Kant als Friedensbringer

UN Photos/ Manuel Elias
Kant war ein Vordenker des Völkerrechts |
UN Photos/ Manuel Elias

Das Erbe Kants, Teil 1

Der Philosoph Immanuel Kant prägt unsere Gesellschaft bis heute. Peter Vollbrecht schreibt über Kant als Friedensbringer: Vordenker des Völkerrechts und der Vereinten Nationen und Moralist, der individuelles Handeln und Gemeinwohl vereint. Auch in der Philosophie versuchte Kant zu vermitteln, etwa zwischen Empirismus und Rationalismus. Ein Überblick.

Die Menschheit ist sich so uneinig wie selten zuvor. Kriege wüten an vielen Orten. Der Ungeist der Spaltung zerrüttet die Gesellschaften und appelliert hämisch auf den sozialen Netzwerken an die niederen Gefühle.

Dabei wäre im Blick auf die ökologischen, ökonomischen und technologischen Herausforderungen nichts wichtiger als ein großes weltzivilisatorisches ›Wir‹. Darauf richteten sich alle philosophischen Leidenschaften Immanuel Kants, wichtigster und einflussreichster Denker seit der Antike, vor 300 Jahren am 22. April 1724 in Königsberg geboren.

Kant hat tiefe Spuren in unserem menschlichen und politischen Selbstverständnis hinterlassen. Manche seiner philosophischen Erbschaften sind ethisches Allgemeingut und rechtliche Praxis geworden.

Andere hingegen wie die Visionen eines republikanischen Zeitalters, eines umfassenden Weltfriedens oder eines freiheitlichen Lebens, in dem sich die Talente der Menschen optimal entfalten können, stehen noch aus. Gerade im Zeitalter der ›Multikrisen‹ gilt es, Kants Erbschaften immer wieder erneut zu sichten und zu bergen, um zukunftsfähig zu bleiben – oder es allererst zu werden.

Der Friedensbringer in Politik und Ethik

Wie ein roter Faden zieht sich der Geist des Friedens durch das Lebenswerk Kants. Sein prominentester Beitrag ist gewiss die Absicherung des Völkerrechts durch einen den Frieden stabilisierenden und überwachenden Völkerbund.

Ihn hatte Kant in seiner 1795 erschienenen Schrift Zum Ewigen Frieden in die Friedensdiskussion seiner Zeit eingebracht. 125 Jahre später wurde dann 1920 der Völkerbund unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Kants Konzept in Genf gegründet.

Es bedurfte erst der historischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit 17 Millionen Toten, um die »Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken läßt«, durch internationales Recht zu domestizieren.

Die Rechtskreise Verfassungsrecht und Völkerrecht krönte Kant mit einer originalen Eigenerfindung, dem Weltbürgerrecht. Dies sichert den Individuen ein weltweites freies Besuchsrecht zu und kann in seiner Formulierung sogar als Vorläufer für das Asylrecht gelten.

Ein Friedensbringer ist Kant aber nicht nur in der politischen Philosophie. Auch die Moralphilosophie atmet diesen Geist in der berühmten Formel des Kategorischen Imperativs: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«.

Das Handeln soll sich an verallgemeinerbaren Prinzipien ausrichten

Ohne auf die Subtilitäten der Formulierung einzugehen kann man doch festhalten, dass Kant das ethische Handeln auf ein Feintuning von individuellem Handeln und Gemeinwohl justiert. Mein subjektives Wollen soll sich an verallgemeinerbaren Prinzipien ausrichten können.

Zudem, das ist ein wenig verborgen, man muss es aus der Formel herausschälen wie eine Perle aus einer Muschel: Es geht auch darum, ob man vernünftigerweise eine Welt wollen kann, in der meine handlungsleitenden Maximen allgemeine Praxis sind.
Kants Standardbeispiel ist das Lügen, und die dazugehörige Maxime lautet: ›Immer wenn mir ein Vorteil winkt, bin ich bereit zu lügen‹.

Nein, eine allgemeine Lügenpraxis kann meine Vernunft nicht wollen, weil ich mich in einer Welt der Lügen von Täuschungen umstellt sehen müsste und folglich jegliches Vertrauen verlöre, kurzum: eine Welt der Lügen wäre keine friedliche Welt.

Der Friedensbringer für philosophische Positionen

Ein Friedensbringer ist Kant aber auch in den großen weltanschaulichen Debatten der theoretischen Philosophie. Kant hatte sich, bevor er sich daransetzte, sein philosophisches System zu bauen, jahrzehntelang durch das Schrifttum seiner Zeit gelesen.

Dabei machte er eine Erfahrung, die jeder und jede von uns gewiss schon mehrfach gemacht hat, wenn die Argumente kreuzen: Selten ist eine Position durch die Bank falsch. Zumeist ist immer etwas daran. Nur: man müsste es anders einordnen, damit es stimmt.

Und genau das tat Kant. Er arbeitete das Richtige an den sich widerstreitenden Positionen heraus und überlegte dann, wie sie miteinander bestehen könnten. Dazu suchte Kant einen übergeordneten theoretischen Standort, von dem aus jede der Positionen für sich in ihrem Geltungsradius begrenzt wird, so dass sie sinnvoll und stringent behauptet werden können, ohne sich gegenseitig zu bekämpfen.

