Zu Besuch beim Leben
Wir tun uns schwer, Altes loszulassen. An Silvester machten sich der Autor und seine Frau auf zu einer Tour zu Freunden und Verwandten. Bei den spontanen Besuchen erfuhren sie, wie nah Leben und Tod beieinander liegen und wie es gelingen kann, sich mit dem zu verbinden, das sich Moment für Moment entfaltet.
Ein Tourist aus den USA besuchte den berühmten polnischen Rabbi Hofetz Chaim. Erstaunt sah er, dass der Rabbi nur in einem einfachen Zimmer voller Bücher wohnte. Das einzige Mobiliar waren ein Tisch und eine Bank.
„Rabbi, wo sind Ihre Möbel? fragt der Tourist.
„Wo sind Ihre?“ erwiderte Hofetz.
„Meine? Aber ich bin nur zu Besuch hier. Ich bin nur auf der Durchreise“, sagte der Amerikaner.
„Genau wie ich“, sagte der Rabbi.
(Anthony de Mello, Der Dieb im Wahrheitsladen, Freiburg 1997)
Übergänge fallen uns oft nicht leicht, gleichzeitig erinnern sie uns an das Geheimnis von allem Lebendigen. Immer zum Jahreswechsel begehen wir so einen Übergang. Es ist eigentlich erstaunlich, wie schwer wir uns sonst oft damit tun. Jeder und jede von uns kommt durch einen kaum begreiflichen Übergang auf die Welt.
Und schon vor der Geburt vollzieht sich mit der Zeugung ein spektakulärer Wandlungsprozess, der auf wundersame Weise Körper, Geist und Seele hervorbringt. Doch das ist ja nur der Anfang.
Alles, was wir Welt, Leben oder Wesen nennen, ist in einem beständigen Wandel begriffen, der Licht und Dunkel mit sich bringt. Schwierig wird es immer dann, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind und an Sicherheiten festhalten, die es so nicht gibt, oder uns selbst die Schuld dafür geben.
Die buddhistische Lehrerin Pema Chödrön schrieb in ihrem Buch “Geh an die Orte, die du fürchtest” (Freiburg 2021):
Ich bin dem Buddha für den Hinweis darauf dankbar, dass das, wogegen wir unser ganzes Leben lang ankämpfen, im Grunde eine ganz gewöhnliche Erfahrung ist. Im Leben geht es tatsächlich ständig auf und ab. Menschen und Situationen sind unvorhersehbar – wie alles andere auch. […] Ich bin wirklich dankbar, dass jemand die Wahrheit gesehen und uns aufgezeigt hat, dass wir diese Art von Schmerz nicht etwa erleiden, weil wir persönlich nicht fähig wären, die Dinge richtig zu machen.
Ein etwas anderer Jahreswechsel
Statt zum Jahreswechsel Freunde zu uns einzuladen, hatten meine Frau und ich Lust, uns dieses Mal einfach auf den Weg zu machen, um Freunden und Verwandten kurze Besuche abzustatten.
Meine Frau kaufte ein paar schöne Kerzen, schmückte sie mit einem kleinen Efeu-Kranz und gestaltete ein Kärtchen, auf dem wir „Lichte Zeiten für das neue Jahr“ wünschten. Und dann starteten wir eine kleine Besuchs-Tour, mit Bussen und zu Fuß.
Erste Station war schon am Nachmittag das Haus von Freunden, die wir leider viel zu selten trafen. Zwischen ihren beiden Töchtern klafft eine Lücke, die bis heute zu spüren ist. Die jüngere kam auf die Welt, etwa ein Jahr nachdem die Familie ihre dunkelste Stunde durchlitten hatte: die Schwester, die sie später nur von Fotos kennen würde, starb aus heiterem Himmel an einer Krankheit, die die Ärzte nicht heilen konnten.
Ihre zwei liebsten Freundinnen damals im Kindergarten hatten wir heute mit dabei: unsere eigene jüngste Tochter und ihre Freundin; sie wollten uns für diesen Besuch begleiten. Die zwei blieben unzertrennlich, als sie die dritte im Bunde auf so tragische Weise verloren.
Bei unserem Besuch nun schon elf Jahre nach diesem Drama sprachen wir nicht über sie, aber sie blieb gegenwärtig, auch wenn wir nur ein wenig plauderten. Wie würde sie heute aussehen? Würden die drei jungen Damen heute zusammen Silvester feiern? Warum musste sie so früh gehen, während wir die Verwandlung unserer Tochter in eine junge Frau miterleben dürfen?
