Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Akupunkturnadeln auf die Erde setzen

Asmus Henkel
Asmus Henkel

Anders mit globalen Krisen umgehen

In Krisenzeiten wird deutlich, dass Veränderungen nötig sind. Doch von wo aus können wir das Neue aufsuchen? Die Meditationslehrerin Sylvia Kolk lädt dazu ein, von einer tieferen Dimension des Bewusstseins auf die Welt zu schauen.

Wir leben in einer Zeit der Krisen. Millionen Menschen sind auf der Flucht, gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Unruheherde und Kriege zeigen das ganze Ausßmaß der Gewalt: etwa in Syrien, Irak, Israel, Palästina, Afghanistan. Und weitere Bedrohungen zeigen, dass etwas nicht stimmt: Hunger, Armut, Klimaerwärmung und Umweltzerstörung.

Zeiten der Krise sind auch Zeiten des Umbruchs. Wir spüren: So kann es nicht weitergehen. Alte Denk- und Verhaltensmuster, die die globalen Krisen hervorgebracht haben, gehen langsam zu Ende. Sie überleben sich quasi selbst. Daher muss vieles neu gedacht werden. Wie aber sieht das Neue aus, welche Möglichkeiten der Entwicklung hat unsere Gesellschaft? Und von welchem Punkt aus können wir das Neue aufsuchen?

Meine Idee ist, dass wir das, was getrennt erscheint, wieder zusammenbringen: Spiritualität und Politik, Ökonomie und Kultur, Wissenschaft und Religion. Vielleicht können wir uns den anstehenden schmerzhaften Themen von einem anderen inneren Ort aus nähern. Damit meine ich keinen esoterischen, mystischen Ort, sondern unsere menschliche Fähigkeit zur Bewusstheit und zum Mitgefühl, dem Anteilnehmen am Leiden anderer.

Wie können wir uns wieder berühren lassen von all dem, mit dem wir konfrontiert werden? Also weniger aus dem Kopf heraus wahrnehmen und mit dem Verstand urteilen, sondern aus der Mitte des Körpers heraus, mit dem Herzen.

Den inneren Ort Anteil aufsuchen

Das offene Herz ist der innere Ort, der ruhiger ist als das intellektuelle Wahrnehmen. Es hat zwar auch seine Berechtigung, dass wir Dinge durchdenken, aber es sollte nicht die einzige und beherrschende Stimme in uns sein. Wenn es uns gelingt, phasenweise die Konzepte beiseite zu lassen und unvoreingenommen, vom Herzen aus wahrzunehmen, dann sind wir weniger egozentrisch. Und das ist genau das, was wir als Gegenpol brauchen. Worum es im Moment geht, ist ein stärkeres „Wir-Bewusstsein“ zu entwickeln. Das wäre der Wandel, der ansteht.

Meine These ist: Von diesem inneren Ort aus, der gefühlten Gegenwärtigkeit, dem Anteil nehmenden Mitgefühl nehmen wir Informationen und Nachrichten aus der Welt anders auf.

Was normalerweise geschieht ist, dass wir mit dem Verstand wahrnehmen, der mehr Ich-bezogen ist und mit starren Konzepten arbeitet. Wenn wir dann Nachrichten hören, gibt es zwei Reaktionsweisen: Entweder halten wir es nicht aus und beginnen wegzuschauen, unsere Gefühle abzuschalten. Oder wir verfallen in Aktionismus. Wir rennen umher und tun dies und tun jenes, um unser Gewissen zu beruhigen – und auch dabei weichen wir den Gefühlen aus.

Ich möchte dazu einladen, gesellschaftliche Themen in unsere Mitte zu nehmen – in einen Bewusstseinsraum, in dem wir uns ihnen zuwenden, ohne vorher zu wissen, wie die Antwort ausfällt.