Mittelweg zwischen Rationalismus und Empirismus

Eine Hauptkontroverse zu Kants Zeiten war die zwischen den englischen Empiristen und den kontinentaleuropäischen Rationalisten. David Hume (1711-1776) etwa auf der einen Seite und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) auf der anderen.

Die Empiristen meinten, alles Wissen entstamme der Erfahrung. Wir kämen gleichsam als tabula rasa auf die Welt, als »ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier, ohne irgendwelche Vorstellungen«, wie es der englische Aufklärer John Locke (1632-1704) formulierte. Die Rationalisten konterten: Es gebe angeborene Ideen, die ein »menschliches Gedankenalphabet« (Leibniz) bilden, das seine entscheidende Rolle spielt im Erkenntnisprozess.

Kant vermittelte beide Positionen: Die Empiristen hätten Recht, weil alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfange. Unser weltorientierender Verstand benötigt empirisches Futter. Die Rationalisten aber hätten ebenfalls Recht, denn nicht alle Erkenntnis entspringe der Erfahrung. Es gebe da Grundstrukturen unseres Denkens, mit denen wir das empirische Material interpretieren, das uns unsere Sinne bereitstellen. Mit unseren Sinnesorganen rezipieren wir die empirische Welt, mit Verstand und Vernunft strukturieren wir sie.

Und so steht ganz unerwartet der Mensch im Zentrum des Erkenntnisprozesses. Es ist nicht so, dass sich dabei Welt in uns abbildet wie auf einer Fotoplatte, nein, wir prägen uns in die Weltphänomene hinein. Kant bezeichnete diesen Schwenk im Bezugssystem seine Kopernikanische Wende: die Dinge kreisen um uns und nicht wir um die Dinge.

Vermittlung als Friedenswerk

Kant adressiert sein Friedensangebot nicht nur an Rationalismus und Empirismus, sondern an eine ganze Reihe ähnlich tiefer Kontroversen, die die philosophischen Landschaften durchfurchen – bis heute übrigens:

Erkenntnisfortschritte sind Resultate von harten Auseinandersetzungen, nicht aber von weichen Harmonien. Gleichwohl benötigt ebendieser Erkenntnisfortschritt auch steter Vermittlung von Positionen.

Und genau das leisten Kants Friedensangebote. Sie bieten nämlich keinesfalls einen Kompromiss an wie das etwa Strategie ist im politischen Handeln. Der Kompromiss ist eine Mitte zwischen einem Mehr und einem Weniger, die den Konflikt nur temporär einhegt. Bei nächster Gelegenheit kann er wieder aufflammen.

Die philosophische Vermittlung dagegen betritt Neuland, sie offeriert ein höheres Theorieniveau, von dem aus – idealerweise – der Konflikt gelöst werden kann.

Die Transzendentalphilosophie fragt nach Quellen und Grenzen der Erkenntnis

Die Transzendentalphilosophie stellt grundlegend die Frage nach den Quellen wie nach den Grenzen unserer Erkenntnis oder, in spröder Kantischer Formulierung, die »Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis«. Der Erkenntnis ihre Quellen und Grenzen aufzuzeigen ist schon deshalb ein ambitioniertes Unternehmen, weil der Nachweis wiederum nur durch Erkenntnis möglich ist. Transzendentalphilosophie kreist demnach um sich selbst, sie ist – auf einen missverständlichen, weil in anderen Kontexten heimischen Begriff gebracht – Selbsterkenntnis.

Sich selbst zum Thema machen zu können, das ist für Kant ausschließlich die Leistung der Vernunft, nicht aber des Verstandes. Nur die Vernunft ist in der Lage, den Erkenntnisprozess auf seinen Anfang und sein Ende, auf Ursprünge, Verlauf und Grenzsteine zu analysieren.

Um zunächst bei den Quellen zu bleiben: Erkenntnis setzt sich für Kant stets aus zwei Strängen zusammen. Die Organe unserer sinnlichen Wahrnehmung überweisen Sinnesdaten an den Verstand, der sie zu Anschauungen, Vorstellungen und Erkenntnisurteilen verarbeitet.

Dabei präsentiert uns unsere Sinnlichkeit die Welt in Raum und Zeit, unser Verstand strukturiert unsere empirische Weltbeobachtung mit einem begrifflichen Werkzeugkasten, den wir nicht der Erfahrung entlehnt haben, sondern den wir als ›Begriffsalphabet‹ an alle Erfahrung herantragen.

Mit dem Rückgang auf die Erkenntnisquellen versucht Kant, der Erkenntnis eine tragfähige Basis zu verschaffen, um die philosophischen Kontroversen möglichst ein für allemal zu entscheiden.

Neuere Erkenntnisse in der Physik, der Evolutionsbiologie und der Mathematik haben Kants Fundamente erschüttert. Doch für Kants Friedenswerk haben die Grenzsteine der Erkenntnis ohnehin eine größere Relevanz, denn ideologische Auseinandersetzungen entzünden sich eher an Fernhorizonten als an den naheliegenden Dingen. An weltanschaulichen Überzeugungen, an sittlichen Einstellungen und an religiösen Empfindsamkeiten. Dort liegen Kants Vermächtnisse von bleibendem Interesse für eine Menschheit.

Foto: privat

Peter Vollbrecht gründete nach seinem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft das ‚Philosophische Forum Esslingen‘. Seitdem philosophische Reisen in Europa und Südasien, Kooperation mit „Die Zeit“. Das philosophische Programm auf www.philosophisches-forum.de

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