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Mehr als eine Perspektive einnehmen

Duy Pham/ Unsplash
Duy Pham/ Unsplash

Über die Chancen und Gefahren der Empathie

Empathie bedeutet zu fühlen, was ein anderer fühlt. Sie ist die Basis für unser soziales Leben. In Krisenzeiten kann zu viel Empathie auch überfordern oder zu Spaltung führen. Geseko von Lüpke sprach mit Wissenschaftlern über die Ambivalenz der Empathie und wie man ein offenes Herz mit kritischer Distanz verbindet.

Die Fähigkeit, sich in etwas außerhalb seiner Selbst hineinzuversetzen, scheint im Menschen, ja vielleicht in allem Leben angelegt zu sein. Es ist, als erlebten wir das Fühlen eines anderen Wesens mit: Not, Freude, Glück und Schmerz.

Begriffsgeschichtlich vom altgriechischen empatheia abgeleitet, fand der Begriff der Empathie durch den Philosophen Hermann Lotze im 19. Jahrhundert als ‘Einfühlung in das Innere der Psyche’ Eingang in die deutsche Sprache. Lange Zeit als ‘Gefühlduselei’ und theologisches Konstrukt nicht ernst genommen, begann die Erforschung der Empathie eigentlich erst in der Neuzeit. Einer der Pioniere, der Arzt, Neurologe und Autor Joachim Bauer, definiert Empathie so:

“Empathie hat eine emotionale, intuitive Seite, dass wir ganz ohne nachzudenken fühlen, was jemand anderes fühlt. Empathie hat aber auch eine intellektuell-kognitive Seite, dass wir uns ganz bewusst über die Motive unseres Gegenübers Gedanken machen können. Mitgefühl ist ein Teil der Empathie; die bewusste Perspektive des anderen zu begreifen, ist der zweite Teil der Empathie.”

Der empathische Mensch lebt in mehreren Leben

Doch die komplexe Welt aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig wahrzunehmen – wie in Picassos kubistischen Bildern –, war nie einfach. Empathie fordert die Fähigkeit zu mehr als einer Wirklichkeit.

Der empathische Mensch lebt in mehreren Leben. Aber er muss umgehen können mit dem ‘intuitiven Mitfühlen’, das ihn auch überschwemmen kann. Grundsätzlich gilt: Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung – je offener eine Person für ihre eigenen Gefühle ist, desto mehr kann sie die Gefühle anderer differenziert und nüchtern in sich wahrnehmen und deuten.

Irmela Neu, bis vor kurzem Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der Hochschule München und Trainerin für ‘Empathische Kommunikation’, spricht deshalb von ‘Selbst-Empathie’:

“Es ist ein Reden, Sich-verhalten aus einem offenen Herzen im Hinblick auf Mitgefühl. Und zwar sowohl für mich selbst als auch für andere. Ich fühle etwas sowohl mit mir als auch mit anderen Menschen in der Kommunikation.

Das setzt auch voraus, dass ich in der Lage bin, mich selber zu managen, also meine Gefühle einfach auch erst mal kennenlernen und dann auch zu wissen, welche Gefühle ich jetzt nach außen bringen möchte.”

Für manche Forscherinnen und Forscher sind die inneren psychischen Antennen, mit denen wir resonant auf unsere Mitmenschen und die Umwelt reagieren können, seit Urzeiten sogar der eigentliche biologische Vorteil der Gattung homo sapiens. Ermöglichten sie doch ein feines Gleichgewicht zwischen Anpassung an wechselnde Umgebungen und eine Kooperation untereinander.

Je mehr Empathie, um so größer ist der Schmerz.

Doch die Gefühle sind nicht selten überfordert in einer Welt der Krisen. Was tun mit dem offenen Herzen, wenn die Nachrichten Krieg und Massengräber frei Haus liefern? Wie mitfühlend reagieren, angesichts des toten syrischen Kindes am Mittelmeerstrand? Angesichts brennender Wälder, Eisbären auf schmelzendem Eis, kollabierenden Ökosystemen. Je offener die Sinne, desto größer der mitfühlende Schmerz.

Da steht für viele die Frage im Raum: Wie kann man empathisch sein, ohne verrückt zu werden? Oder lautet die Lösung: Wegschauen, leugnen, dichtmachen und die Beziehung zur Welt verweigern?

Tatsächlich haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass die Empathie zwischen Menschen in den letzten Jahrzehnten tendenziell abgenommen hat – auch begünstigt durch die Zunahme digitaler Kommunikation, wachsende soziale Spannungen, vermehrte Konkurrenz untereinander.

