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Weisheit: Nur Erkenntnis ist ein nachhaltiges Gut

Qijin-Xu/ Unsplash
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Interview mit Prof. Michael Hampe

Krisenzeiten sind gute Zeiten für die Entwicklung von Weisheit, ist Michael Hampe überzeugt. Der Philosophie-Professor spricht im Interview darüber, wie wichtig die Erkenntnis für unser Leben ist, wie wir über die menschliche Situation nachdenken können und warum wir die Inspiration aus anderen Weisheitstraditionen brauchen.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

Frage: Der Begriff Weisheit ist unscharf. Er wird in vielen Kulturen benutzt. Was verstehen Sie darunter?

Hampe: Unter Weisheit verstehe ich Reflexionspraktiken, die Menschen helfen, wenn sie in Not geraten. Alle Menschen sind von Lebenskrisen betroffen: Geburt und Tod, Krankheit, Liebeskummer, Krieg.

Hier können uns Reflexionspraktiken helfen. Manche sind rein verbal wie die in den Platonischen Dialogen geschilderten oder die Tagebücher von Marc Aurel oder die Briefe von Seneca. Andere ebenfalls verbale Praktiken finden in Form von Erzählungen und Gedichten statt. Es gibt aber auch non-verbale Praktiken wie die Meditation.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Hampe: Weisheit hat immer damit zu tun, Abstand vom Geschehen zu nehmen. Ein Beispiel aus dem Westen ist die „Abhandlungn zur Verbesserung des menschlichen Verstandes“ von Spinoza. Hier setzt er sich mit drei Lebenszielen auseinander: Ruhm, Ehre oder Lust. Wer danach strebt, werde glücklich, heißt es.

Doch Spinoza stellt dieses Streben dann in Frage. Alle drei Strebeziele sind auf Endliches ausgerichtet und führen deshalb in Konkurrenzsituationen. Nicht alle können alle Ehren, beliebigen Ruhm, alle möglichen Lustquellen erringen. Deshalb bedroht dieses Streben nach Spinoza Menschen sogar in ihrer Existenz, weil es sie süchtig macht. Je mehr man davon hat, um so größer das Begehren, noch mehr zu bekommen.

Die Sucht blockiert die Reflexionsfähigkeit. Man vergisst, darüber nachzudenken, was eigentlich ein gutes Leben ist. Diese Reflexionsfähigkeit ist aber das, was den Menschen ganz wesentlich auch ausmacht.

Daher kam Spinoza zu dem Schluss: Nur die Erkenntnis ist ein nachhaltiges Gut, das nie weniger wird, auch wenn man sie weitergibt. Die Erkenntnis kann helfen, Emotionen zu regulieren, indem sie zum Gegenstand des Nachdenkens werden. Dadurch haben sie weniger Macht über einen.

Sich die Verbundenheit bewusst zu machen, kann Weisheit stärken.

Kann man weise werden? Glaubt man der empirischen Weisheitsforschung so ist es keine Frage des Alters.

Hampe: Mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man in Notsituationen gerät. Enge Freunde und Familienmitglieder sterben, Beziehungen zerbrechen, es kommen Krankheiten und Lebenskrisen. Die Frage ist, ob man irgendwann anfängt, darüber zu reflektieren und zu verstehen.

Wenn man das tut und die Krisen besser zu bewältigen lernt, dann steigt auch die Chance, weise zu werden. Das anzustreben wie ein Sportabzeichen scheint mir aber keine gute Strategie zu sein. Alles, was mit Ehrgeiz zu tun hat, führt in der Regel dazu, dass man sich verhärtet und verkrampft. Die meisten Einstellungen, die etwas mit Weisheit zu tun haben, brauchen Entspannung und Öffnung.

Allerdings passiert auch nichts, wenn man zu entspannt ist.

Hampe: Ja, dann schläft man ein und wird auch nicht weise. Wir müssen also wach sein, ohne uns anzuspannen.

Brauchen wir auch ein Gegenüber, damit Weisheit entstehen kann? Oder kann Weisheit entstehen, wenn ich allein in meinem Kämmerlein bin? Weisheit hat ja auch mit Verbundenheit zu tun.

