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Aufgeben gilt nicht

Foto: Kirsten Baumbusch
Foto: Kirsten Baumbusch

Resilienz und Lebensmut im Alter

„Mein Leben war keineswegs leicht“, sagt Ingrid Zundel, 87, die erst mit 75 promovierte. Kirsten Baumbusch stellt die agile Psychologin und Gerontologin vor. Selbstbestimmt leben, so viel wie möglich selbst machen – das ist das Geheimnis ihres Alterns. Mit sieben Tipps, damit der letzte Lebensabschnitt gelingt.

„Ich bin eine Finalistin“, sagt Ingrid Zundel, „ich denke die Dinge zu Ende“. Deshalb mache ihr auch der Tod keine Angst, betont die 87-Jährige. Ihre sterblichen Überreste möchte sie der Wissenschaft vermachen.

Die Berlinerin verfügt über eine Klarheit des Ausdrucks und des Denkens, die verblüffen. Und sprüht vor Energie, die nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Aus dem Körper allein, dem schon als Jugendliche der Rücken geschädigt wurde, der Hunger litt, der zwei Töchter geboren und viele Schicksalsschläge verkraftet hat, kommt diese Kraft nicht.

Aber der Geist von Zundel, die mit 75 Jahren ihren Doktortitel erwarb und ihn mit großem Stolz trägt, strahlt eine solche Jugendlichkeit aus, dass die Zahl ihrer Lebensjahre dahinter verschwindet. Alt kommt sie mir keine Sekunde vor.

Im sogenannten „Blauen Salon“ eines Heidelberger Seniorenstifts findet unser Gespräch statt. Es wird zu einem Parforceritt durch ihr Dasein. „Was für ein Leben!“ hat sie vor ein paar Jahren einen Beitrag für einen Schreibwettbewerb überschrieben. Was für ein Leben, denke auch ich, die 35 Jahre jüngere Frau, die sich beim Anblick dieser Lebensleistung klein vorkommt.

Und trotzdem verbindet uns viel. Dass wir uns als soziale Wesen begreifen und uns Beziehungen zu anderen Menschen so wichtig sind, aber auch, dass Materielles zunehmend weniger Raum einnimmt. Dass uns das Lachen nicht vergangen ist und wir manchmal über uns selbst den Kopf schütteln, ohne uns zu verdammen. Und dass wir bei aller Skepsis den Glauben an das Gute und Schöne nicht verloren haben.

Am Ende überreicht sie mir ein Manuskript mit ihrem Lebenslauf, das sie für ihre Trauerfeier verfasst hat. Wie einen Schatz trage ich es nach Hause, nicht ohne versprochen zu haben, dass ich den Text kopiere und das Original zurückschicke.

Enorme Widerstandskraft

„Mein Leben war keineswegs leicht zu nennen“, schreibt sie da. Gerade einmal 13 Jahre war Ingrid Zundel alt, als der „totale Krieg“ ausgerufen wurde und Berlin allmählich in Schutt und Asche versank. Ein Jahr später musste sie alleine für ihren siebenjährigen Bruder sorgen. Ob da schon ihr unbändiger Lebenswille entstanden ist, die Widerstandskraft gegen Schicksalsschläge, die andere umgeworfen hätten?

Spätestens aber wohl 1945, als die russische Armee die brandenburgische Kleinstadt, in der sie das Kriegsende erlebte, einnahm. Todesangst wurde ihr Begleiter. Das sollte sich nicht ändern, als sie dann mit den anderen Frauen und Mädchen zum Wiederaufbau des Flughafens Neuruppin herangezogen wurde. Ihr Rücken wurde so schwer geschädigt, dass sie mit 49 Jahren im Rollstuhl saß. Eine Operation half und ermöglichte ihr ein relativ beschwerdefreies Gehen bis sie 77 wurde.

Später holten die Eltern sie zurück ins zerbombte Berlin. Mit unbändiger Energie begann die junge Frau, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Schulabschluss, Lehrstätte für „höhere Töchter“, Büro-Ausbildung, nebenbei Ausbildung als Übersetzerin; die erste große Liebe und dann der Umzug nach Hamburg. Dort dann die Ehe mit einem Witwer, der 25 Jahre älter war, und Alkoholiker.

Die Ehe zerbrach, sie kehrte nach Berlin zurück. Eine Scheidung im Jahr 1957, als eine Frau dem Mann quasi noch gehörte, war ein Kraftakt ohnegleichen. Der Vater brüllte und beschuldigte sie der „gesellschaftlichen Unmöglichkeit“. Ohne Arbeitserlaubnis (die weigerte sich der Noch-Ehemann zu erteilen) arbeitete die Alleinerziehende schwarz, um sich und ihre Tochter durchzubringen.

Doch Bange machen galt nicht, eine eigene Wohnung, ein erster regulärer Halbtagsjob an der Uni, die Arbeit für den Nobelpreisträger Professor Max von Laue, danach verschiedene Tätigkeiten an der Freien Universität und schließlich der Beginn des eigenen Soziologiestudiums brachten ein wenig Stabilität.

Nun lernte sie ihren zweiten Mann kennen, acht Jahre jünger, ebenfalls Soziologiestudent, gelernter Fotograf, Bergsteiger. 1963 war die Heirat, vier Jahre später gebar sie ihre zweite Tochter, an ihrem eigenen 38. Geburtstag. Beide Eltern arbeiteten neben dem Studium.