Dabei ist die Empathie Grundvoraussetzung für den sozialen Frieden, für Demokratie, für gesellschaft-lichen Konsens, für menschliche Gemeinschaft, sagt der Religionswissenschaftler Michael v. Brück:

“Der homo sapiens, der Mensch, handelt durch Werte, durch Überlegung, durch ein rationales System vermittelt. Und genau das ist bei der Empathie der Fall. Er kann dieses Handeln nur verwirklichen in Gemeinschaft. Wir haben also immer beides: individuelle Entwicklung und Gemeinschaftsentwicklung. Es funktioniert nur in Gemeinschaft, Menschen können nur in Gruppen überleben. Aber sie möchten gleichzeitig Individuen sein. Wollen aber auch zugehören und müssen zugehören, zu einer Gemeinschaft. Das ist die – sagen wir mal – biologisch-soziologische Grundlage der Empathie.”

Fühlen, was die Erde fühlt?

Angesichts der aktuellen Krisen stellt sich da für manche die Frage, ob viele alten Kulturen über Jahrtausende deshalb nachhaltig und im Einklang mit der Umwelt leben konnten, weil die empathische Verbundenheit auch ihre Beziehung zur Natur prägte?

Joachim Bauer ist davon überzeugt, dass die ökologische Krise durch den kontinuierlichen Verlust einer empathischen Verbundenheit zur Mitwelt entstanden ist. Und bezieht sich auf Forschungsergebnisse:

“Die Empathie zu uns selbst und zu Unseresgleichen hängt tatsächlich zusammen mit der Empathie für die ökologisch bewahrte Erde. Dazu gibt es empirische Forschung, die zeigt, dass Menschen, die sich um eine ökologische Beziehung zur Erde bemühen, tatsächlich auch ein höheres Maß an zwischenmenschlicher Empathie zeigen und umgekehrt.”

Kann der Mensch tatsächlich ‘fühlen, was die Erde fühlt’? Gerät er in psychische Not, weil die Erde als sein größerer Körper im Klimawandel fiebert? Ist die Trennung zwischen Mensch und Natur nur eine Täuschung?

Das Prinzip Fürsorge auf alles ausdehnen, was lebt

Der Kosmologe und Philosoph Harald Lesch von der Universität München schließt zumindest nicht aus, dass die Jahrmilliarden der Evolution Kosmos, Natur und Mensch zu einer kaum trennbaren Einheit gemacht haben, die letztlich im homo sapiens zum Ausdruck kommt:

“Wir bestehen zu 92 Prozent aus Sternenstaub. Und so ist es in der Tat so, dass unglaublich viele Sterne sterben mussten, damit wir uns hier drüber unterhalten können. Insofern ist das Gehirn das Resultat von 15 Milliarden Jahren Entwicklung. So sollte man, wenn man zum Himmel schaut, doch immer mal wieder bedenken, das alles was da ist, im Prinzip dazu geführt hat, das man es sich anschauen kann. Du lieber Gott: Wir gehören zu den ganz wenigen Augen im Universum!”

Manche Theologen werden da noch eindeutiger, zum Beispiel Leonardo Boff, der brasilianische Befreiungstheologe und in Sachen Ökologie und Schöpfung Berater von Papst Franziskus. Er ist davon überzeugt, dass die christliche Fürsorge und Barmherzigkeit längst nicht mehr nur Arme und Kranke meinen darf, sondern das Leben an sich, also Tiere, Pflanzen, Ökosysteme.

Als ihm 2001 der alternative Nobelpreis verliehen wurde, formulierte er in seiner Dankesrede diese christliche Position wie ein ökologisches Manifest: “Nicht nur die Armen schreien um Hilfe, sondern auch das Wasser, die Tiere, die Wälder, die Böden, die Erde als lebendiger Organismus. Die Erde selbst braucht heute Befreiung.

Wenn wir die Biosphäre retten wollen, müssen wir das Prinzip der Fürsorge auf alles, was ist und lebt, ausdehnen. Denn die Erde und die Menschheit bilden zusammen eine Wirklichkeit. In der Tat sind wir Menschen die Erde selbst. Wir sind die Erde, die fühlt, die denkt, die liebt und verehrt. Wir haben den gleichen Ursprung und die gleiche Bestimmung wie sie.”