Wenn wir dies in der Gruppe tun mit Menschen, die auch ihr Bewusstsein öffnen, dann kann geteiltes und Anteil-nehmendes Aufnehmen von Wissen und Erfahrung ein „Mehr“ ergeben: ein Mehr an Kreativität, Ideen, Erkenntnis.

Wenn wir dann einen Moment erleben, wo wir uns berührt fühlen in einem tieferen Sinn und dies mit anderen teilen, dann sind Veränderungen möglich. Wir weiten also den Blick, nehmen Abstand von Schwarz-Weiß-Denken und so werden wir der Komplexität der Welt mehr gerecht. So können Lösungen entstehen, die nicht bloß Altes wiederholen. So werden Potenziale erschlossen.

Was oft geschieht: Wir fühlen uns ohnmächtig angesichts der Tagespolitik. Etwas zieht sich in uns zurück: nämlich unsere Vitalität, Kreativität, Zuversichtlichkeit und Anteilnahme. Die Wirkung: Wir werden träge und damit leicht reizbar, hängen in alten Denk-und Handlungs-Gewohnheiten fest, sind mutlos. Das ist keine gute Grundlage, damit etwas Neues entstehen kann. So können wir unser Potential nicht zur Verfügung stellen, es ist ja uns selbst versperrt.

Wir brauchen Muße

Wie gelangen wir zu diesem inneren Ort, den ich die „Tiefendimension des Bewusstseins“ nenne? Für mich ist die Meditation oder Kontemplation eine der besten Möglichkeiten, die ich kennengelernt habe, Zugang dazu zu finden.

Menschen finden nicht zu diesem Potenzial, wenn sie ständig unterwegs sind von einem Reiz zum nächsten. Wir können dann nicht in Frieden sein, weil wir immer wieder auf der oberflächlichen Ebene unseres Seins Befriedigung suchen.

Ein wichtiger Punkt, wenn wir meditieren wollen, ist zu lernen, mit unangenehmen Erfahrungen umzugehen. Denn wir haben die Tendenz, loswerden zu wollen, was weh tut, und somit ist der Geist ständig getrieben und auf der Suche nach Nicht-Leiden, nach angenehmen Erfahrungen.

In der Meditation lernen wir, endlich anzukommen und zu fühlen, was gerade da ist. Wenn wir innerlich frei sind, dann darf entstehen, was will, auch das Unangenehme. Wir sind dann frei in unseren Reaktionen.

Wenn etwa jemand etwas Unfreundliches zu mir sagt, so bereitet mir das ein unangenehmes Gefühl. Nun können wir einen Moment innehalten, uns entspannen und einfach freundlich wahrnehmen, dass da ein unangenehmes Gefühl ist. Durch geistige Präsenz, einer Art klarer, gelassener Wahrnehmung entstehen Offenheit und Vertrauen.

Wir existieren auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig – sowohl auf der Ebene der Tiefendimension des Bewusstseins wie auf der Ebene des Alltagsbewusstseins. Die Frage ist, ob und wie das tägliche Leben aus dieser Tiefendimension des Bewusstsein gelebt wird und ob es uns gelingt, immer wieder den Weg dorthin zurückzufinden.

Dann kann ich mich anders auf die Nachrichten, von denen ich höre, beziehen. Vielleicht merke ich dann auch, dass ich Teil der Krise, aber auch Teil der Lösung bin. Wenn wir uns dann zusammenschließen, um über so wichtige Themen unserer Zeit zu sprechen, können wir etwas bewirken. Solche Gruppen sind wie Akupunkturnadeln auf dieser Erde. Viele kleine Nadeln bringen eine Gesamtwirkung hervor und so sind Frieden und Heilung möglich.

Sylvia Kolk

Sylvia Kolk ist seit 20 Jahren buddhistische Meditationslehrerin. 2004 gründete sie Hamburg das Buddhistische Stadt-Zentrum Liebe-Kraft-Weisheit. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Entwicklung und Weitergabe eines zeitgemäßen Buddhismus. Mehr Information: www.Sylvia-Kolk.de

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