Über das Tauschmobil in Berlin
„Mal wirklich etwas ins Rollen bringen“, wollte Gabi Rimmele, und gründete in Berlin das Tauschmobil: Jeder kann hier Altes abgegeben und neu Entdecktes kostenlos mitnehmen. Gerümpel wird so zu Geliebtem und Ressourcenschonung eine freudige Angelegenheit.
Der kleine Paketwagen, der jeden Samstag auf einem Berliner Kiezmarkt in der Seelower Straße steht, scheint ein magisch-magnetischer Ort zu sein. Es herrscht ein Kommen und Gehen – junge und alte, große und kleine Menschen klettern in den Wagen oder umstreifen die Tische und Kisten, die davor aufgebaut sind. Man könnte meinen, dies sei ein Flohmarkt – schließlich wehen an den Kleiderstangen die Schals im Wind und unter dem Büchertisch reihen sich Schuhe und Taschen. Aber etwas ist anders: zu viele freudestrahlende Gesichter, zu lockere Gespräche und zu fröhliches Lachen für einen normalen Verkaufsstand.
Seltsam ist auch, dass immer wieder vollgepackte Tüten gebracht werden, deren Inhalt ruckzuck in das Innere des Paketwagens geräumt wird. „Oh, das ist Sisyphusarbeit“, stöhnt Gabi Rimmele mit einem Lachen in den Augen und erklärt im nächsten Satz einer Passantin, die sich fragend umblickt: „Einfach mitnehmen! Und vielleicht irgendwann etwas anderes dafür zurückbringen!“ Das Tauschmobil hat der jungen Frau soeben eine feine Ledertasche geschenkt. Während sie strahlend weiterläuft, kommt ein junges Paar an und packt einen Rucksack voller Küchenutensilien aus. Ständig wird hier abgegeben und mitgenommen, losgelassen und neu entdeckt.
„Im Vordergrund stand für mich die Idee, materielle Ressourcen zu nutzen, statt sie vergammeln zu lassen“, erklärt Rimmele. „Im Schrank werden die Dinge zu Gerümpel – sobald jemand sie verwendet, sind sie wieder wertvoll.“ Vor diesem Hintergrund ist das Tauschmobil – anders als viele Flohmärkte und Second-Hand-Läden – explizit eine Vermittlungsagentur für geliebte Dinge. „Es geht hier nicht darum, noch Profit aus dem Wert der Sachen zu machen, sondern darum, die Freude daran weiterzugeben“, erzählt Rimmeles Nichte Sigrun Wetzel, die sich zum Kreis der vielen freiwilligen Helferinnen zählt.
Und sie ergänzt: „Die Reaktion der Leute ist so genial, wenn man ihnen sagt, dass sie hier einfach etwas mitnehmen dürfen.“ Oft hat auch der Zufall seine Finger im Spiel: Rimmele erinnert sich beispielsweise an eine Familie, der ein schöner Kinderkreisel im Laden zu teuer war – und genau diesen entdeckten sie eine Stunde später im Vorübergehen vor dem Tauschmobil.
„Ausmisten ist Übungssache“
Im Inneren des Wagens füllen allerlei Gegenstände die Paketablagen: Plastiksonnenblumen, ein Gummischlauchboot mit Blasebalg, Seidengardinen, ein Bügeleisen, Klassikschallplatten. „Carlotta interessiert sich gerade für Kühe“, erklärt eine Mutter die Begeisterung ihrer kleinen Tochter über ein Porzellantierchen. Draußen probiert ein älteres Ehepaar Jacken an. Rimmeles Richtlinie zum Mitnehmen von Dingen lautet: eine Tüte maximal. „Bei vielen weckt das Tauschmobil schon erst einmal die eigene Gier, denn es ist ja alles kostenlos. Den meisten wird das aber dann bewusst, sie reflektieren und fragen sich: Was brauche ich wirklich?“
Rimmele, die sich privat schon seit langem die Frage nach den Bedingungen eines „guten Lebens“ stellt, kennt sich auch als professionelle Entrümpelungsberaterin mit den Fallstricken des Materiellen aus. Ausmisten sei unter anderem auch Übungssache, sagt sie, denn es gehe immer wieder darum, das richtige Maß zwischen Überfluss und Mangel zu finden. „Im Tauschmobil kriegen die Leute wieder ein Gefühl für eine gute Mitte. Wenn ihnen etwas geschenkt wird, kommt auch ganz schnell die Frage auf: Was gebe ich dafür wieder zurück?“
Auch sie selbst hatte es irgendwann satt, immer nur Konsumentin guter Ideen zu sein: „Ich war bei Workshops und Kongressen und habe zu allen Aussagen der Postwachstumsökonomen genickt, bin aber danach nie selbst aktiv geworden.“ Das änderte sich nach dem taz.lab zum Thema „Das gute Leben“ im Jahr 2012. Anstatt ihre Teilzeitstelle aufzustocken, wie sie es vorgehabt hatte, kam ihr eine ganz andere Idee: „Ich saß beim Frühstück und dachte mir: Ich will mal wirklich etwas ins Rollen bringen. Ich mache einen Tauschladen auf – oder noch besser: ein rollendes Tauschmobil auf dem Markt!“
Sechs Wochen trug Rimmele die Idee mit sich herum, erzählte Freunden und Bekannten davon und freute sich über die positive Resonanz. „Dann wusste ich: Jetzt musst du das auch wirklich machen, sonst wird es nichts.“ Also schrieb sie ein zweiseitiges Konzept und schickte es an den Leiter des Kiezmarktes mit der Bitte um einen kostenfreien Stellplatz.