Grenzen der Empathie

Heute ist es die moderne Gehirnforschung, die diesen Impuls aufgreift. Der Neurologe Joachim Bauer fordert sagt dazu: “Wir sind ja Kinder der Evolution. Wir repräsentieren die Welt auf eine bestimmte Weise in unserem Gehirn. Dass wir das können, ist Ausdruck des großen Naturgeschehens, dessen Teil wir sind. Alles, was wir denken, aber eben auch alles, was wir fühlen, ist Ausdruck einer großen Gesamtheit.”

Das große Potenzial der Empathie wird von manchen allerdings auch skeptisch gesehen Fritz Breithaupt, deutscher Kognitionswissenschaftler an der US-Universität von Virginia, warnt davor, die menschliche Fähigkeit zur Empathie zu idealisieren:

“Nun ist unsere Fähigkeit der Empathie auf Menschen konzentriert. Es ist schwierig, Empathie mit der Erde zu haben. Wir müssen sie uns schon vorstellen, wie ‘Mutter Erde’. Wir müssen sie vermenschlichen und damit natürlich auch missverstehen.

Wir kommen an unsere Grenzen. Wir kümmern uns um einen einzelnen Menschen, aber nicht um 10.000 andere. Wir kümmern uns um den Baum im Garten, da können wir durchaus Empathie empfinden. Aber der Wald weiter weg, das wird schwierig.”

Breithaupt warnt vor einem Missbrauch der Empathie: “Empathie hat in der Tat eine Reihe von Schattenseiten. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass wir uns in Konfliktsituationen sehr schnell in die eine Seite einfühlen und die gesamte Situation dann aus dieser Perspektive wahrnehmen. Damit verstärken wir den Konflikt.

Empathie kann auf viele Art und Weisen manipuliert werden. Wir können in Position von anderen Menschen hineingezogen werden, wir können uns verlieren in anderen Menschen. Wer sich als Leidender präsentiert, der zieht Empathie auf sich.

Im schönsten Sinne tun das Romane und auch die Filme, in die wir hineintauchen können. Aber das tun auch die Menschen mit ihren Narrativen. Das tun die Politiker. Das passiert auch in Firmen, das passiert im Privatleben, überall.”

Empathie braucht ein offenes Herz und kritische Distanz

Das Phänomen der Empathie und ihre nun entdeckten neurologischen Grundlagen ist also nichts per se Gutes, Schönes, Wertvolles. Aus ihm kann Freundschaft, Liebe, Frieden wachsen, vielleicht sogar eine neue Beziehung zur Erde. Aber auch ideologische Verblendung, Spaltung und Radikalisierung.

Empathie scheint damit wie ein biologisches Werkzeug, dessen Nutzung gelernt und mit Achtsamkeit angewendet werden will. Und es braucht Bewusstheit, Reflexion der Gefühle, ein offenes Herz mit kritischer Distanz.

Der Soziologe Hartmut Rosa zeichnet das Bild einer erhofften resonanten Welt, die nur mit Empathie – aber nie ohne sie – möglich ist: “Also ich habe eine Vision: Es müsste tatsächlich wieder so etwas wie ein Gemeinwohl-Sinn entstehen. Dass wir das Gefühl haben, wir als zusammen lebende Menschen – wir in dem Dorf, in dem Land, in Europa und der Welt – realisieren zusammen eine Lebensform: Nämlich ein resonantes Natur-Verhältnis, eine lebendige Beziehung.”

 

Dr. Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.

Der Autor dankt Prof. Irmala Neu (München) für die korrekte Übersetzung aus dem Spanischen, Alan Ereira (London) für die Genehmigung, Zitate aus dem Film ‘Aluna’ und Lucas Buchholz, Zitate aus seinem Buch zu verwenden

Tipps zum Weiterlesen:

Bauer, Joachim: Fühlen, was die Welt fühlt. Die Bedeutung der Empathie für das Überleben von Menschheit und Natur. München, Blessing-Verlag 2021

Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was Du fühlst. Das Geheimnis der Spiegelneuronen, München, Heyne-Verlag 2006

Breitkopf, Fritz: Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin, Suhrkamp-Verlag, 2017

Brück, Michael v. & Ulrike Anderssen-Reuter: Buddhistische Basics für Psychotherapeuten, Stuttgart, Schattauer-Verlag 2022

Neu, Irmela: Empathy and the Art of Transcultural Communication, in: Weber, Barbara: The Politics of Empathy. New interdicsiplinary Research on an Ancient Phenomena, Münster, LIT.Verlag, 2011

Rizzolatti, Giacomo: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls. Edition unseld 2008

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