Hampe: Das kommt darauf an, was Sie in ihrem Kämmerlein tun. Wir Menschen sind ja mit allem Möglichen verbunden: mit der Luft, dem Wasser, mit dem, was wir sehen und hören. Wir können der Verbundenheit mit anderen nicht entgehen. Sich das im stillen Kämmerlein bewusst zu machen, kann Weisheit stärken.

Wenn Sie allerdings nur darüber nachdenken, was Sie gemacht haben und als nächstes machen wollen, dann führt das nicht wirklich weiter. Können Sie über das, was in Ihrer Haut stattfindet, hinausgehen? Und das hat ja mit anderem, mit anderen Menschen zu tun.

Die Grundvoraussetzung ist, dass man überhaupt erst einmal lernt, weniger um sich selbst zu kreisen. Das kann man auch tun, indem man sich Tieren, Pflanzen oder den Wolken am Himmel zuwendet.

Unser Verständnis anderer Kulturen ist sehr begrenzt.

Wir leben in krisenhaften Zeiten. Wäre es nicht gerade jetzt hilfreich, sich der Weisheit zuzuwenden?

Hampe: Ja, das denke ich schon. Mich beunruhigt die Vorstellung, dass es so etwas wie konkurrierende Kultur-Systeme auf der Welt geben soll, denn sie überdeckt das, was uns als Menschen eint.

Es heißt ja, der Westen stehe in Konkurrenz zu China. Und das stimmt in gewisser Hinsicht, mit Blick auf die politischen Systeme: Ein autokratischer Staaat konkurriert mit der Demokratie.

Aber selten beschäftigen wir uns mit den kulturellen Hintergründen, die das Leben der Menschen ja auch maßgeblich bestimmen. Welches Verständnis haben sie von Ich, von Freiheit, von Glück? Unser Verständnis anderer Kulturen ist leider immer noch sehr begrenzt, trotz all der Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, die uns durch das Internet zur Verfügung stehen.

Auch unser Schulunterricht ist weitgehend eurozentristisch ausgerichtet, gerade bei den geisteswissenschaftlichen Fächern. Man sollte eher Weltliteratur, Weltphilosophie studieren und den Koran, die Bibel, das Daodejing gleich gut kennen. Mit einer globalen Bildung könnte die Konkurrenzsituation entschärft werden, und wir könnten endlich einen Verständigungsprozess beginnen, der dazu führt, dass die globalen Probleme auch gelöst und nicht nur benannt werden.

Sie meinen, wir sollten uns mehr öffnen für das Weisheitswissen, das es in den verschiedenen Kulturen gibt?

Hampe: Ja, es ist ein Bildungsauftrag, dass wir uns für die verschiedenen Reflexionsformen auch in anderen Kulturen öffnen. Wenn ein politisches System autokratisch oder despotisch ist, so heißt das nicht, dass seine Weisheitstraditionen ebenfalls der Despotie zuneigen. Im Übrigen sind die westlichen Weisheitstraditionen der Antike aus Sklavenhaltergesellschaften hervorgegangen. Die Philosophen hatten Muße, weil andere für sie geschuftet haben.

Die globalen Probleme können nur gelöst werden, wenn es eine globale Verständigung gibt.

Nehmen Sie eine geistige Erstarrung im Westen wahr?

Hampe: Was meinen Sie damit?

Mit Erstarrung meine ich, dass wir uns auf unsere Selbstbilder als Europäter fixieren, dass wir übersehen, was wir nicht haben, wo wir von anderen Kulturen lernen könnten, auch um unsere gewaltigen Probleme zu lösen.

Hampe: Das sehe ich genau so. Es gibt ein Hängen an der eigenen Identität, gleichzeitig sind wir unfähig zu handeln. Obwohl man alles Mögliche weiß über soziale Ungleichheiten und ökologische Bedrohungen, passiert viel zu wenig. Und diese Handlungslähmung hat auch damit zu tun, dass die globale Verständigung nicht klappt. Wir können die globalen Probleme aber nur lösen, wenn es eine globale Verständigung gibt.

Joe Biden behauptete gerade von sich, er habe „verdammt viel Weisheit erlangt. Ich weiß mehr als die große Mehrheit der Menschen“. Lässt Sie das Hoffnung schöpfen?

