können, braucht es Eigenschaften wie Offenheit, Demut und die Fähigkeit zur Akzeptanz.

Wie nähern Sie sich der Weisheit in Ihrem Leben an?

Foto: privat

Bürklin: Ein ehrlicher und demütiger Blick auf mein Leben hilft: Was sind die Themen oder Aktivitäten, auf die ich Einfluss habe und wo ich selbst Veränderungen bewirken kann? Und was sind die Aspekte, die ich nicht (mehr) beeinflussen kann?

In der Logotherapie sprechen wir hier von sogenannten freien und schicksalhaften Bereichen. Die freien Bereiche tragen die Aufforderung in sich, bewusst zu gestalten; die schicksalhaften Bereiche fordern uns heraus, das anzunehmen, was wir nicht ändern können. Dieser Prozess hilft, Klarheit zu gewinnen und damit der Weisheit ein Stück näher zu kommen – wohl wissend, dass Weisheit angestrebt, aber nie erreicht werden kann.

Was hilft Ihnen in schwierigen Lebenssituationen?

Bürklin: Zunächst hilft mir das Bewusstsein, dass ich nicht allein bin und alle Menschen früher oder später in eine schwierige Situation kommen – also die Idee der gemeinsamen Menschlichkeit. Die Resilienzforscherin Lucy Hone bringt es auf den Punkt: „Das Unglück macht keinen Unterschied.“ Auch Frankl betrachtete Leiden nicht als Ausnahmefall, sondern als normalen Bestandteil der menschlichen Existenz.

Darüber hinaus finde ich es wertvoll, meine Vergangenheit und Zukunft über die Gegenwart zu verbinden. Das bedeutet, mir bewusst zu machen, was ich schon alles gemeistert habe und zu wem ich heute geworden bin. Und andererseits, mich jetzt auf etwas Wertvolles in der Zukunft auszurichten und darauf, wer ich einmal gewesen sein will. Die Frage „Wozu?“ (statt „Warum?“) kann hier neue Perspektiven eröffnen.

Dr. Nina Bürklin ist Logotherapeutin und Gründerin MEANING + More.

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