Es geht auch um sozialen Kontakt und Respekt
„Ich stehe heute exakt an der Stelle, die ich mir in dem Moment vorgestellt habe“, strahlt sie. Denn nach dieser ersten Zusage konnten sie weder die langwierige Suche nach einem passenden Paketwagen, noch die hohen Instandhaltungskosten von ihrer Idee abbringen. „Das Schwierigste an dem Projekt war für mich, um Hilfe zu bitten. Mittlerweile habe ich viele Menschen um mich, die spontan einspringen oder jede Woche da sind. Das ist eigentlich das Geben und Nehmen der schönsten Art“, erklärt sie.
Denn im Tauschmobil geht es nicht nur um materielle Kreisläufe, sondern auch um sozialen Kontakt, Respekt und Achtung vor den Menschen und Dingen. „Man lernt hier, seine Bewertungen und die Haltung gegenüber dem zu ändern, was einem begegnet: Hier darf ganz viel Unterschiedlichkeit herrschen – was mir nicht gefällt, gefällt jemand anderem!“
Doch natürlich schwemmt der Fluss der Dinge nicht nur Schönes und Brauchbares an. Obwohl im Großen und Ganzen überraschend wenig liegen bleibt, muss Rimmele regelmäßig aussortieren. Bücher bringt sie zum Berliner Büchertisch, Kaputtes nehmen Künstlerinnen als Arbeitsmaterial mit; ein sehr kleiner Teil wandert in den Hausmüll. Nur der Überfluss an Kleidung bereitet ihr wirklich Sorgen: „Sogar die Kleiderkammern und Flüchtlingswohnheime nehmen manchmal nichts mehr an, weil sie schon zu viel davon haben.“
Jeden Samstag durchströmen 200 bis 300 Menschen das Tauschmobil – manche davon versorgen auch ihre Großfamilie oder den Freundeskreis mit Dingen aus dem magischen Fundus. Was nicht gefällt, kann schließlich einfach wieder zurückgebracht werden. „Manchmal kommen wir schon an unsere Grenzen“, erzählt Rimmele. Doch was von außen wie quälende Sisyphusarbeit wirkt, ist für die Dirigentin des Orchesters der Dinge immer noch eine Bereicherung: „Ich kriege total viel zurück von den Menschen. Ich habe jede Woche einen erfüllten Samstag.“
Dass das Tauschmobil tatsächlich Menschen und Dinge glücklich zusammenwürfelt, sei zum Abschluss mit einer Anekdote veranschaulicht: Als die Autorin, um für diese Geschichte zu recherchieren, am Büchertisch des Tauschmobils stand und durch ein paar alte Schinken mit Ledereinband blätterte, griff sie schließlich wahllos einen heraus: „Die Geschichte der Prostitution Band II“ aus dem Jahr 1923. Plötzlich stieß der Mann neben ihr – Lederjacke, langes Haar und Zigarette im Mundwinkel – einen überraschten Schrei aus. „Ah, geh! Genau vo dem hob i Band I und III dahoam – nur der zwoate hot mir gefählt! Wuilst du den?“ Sie gab das Buch gerne weiter, und die Begeisterung ihres Nachbarn über dieses Zufallsgeschenk beflügelte auch sie für den Rest des Tages. Mehr Infos: www.tauschmobil.de
Raffaela Then
Die Geschichte stellte uns FUTURZWEI. Stiftung Zukunfsfähigkeit zur Verfügung, die Geschichten des Gelingens sammelt und veröffentlicht. Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2017/18 ist jetzt im Buchhandel erhältlich!