Hampe: Ich will Joe Biden nicht zu nahe treten. In der Analytischen Philosophie heißt es, dass Weisheit etwas mit epistemischer Bescheidenheit zu tun hat. Das würde bedeuten, dass Personen, die kundtun, dass sie weise wären, damit sagen, dass sie es nicht sind.

Wie könnte man mehr Weisheit in Politik und Gesellschaft bringen? Sollen erst mal alle Entscheider ein Muße-Jahr absolvieren?

Hampe: Es ist ein schwieriger Beruf, wo man unglaublich vielen Anfeindungen ausgesetzt ist, Machtspiele mitmachen und sich durchsetzen muss. Die Fähigkeit, das alles auszuhalten und gleichzeitig ruhig und besonnen zu bleiben, ist schwer zu erreichen. Ich würde es mir, glaube ich, nicht zumuten wollen. Menschen, die gern Macht hätten, sind in der Regel nicht dafür geeignet. Und diejenigen, die geeignet wären, wollen die Macht nicht haben.

Die Zerrüttungszustände sind gute Zeiten für die Entwicklung von Weisheit.

Sie sind Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Hat die Weisheit in Ihrem Studienbetrieb überhaupt einen Platz?

Hampe: Die Akademdie ist eher eine Bedrohung für die Weisheit, weil man sich in Konkurrenzsituationen befindet. Wichtig war für mich eine Lehrveranstaltung an der ETH, die ich vor einigen Jahren für Ingenieure gemacht habe. Die Studierenden wollen die Welt besser machen, indem sie Techniken entwickeln.

Ich würde es wunderbar finden, wenn wir für die Krisen der Zeit technische Lösungen finden könnten. Aber das funktioniert, scheint mir, leider nicht immer. Wie können wir Liebeskummer oder den Tod mit Apparaturen bewältigen? Sollen wir Anti-Liebeskummer-Pillen zusammenbrauen und an der Synthese des Tranks der Ewigen Jugend arbeiten? Das kommt mir absurd vor. Man muss Lebenspraxis, die Kunst ein gutes Leben zu führen, von technischer Problemlösung unterscheiden.

Die Ingenieure sahen meine Haltung skeptisch. Sie dachten, dass es vielleicht doch irgendwann Möglichkeiten gäbe, den Tod abzuschaffen. Aus den Diskussionen entstand in dem akademischen Raum ein Interesse an diesen Fragen, auch an Weisheitsthemen und schließlich das Buch „Vier Meditationen über das Glück“.

Wir leben ja in zerrütteten Zeiten, wo man eher das Gefühl hat, die Weisheit wird weniger. Woher nehmen Sie die Energie, so ein Projekt anzustoßen?

Hampe: Krisen und Zerrüttungszustände sind gute Zeiten für die Entwicklung von Weisheit. Einige Weisheitstraditionen entstanden in der sog. Achsenzeit – also Zeiten großer Umbrüche.

Nehmen Sie Athen und die Auseinandersetzungen mit Sparta und den Persern. Die Menschen verloren ihre Orientierung, weil sie plötzlich die Vielfalt der Kulturen entdeckten, sie hinterfragten ihre eigenen kulturellen Normen. Auch der Buddhismus entwickelte sich in einer Zeit der Kriege und Umbrüche auf dem indischen Subkontinent.

Weisheit entstand oft in unruhigen, herausfordernden Zeiten. Heute ist die Frage: Wird die Zerrüttung weiter zunehmen? Oder führt der Druck, der auf uns lastet, zu einem Umdenken? Schaffen wir es, eine reflektiertere Einstellung gegenüber der menschlichen Situation zu entwickeln? Diese Möglichkeit sehe ich durchaus.

Foto: privat

Michael Hampe ist ord. Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Philosophiehistorisch beschäftigt er sich mit der europäischen Philosophie in der Frühen Neuzeit, vor allem mit Spinoza und der Aufklärungsbewegung und der Geschichte des Pragmatismus, vor allem mit John Dewey und Alfred North Whitehead, systematisch mit dem Verhältnis von Literatur und Philosophie und von Weisheit und Philosophie (auch interkulturell). Veröffentlichungen: „Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik“, Berlin 2014. „Die Wildnis. Die Seele. Das Nichts. Über das wirkliche Leben“, München 2018. Mitinitiator des Weisheitsportals Metis der ETH Zürich

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