Doch ihr Mann verlor seinen Job. Da entschloss sich Ingrid Zundel wieder ganz in die Vollbeschäftigung zurückzukehren, die eigenen akademischen Ambitionen erst einmal auf Eis zu legen. „So waren wir Frauen damals“, erklärt sie und ich denke mir, „so sind viele Frauen immer noch“. Sie selbst wurde Referentin in der Hochschulplanung. Die Zundels gehörten zum „Republikanischen Club“ in Berlin, trafen den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und seine damalige Frau. Die Töchter spielten im Garten von Günter Grass, eine kurze Zeit wohnte der kleine Sohn der späteren Terroristin Gudrun Ensslin bei ihnen.

Das eigene Altern begleiten

Nahe dem Rentenalter dann, sehr viel später – die Kinder waren aus dem Haus – entschloss sich Ingrid Zundel, den schon fast aufgegebenen Traum des abgeschlossenen Studiums doch noch Realität werden zu lassen. Psychologie mit Schwerpunkt Gerontologie sollte es sein. „Ich wollte mein eigenes Altern begleiten“, beschreibt das die Wissensdurstige. Ihr Ehemann starb mit 54 Jahren, ein Jahr nachdem sie das Studium aufgenommen hatte.

Fünf Jahre nach Studienbeginn erhielt sie ein Einser-Diplom. Titel der Arbeit: „Muster erfüllten Ruhestands“. 1996 dann ein Forschungsaufenthalt an der University of Massachusetts in Boston – endlich in den USA leben, auch das ein lange gehegter Wunsch, der sich nun erfüllen durfte.

Sie begann auch zu reisen: in Europa, Israel, Marokko, Russland, Kashmir/Nordindien, Lateinamerika. Anschließend setzte sie ihren Wunsch zur Promotion in die Tat um. In ihrer Arbeit beleuchtete sie neue Lebensentwürfe Älterer in Tauschsystemen – ein avantgardistisches und doch altes Thema, das in Zukunft an Bedeutung gewinnen dürfte.

Nun also lebt sie seit 16 Jahren in Heidelberg. Grund war die erhoffte Nähe zu den Enkelkindern, auch wenn sie sich nicht so ganz einstellen mochte. Aber auch in der Kurpfalz hört jemand wie diese Frau nicht auf, aktiv zu sein. Sie wird Freiwillige, schreibt die Lebensgeschichten von Mitbewohnern auf. Sie wurde im Heimbeirat aktiv, war neun Jahre Kirchenälteste und außerdem las und liest sie Einsamen und Blinden vor. Des weiteren erklärt Ingrid Zundel bundesweit auf Vorträgen, wie es denn gelingen könne, das Altern jenseits des Ruhestandes.

Selbstbestimmt altern

Es geht um Selbstbestimmung, so wie sie selbst es ein Leben lang vorgelebt hat. „Ich wehre mich dagegen, dass man alle Älteren in einen Topf wirft“, sagt sie. Ingrid Zundel ist es wichtig, dass Menschen mit ihrer ganzen Persönlichkeit wahrgenommen werden.

Sie weiß, dass die meisten ihrer Altersgenossen mit ihrer Behinderung sich längst schon im Rollstuhl fortbewegen würden. Doch Aufgeben gilt nicht, sie beißt die Zähne zusammen, erkämpft sich jedes Quäntchen Selbstbestimmung. „So viel wie möglich selbst machen“, lautet ihre Devise.

Über „erlernte Hilflosigkeit“ könnte sie lange Vorträge halten. Die promovierte Gerontologin appelliert an die Jüngeren, sich mit ihrem Altern auseinanderzusetzen, bevor es soweit ist. Selbstständig zu sein und zu bleiben, sei ein unglaublich wichtiges Gut. „Lebe wild und gefährlich“, so hat sie einmal ein Lebensmotto beschrieben. Ingrid Zundel lächelt spitzbübisch. Ab und an etwas zu riskieren, könne schließlich nicht schaden. Was ist noch wichtig, um gut zu altern? „Jüngere Freunde zu haben und sich für Andere zu engagieren“, das gebe dem Leben Sinn.

Als wir später zum Fotografieren in ihr Apartment gehen, das einer Studentenbude bis auf das hochfahrbare Bett und die grandiose Aussicht über das Rheintal verblüffend gleicht, entdecke ich eine Postkarte an einer Wand „Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“. Das kann für ein ganzes Leben gelten, unabhängig vom Alter.

Kirsten Baumbusch

Tipps von Ingrid Zundel für ein selbstbestimmtes Altern:

  • Einen Plan für das Altern machen und es als einen Aufbruch in einen neuen Zeitabschnitt betrachten.
  • Handeln ist ein wesentliches Bedürfnis des Menschen. Also seien Sie tätig.
  • Nehmen Sie am Leben teil, auch über die elektronischen Medien.
  • · Freiwilligenengagement ist gleichzeitig Selbstsorge. Aber achten Sie darauf, dass durch ihren Einsatz nicht bezahlte Arbeitsplätze vernichtet werden
  • Loslassen lernen: Materielles, Immaterielles und auch Menschen.
  • Trainieren Sie täglich Körper und Geist.
  • Seien Sie mutig und verlassen Sie ausgetretene Pfade – ohne Angst und Gewissensbisse.

Lesetipp: Ingrid Zundel: Ruhestand war gestern – anders altern, Rendiroma- Verlag 2016

Kirsten Baumbusch (Jahrgang 1965) ist Journalistin, Mediatorin und Coach in der Tradition der haltungsbasierten, humanistischen Psychologie. 2015 hat sie ein Sabbathjahr in Peru verbracht, jetzt lebt und arbeitet sie wieder in Heidelberg. Ihr Lebensthema ist Frieden – im Innen und im Außen. Kontakt: kirsten.baumbusch@online.de

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