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Eine Krise kann Aufbruch bedeuten

Daniel Schwarz/ Unsplash
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Interview mit Michael von Brück

Eine Krise bedeutet die Trennung von Gewohntem. Krisen können lähmen oder zu Veränderungen und Weisheit anspornen. Der Religionswissenschaftler, Zen-Lehrer und Buch-Autor Michael von Brück spricht im Interview über den Umgang mit schwierigen Lebenssituationen, die Rolle der Religion und warum es wichtig ist, unsere Haltung zu den Dingen zu ändern.

Das Gespräch führte Geseko von Lüpke

Frage: Die Krisen nehmen zu und die Kirchen werden leerer. Ein altes Stichwort sagt „Not lehrt beten!“ Lehrt Not beten oder ist das nicht mehr so?

von Brück: Seit wir Menschheitsgeschichte zurückverfolgen können, entwickelt sich bei den Menschen das Bedürfnis, die Kontingenz des Lebens – also die Zufälle, die dazu führen können, dass das Leben sich plötzlich völlig verändert oder auch zu Ende ist – dadurch zu bewältigen, dass man sich an eine umfassende Macht wendet.

Ob das ein Gott ist oder eine universale Ordnung, ist verschieden. Es ist jedenfalls eine Ordnung, eine Struktur, etwas, von dem man glaubt, dass es das Leben beeinflusst und was diese Zufälligkeit oder auch diese prekäre Situation in einer größeren Zusammenhang stellt.

Offenbar wenden sich Menschen in der Not einer höheren Ordnung zu?

von Brück: Nun, wenn man den Gott oder die höhere Ordnung persönlich anspricht, nennt man das beten. Insofern lehren schlagartige Veränderungen oder plötzliche Abbrüche tatsächlich beten.

Ich erlebe das auch jetzt in der Krise, dass Menschen, die vielleicht verzweifelt sind oder auch Dinge bewegen wollen, vermehrt beten. In welcher Form auch immer.

Das bedeutet aber nicht, dass man sich nun institutionell an eine Kirche, eine buddhistische Gemeinschaft oder eine Ummah oder so etwas wenden muss. Beten ist zunächst mal eine sehr persönliche Angelegenheit.

Krise bedeutet die Trennung vom Gewohnten.

Transformieren Krisen grundsätzlich immer auch beschränkte, zu enge Weltbilder und erweitern dann unser Bewusstsein?

von Brück: Das kann der Fall sein, muss aber nicht. Eine Krise kann lähmen, sie kann aber auch Aufbruch bedeuten – von alten Gewohnheiten, verengten Strukturen, Denk- oder Gefühlsstrukturen oder Lebenssituationen hin zu innerer Reifung, ja Weisheit.

Krise kann in beide Richtungen gehen. Das hängt natürlich an den psychischen oder spirituellen Voraussetzungen des Einzelnen, aber auch an den sozialen Beziehungen, wie jemand mit einer solchen Krise umgeht.

Krise bedeutet zunächst die Unterscheidung – also die Trennung von dem Gewohnten oder von dem Althergebrachten in eine neue Situation. Krise ist nicht nur negativ besetzt, sondern es ist eine Situation des Aufbruchs. Aber dazu braucht es Mut. Dazu braucht es Lebensenergie, die ich mir oft nicht selber geben kann, sondern die ich aus sozialen Kontexten gewinne.

Es gibt in allen Weisheits-Traditionen den Archetyp von Tod und Wiedergeburt, der beinhaltet, dass vor dem Entstehen von etwas Neuem etwas Altes sterben muss. Spiegelt sich das in den verschiedenen Religionen?

von Brück: Natürlich ist das zunächst die biologische Lebenserfahrung: Da, wo etwas Neues geschieht, muss etwas Altes sterben. Alles ist Übergang, alles ist Verwandlung.

Und das hat diese beiden Seiten, die wir in allen Religionen sehen: Wo ein Gott stirbt, kann man mit Sicherheit sofort sehen, dass dann eine Auferstehung – welcher Art auch immer – passiert.

Also haben Krise und Religion einen unmittelbaren Zusammenhang?

von Brück: Ja, unmittelbar. Weil Religion Antwort auf das Leben ist. Und Leben ist Zugrundegehen und Neuwerden. Das ist mit der Evolution der Zeit, der Evolution des Körpers, der Evolution der Lebensformen gegeben.

Das Nicht-Wissen ist eine tiefere Form des Wissens.

Wir begegnen ja in den Krisen sehr häufig dem Gefühl des Nichtwissens. Beinhaltet das auch die Möglichkeit, darin dem Numinosen oder Göttlichen zu begegnen, was jenseits der Konzepte liegt, vielleicht im Feld der Weisheit?

von Brück: Das kommt darauf an, was der Mensch unter Wissen versteht. Wenn Platon am Anfang der griechischen Philosophie im 4., 5. Jahrhundert vor unserer Zeit sagt „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ dann ist das ja höchste Form des Wissens.

Natürlich wissen wir dieses und jenes. Doch dann muss man sich bewusst werden, dass dieses Wissen begrenzt ist und letztlich auch immer wieder überholbar. Auch heute haben wir oft den Eindruck, dass, je mehr wir wissen, die Horizonte des Nichtwissen umso größer sind. Das hat die Menschen immer beschäftigt, auch in den alten Kulturen.

