Nachdenken über Tod und Leben
Der Tod ist eine existenzielle Erfahrung, auch für diejenigen, die Sterbende begleiten. Der ehemalige Palliativpfleger Mike Kauschke schildert in einem persönlichen Bericht, wie er den Tod als das Unverfügbare erlebte, etwas, das zutiefst mit dem Leben verbunden ist. Der Tod fragt, was wirklich wichtig ist.
Als ich als angehender Krankenpfleger das erste Mal das Zimmer eines Sterbenden betrat, war ich unsicher. Und wusste nicht, was ich sagen sollte. Spürte in der Präsenz des Menschen, in seinem Blick, dass oberflächliche Floskeln, halbherzige Tröstungen oder verlegene Ausflüchte nicht angemessen waren.
Da war ein Gefühl von Nacktheit, als wären alle schnell verfügbaren Reaktionen, gewohnten Aussagen abgefallen. Und ich war einfach nur da, mit diesem Menschen, der meine Unsicherheit spürte. Und mich ansah. Um diesem Blick standzuhalten, musste ich in mir eine Entspannung finden, in dem ein Loslassen des Wissens lag. Zu wissen, was ich jetzt sagen oder tun kann.
In dem Moment konnte ich einfach nur da sein, mit der Unsicherheit, dem Nichtwissen. So wie der Mann vor mir, der in der noch viel größeren Unsicherheit, dem Nichtwissen im Angesicht des Todes lebte.
Aber dann geschah etwas Magisches, ein Moment der Begegnung in diesem Raum der Unsicherheit, jenseits fester Identität, Trennung. In dieser geteilten Unsicherheit wurde etwas spürbar, etwas schien auf. Ein eigener Glanz. Etwas verband uns in dieser existenziellen Erfahrung.
Das Geschenk der Grenze
Nachdem ich den Mut gefasst hatte, mich neben den Mann zu setzen und einen Moment der Stille zu teilen, spürte ich, dass wir gemeinsam in etwas Größerem sind. Aufgehoben. Wie ein Horizont, dem wir beide entgegensehen, der aber auch in uns ist und wir in ihm.
Der Tod ist die äußerste Grenze des Lebens, über die wir nichts wissen können. Er ist das große Geheimnis, ein Abgrund ohne Fährte, ein absolut Unbekanntes. Und obwohl wir Menschen uns eine Art von Gewissheit, eine Art von Sicherheit, geben wollen – durch religiöse Vorstellungen, Berichte von Nahtoderfahrungen oder auch durch die Ansicht, dass mit dem physischen Tod alle Bewusstseinslichter ausgehen – der Tod bleibt das letztlich vollkommen Unverfügbare.
Diese Grenze des Lebens, die gleichzeitig die Grenze des Wissens ist, hat eine eigene Kraft. Wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst wie nackt sehen, entblößt von allen Zuschreibungen der eigenen Identität. Nichts, was wir erreicht haben, was wir besitzen, was wir zu wissen glauben, zählt dort.
In diesem Spiegel sehen wir nur, was wirklich wichtig ist. Wenn wir mit einem anderen Menschen in der Präsenz dieses Spiegels verweilen, fällt alles weg, was wir als Erwartung oder Enttäuschung mit diesem Menschen teilen.
Sichtbar wird, was uns verbindet: sterbliche Menschen zu sein. Dieser Spiegel, in dem wir das Wesentliche sehen, schaut auch auf uns. Es ist ein sehender Spiegel, so fühlt es sich an. Weil wir darin etwas oder jemandem begegnen. Uns etwas ruft, trägt, liebt. Aber wir werden nie wissen was. Und das ist wunderbar. Es ist das Geschenk des Todes, uns in dieses Licht der Existenz zu stellen, die mit grenzenloser Freundlichkeit fragt: Was ist wirklich wichtig? Was ist dir wirklich wichtig? Wir werden ins Herz unseres Lebens geführt, gestoßen, geschleudert.
Der Tod fragt auch die Gesellschaft: Was ist wichtig?
Das trifft nicht nur für unser individuelles Leben zu, sondern auch für das Leben, das wir miteinander teilen. Die Krisen, die wir gerade erleben, in denen so viel Sterben stattfindet, sind wie ein Spiegel, der uns als Gesellschaft, ja als Menschheit fragt: Was ist euch wirklich wichtig? Uns zusammen. Gemeinsam.
In einer Kultur zunehmender Erregung, Polarisierung und Verrohung, wo wir uns an unseren Unterschieden abarbeiten und einander bekämpfen, wäre ein Gewahrsein unserer gemeinsamen Grenze eine unglaubliche Heilkraft.
Wer hat es nicht schon erlebt, dass man in einer Beziehung zu einem Menschen genervt, enttäuscht, wütend sein kann. Aber ein Anruf genügt, und diese Beziehung erscheint in ganz neuem Licht.
Wenn uns der andere mitteilt, dass er sterbenskrank ist, wie von Grund auf verwandelt erscheint dann diese Beziehung? Inmitten von allem öffnet sich das Herz.
Was würden wir bereuen, wenn wir jetzt sterben?
Im Prozess des Sterbens wird uns alles, was wir zu sein und zu wissen glaubten, genommen. Und gleichzeitig tritt das Wesen des Menschen unverstellt hervor, wird spürbar. Spricht manchmal auch eine Wahrheit, die nicht begründet werden muss.
Der Tod verweist uns auf diesen Kern, dieses Herz unseres Wesens. Wenn wir alles loslassen, was sind wir dann? Was sehen wir dann? Vielleicht das Leben selbst.
Vielleicht ist der Spiegel, der uns mit dem Tod ansieht, das Leben selbst, das uns zu sich ruft. Uns nicht in dem zu verlieren, was uns trennt – von uns selbst, voneinander, von der Welt. Sondern zu spüren, dass wir als Leben inmitten von Leben teil von etwas so viel Größerem sind. Das wir spüren, erleben, aber nie wissen werden.
Wenn man Sterbende fragt, was sie in ihrem Leben bereuen, dann sagen sie häufig, dass sie mehr auf ihr Inneres gehört hätten und die Beziehungen zu geliebten Menschen stärker wertgeschätzt hätten. Echtheit und Liebe. Heute können wir uns alle fragen, was wir bereuen würden, wenn wir jetzt sterben. Als Einzelne, als Menschheit.
Der Tod ist die große Frage, die uns zu uns selbst zurückruft, zum Wahren, Schönen und Guten des Lebens: Wer willst du gewesen sein? Wer wollen wir gewesen sein? Diese Frage lebendig zu halten, brennen zu lassen, ohne sich je der Antwort sicher sein zu können, ist ein Geschenk des Todes, in dem uns das Leben anspricht, anruft:
Wenn wir nichts mehr wissen
Wissen wir was
Das Leben uns sagt
Hören wir?
Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer, Dialogbegleiter und Redaktionsleiter des Magazins evolve. Autor des Buches „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“. www.mike-kauschke.de
Das Magazin Evolve hat 2024 eine eigene Ausgabe gemacht zum Thema Leben, Tod und Transformation