Möge das neue Jahr leichter werden
Die nächste Station unserer Tour sollte der Friedhof sein, das Grab des Schwiegervaters noch frisch, das schlichte Holzkreuz mit einem Bildchen, das ihn lachend zeigt; die langjährige Demenzerkrankung hinterließ ihre Spuren und tauchte sein Gesicht in eine Melancholie, die sich im größeren Foto auf der Vitrine zeigt, das bei uns Zuhause an ihn erinnert. Ein langes Leben, und doch zu kurz für alle, die ihn schmerzlich vermissen.
Dann gint es zu Fuß weiter zu einer langjährigen Freundin meiner Frau, auch hier ein Überraschungsbesuch. Sie hatte gerade ihre sechzehnjährige Tochter mit Freundinnen beim Feiern, als wir in ihre große schöne offene Wohnküche unter dem Dach traten. Obwohl wir gar nicht lange blieben, gingen auch hier die Erinnerungen und Rückblicke auf die vergangenen Jahrzehnte tief: an den Vater, der vor über zwanzig Jahren die Familie verließ, aber auch an die eigene Lebensgeschichte, Tiefpunkte und Lichtblicke, Beziehungen, die zerbrachen, und auch hier der Verlust eines geliebten Menschen,die Trauer um die viel zu früh verstorbene Schwester. Sie hatte so lange mit einer Krebserkrankung gekämpft, die ihr selbst und ihren Angehörigen so viel abverlangte.
Als wir uns wieder verabschiedet hatten und auf dem Weg ins Elternhaus meiner Frau weiter durch das Dorf gingen, dachte ich: Hinter jedem dieser hell erleuchteten Fenster wohnen Freude und Leid, Menschen, die alle auf ihre ganz persönliche Weise Licht und Dunkel erfahren. Wärme und Kälte, Tatsachen des Lebens, für und gegen die es keine Medizin gibt.
Wir treffen die Mutter und den Bruder meiner Frau, der mit Familie im ausgebauten Elternhaus wohnt und stoßen alle zusammen auf das neue Jahr an, auch wenn es bis Mitternacht noch dauert. Das alte war zu schwer, um es noch einmal zu begehen, möge das neue leichter werden.
Sich mit dem Leben verbinden, das sich gerade entfaltet
Nicht nur die fortschreitende Erkrankung des (Groß)Vaters war emotional und organisatorisch belastend. Wie in vielen anderen Familien zeigten sich auch hier die Nachwirkungen der Pandemie: längere Krankenstände der Eltern schulpflichtiger Kinder, die ihrerseits zeitweise die Schule verweigerten und durch dunkle Phasen mussten, Mehrbelastung für den Partner, und nun die Schwägerin selbst, die in ein Burnout zu rutschen begann.
Wir stoßen an auf ein Jahr, das besser werden möge, plaudern einfach noch ein wenig, teilen ein paar Freuden und Sorgen. Als wir schließlich gehen, verabschieden wir uns noch einmal mit Umarmungen voller Verbundenheit und der Dankbarkeit für diese unvermutete Begegnung am Ende eines schwierigen Jahres.
Ein paar unscheinbare Besuche, und so klappern wir gefühlt das ganze Leben ab. Einmal im Jahr wünschen wir einander „einen guten Rutsch“, und verschweigen, dass der Boden jederzeit nachgeben kann.
Weicher und zärtlicher werden
Unser Leben kommt aus einem Geheimnis und kehrt in eines zurück – manchmal sanft, manchmal dramatisch. Und dazwischen bleibt es nicht weniger geheimnisvoll, auch wenn wir uns zwischendurch sicher und heimisch fühlen.
Anstatt uns an vermeintlichen Sicherheiten festzuhalten und um etwas zu kämpfen, das sich nicht gewinnen lässt, können wir uns erinnern, worauf es ankommt:
* Uns Moment für Moment mit dem Leben zu verbinden, wie es sich gerade entfaltet – ob in Freude, Trauer, Sehnsucht oder Erfüllung;
* Mitgefühl und Liebe zu entwickeln mit allen, die mit uns diesen Wimpernschlag in Raum und Zeit verbringen;
* uns in das größere Geheimnis zu bergen, während wir den Bewegungen unseres Herzens folgen, Träume erfüllen und Albträume erleben, während wir uns zur Blüte entfalten oder dabei sind, uns zu entlassen.
Das macht uns weicher, zarter und zärtlicher – zu uns selbst und zu allen anderen, die auf der Durchreise sind.
- Foto: privat
Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Seminar- und Retreatleiter und lebt in Österreich. Neben Achtsamkeit und Pädagogik ist einer seiner Schwerpunkte die interspirituelle Begegnung von moderner Achtsamkeitspraxis, zeitgenössischer Weisheitslehre und der Botschaft Jesu. Zu seiner Website