Das heißt, Krise stellt Wissen in Frage?

von Brück: Wissen ist vorläufig. Und auch das spirituelle Wissen, das wir vielleicht durch Meditation auf einer ganz anderen Ebene haben und gewinnen können, ist nie etwas Fixiertes. Es ist immer im Fluss. Es kann tiefer werden und in weitere Zusammenhänge einführen.

Insofern ist es interessant zu sagen: Das Nichtwissen ist eine tiefere Form des Wissens. Aber es hat noch einmal eine andere Seite. Wissen ist ja ohnehin erstaunlich. Und das ‚Staunen‘ ist die Grundlage oder der Anfang des Wissens, wie die Griechen gesagtt haben.

Dass wir überhaupt mit unserem begrenzten Wissensapparat Wirklichkeit erkennen können, das ist wirklich erstaunlich. Aber das ‚Nichtwissen‘ besteht eben darin zu sagen: „Es geht immer weiter! Es kommen Grenzen. Und wenn wir die Grenzen zu überschreiten wagen, zeigen sich neue Räume.“ Das ist eine tiefe Weisheit, die in den Religionen, ganz besonders in den mystischen Traditionen, bewusst wird.

Möglicherweise kommt die Dominanz der europäisch-amerikanischen Kultur zum Ende.

Empfehlen die Religionen auch praktisch, die Krise als einen Impuls für einen radikalen Wandel zu nehmen – oder sind sie eher Status quo bewahrend?

von Brück: Wir haben beides in den Religionen. Religionen sind Rebellion gegen das Offensichtliche und Widerstand gegen das Böse. Man schaut hinter den Vorhang oder versucht Aspekte dessen, was hinter dem Oberflächlichen ist, zu sehen. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite sind Religionen Institutionen, die Herrschaft stabilisieren, die den Mächtigen ihre Legitimation geben. Das gilt für die großen Weltreligionen. Religiöse Institutionen haben auf der einen Seite diese revolutionäre Kraft aus der Krise eine Erneuerung zu schaffen: immer wieder diese Erneuerung-, Reform-, Reformationsbewegungen.

Aber auf der anderen Seite sind Religionen auch Bremser, also Institutionen, die ungerechte Herrschaftsstrukturen stützen, die dazu beitragen, Menschen zu versklaven – und zwar geistig wie sozial.

Derzeit häufen sich weltweit viele Krisen, was viel Angst macht. Entsteht aus Krise immer eine bessere Zukunft oder kann aus Krise auch das totale Scheitern entstehen?

von Brück: Die letzten 5000 Jahre unserer Menschheitsgeschichte zeigen, dass Krisen sich tatsächlich zu Megakrisen ausweiten können, die ganze Zivilisationen aussterben lassen. Man braucht nur an den Untergang des Römischen Reiches zu denken, das innerhalb weniger Jahrzehnte zusammenbrach.

Ähnliche Beispiele ließen sich aus anderen Kulturen herbeiführen, wie der Untergang der ägyptischen Kultur oder der Maya. Jedenfalls mag unsere gegenwärtige Krise tatsächlich dazu führen, dass die Dominanz der europäisch-amerikanischen Kultur zum Ende kommt.

Die Welt neu aufstellen, wenn sie zusammengebrochen ist.

von Brück: Ich erlebe in meiner Arbeit mit jungen Menschen ein Krisenbewusstsein und auch Angst. „Wir sind in einer Krise und ihr Älteren habt es verbockt“, höre ich von vielen Studierenden. Aber auch: „Wir werden die Welt neu aufstellen, wenn sie zusammengebrochen ist.”

Wie können darauf die religiösen Traditionen reagieren?

von Brück: Das Thema ist eine Verbindung von Spiritualität und Ökologie. Die ökologische Situation ist so, dass die Menschheit tatsächlich dabei ist, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Ich glaube nicht, dass das dazu führen wird, dass das Leben auf der Erde zum Ende kommt. Die Menschheit oder ein großer Teil von ihr wird mit vielen Schmerzen vielleicht verschwinden. Aber das Leben auf der Erde wird weitergehen.

Was verstehen Sie unter ‚spiritueller Ökologie‘?

von Brück: Die spirituelle Ökologie bedeutet, dass wir unsere Haltung zu den Dingen ändern müssen. Wir wissen im Prinzip, was zu tun wäre. Wir haben auch die technologischen Möglichkeiten. Es ist unglaublich, was da in den letzten Jahren geschaffen worden ist, um Biodiversität zu erhalten.

Aber wir tun zu wenig, aufgrund von lähmender Angst oder Trägheit. Dabei steckt in der Krise eine Chance für mehr Lebensqualität – also weniger Quantität, aber mehr Qualität.

Ich sehe viele Menschen rund um den Globus, die das tun und die an der Umgestaltung unserer Lebenspraxis Freude haben. Wir müssen alle in dieser Richtung arbeiten.

Thomas Doll/magenta33.de

Michael von Brück, bis 2014 Prof. für Religionswissenschaft an der Universität
München, derzeit Honorar-Professor an der Katholischen Universität Linz für
Religionswissenschaft/Religionsästhetik. Ausbildung zum Zen- und Yoga-Lehrer in Indien und Japan, mehrmals Gastprofessor in den USA. Mitglied wissenschaftlicher Gremien weltweit, wiss. Beirat des Goethe-Instituts und des Verlags der Weltreligionen (Suhrkamp/Insel). Zahlreiche Publikationen zum Buddhismus, Hinduismus, Interkulturellen Dialog.

 

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