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Das Unterwegssein zählt

Thanachai/ shutterstock.com
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Interview mit der Philosophin Ina Schmidt

Nicht das Ankommen, sondern das Unterwegssein zählt, weniger das Ziel, sondern die neugierige Suche danach, sagt die Philosophin Ina Schmidt. Im Interview spricht sie über Zielvorgaben, die am Leben vorbeigehen, das Glück des Suchens und wie wir den Tunnelblick überwinden.

 

 

 

Das Interview führte Birgit Stratmann

Frage: Ihr neues Buch (2017 erschienen) trägt den Titel „Das Ziel ist im Weg“. Es geht um Fragen, die sich jeder Mensch stellt: Wo stehe ich, was will ich erreichen? Wie soll es weitergehen? Was ist Ihr Ansatz, damit umzugehen?

Schmidt: Ja, in diesen Fragen erkennt sich, denke ich, jeder irgendwie wieder; mir begegnen sie zumindest regelmäßig. Mich interessieren in dem Buch aber weniger die Antworten als die Überlegung, warum wir uns immer wieder um diese Fragen drehen und wie wir das eigentlich tun.

Wenn man sich diese „Sinnfragen“ stellt, will man meist etwas verändern, etwas erreichen, etwas, das anders ist, als das, was ist. Allerdings fehlt mir in der Betrachtung von außen – und das ist dann der Zugang der Philosophie – zu oft die Bereitschaft, nach den Gründen dafür zu fragen.

Es gibt eine Flut von Ratgeberliteratur und Coaching-Angeboten zur Klärung von Lebenszielen. Warum greift das in Ihren Augen zu kurz?

Schmidt: Weil in vielen dieser Angebote der Begriff des „Ziels“ bzw. die Praxis des Suchens zu wenig thematisiert wird. Es wird angenommen, dass es besser ist, ein Ziel zu haben als keins, aber warum sollte das eigentlich so sein? Und woher weiß ich, dass mein Ziel wirklich ein „gutes“ ist?

Es gibt Menschen, die sich zum Ziel setzen, Andersdenkende zu bekehren, andere wollen „Profit“ um jeden Preis, junge Mädchen streben an, Topmodel zu werden. Sind das gute Ziele und wenn nicht – was wären die Alternativen?

Ina-SchmidtEs geht nicht darum, keine Ziele haben zu wollen. Der Mensch ist seinem Wesen nach auf Veränderung aus. Er versucht zu verbessern, zu erfinden, er sucht und hin und wieder findet er auch. Dabei ist es natürlich hilfreich, ein bestimmtes Ziel oder eine Idee vor Augen zu haben, aber darin sollten wir, wie es der Philosoph Richard Rorty sagt, „bekehrbar“ bleiben.

Oft stecken wir uns Ziele, und ehe wir uns versehen, sind wir im Tunnel. Wir sehen nur noch, wie wir diese auf schnellstmögliche Weise erreichen können, ohne nach rechts und links zu schauen. So aber funktioniert lebendige Entwicklung nicht, und oft genug stellen wir am Ende unserer Zielstrebigkeit fest, dass wir gern einen anderen Weg genommen hätten.

Ich versuche daher eher, die „Bestandsaufnahme“ in den Fokus zu rücken und im nächsten Schritt die „Praxis des Suchens“ neu zu bewerten. Es geht darum, „kompetent suchen“ zu können, am besten erst einmal nach den Zielen, die wirklich zu uns passen.

Abseits gewohnter Pfade andere Ziele entdecken

Sie schreiben, dass es darauf ankomme, unterwegs zu sein. Heißt das, dass sich Ziele auftun, wenn wir uns erst einmal auf die Suche gemacht haben?

Schmidt: Ja. Und die meisten von uns kennen diese Erfahrung. Oft geht es erst einmal darum, überhaupt in Bewegung zu kommen, eine andere Perspektive einzunehmen und vielleicht etwas anderes auszuprobieren. Im Urlaub oder auf Reisen, also abseits der gewohnten Pfade und „Zielvorgaben“, gelingt uns das oft besonders gut, aber dieser Weg geht schon beim Denken los und das geht auch sehr gut allein.

Auf dem Weg ergeben sich möglicherweise Etappenziele, oder wir schlagen eine andere Richtung ein, weil wir die Dinge weniger strategisch ansteuern.

Ist das, was Sie beschreiben, die Haltung, sich mehr vom Leben überraschen zu lassen?

Schmidt: Ja, das ist gemeint, aber in einem aktiven Sinn, also einem bewussten Umgang mit Überraschungen als Teil des Lebens. Also gerade nicht imSinne eines „Ich schau mal, was passiert“.

Die Philosophie ist an dieser Stelle eine hilfreiche Begleiterin. Ihr geht es nicht um ein letztes Ankommen und „Beantworten“, aber sie versucht, sich einer Antwort zu nähern. Sie richtet sich immer wieder neu in einer Frage ein und umkreist mögliche Antworten. Diese sind dann aber auch in ihrer Möglichkeit gut begründet.

Hierin liegt also eine geistige Suche, die durchaus anstrengend sein kann. Das Besondere daran ist aber, dass sie nicht darauf ausgerichtet ist, ständig in den Lauf der Dinge einzugreifen. Das ist für uns ziemlich ungewohnt, aber nur so weitet sich der Blick, um für das „Wesentliche“ wach und gerüstet zu sein, also das, was in all den Möglichkeiten von Bestand ist.

Finden Sie heraus, worin Sie gut sind!

Können wir mit zunehmender Komplexität unseres Lebens überhaupt sinnvoll Ziele bestimmen? Unser Leben hängt ja von unendlich vielen Faktoren ab, vieles steht nicht in unserer Macht.

Schmidt: Das Stichwort ist „sinnvoll“. In komplexen Zusammenhängen unseres Alltags müssen wir uns orientieren, Entscheidungen treffen, Richtungen einschlagen. Das geht nicht völlig ziellos. Wir sind immer auf etwas oder jemanden „gerichtet“, und das ist sehr wichtig.

Aber diese Form der Orientierung gewinnen wir gerade in komplexen Fragestellungen nicht, wenn wir einfach drauflos marschieren und irgendein Ziel ansteuern, das wir völlig unabhängig von den Gegebenheiten und Bedingungen formuliert haben. Auf etwas „gerichtet“ zu sein, bedeutet Beziehungen einzugehen, nicht zwingend Ziele zu erreichen, und darin bleiben wir von Bedingungen und Kontexten abhängig.

Wir können uns vornehmen, am Sonntag segeln zu gehen, aber wenn es gewittert und der Mast unseres Bootes gebrochen ist, dann sollten wir unseren Plan ändern, uns neu ausrichten. Nichts anderes ist gemeint. In der Philosophie und auch der Physik gibt es dafür den schönen Begriff der „Kontingenz“, d.h. dass wir die Zufälligkeit und Unberechenbarkeit von lebendigen, komplexen Zusammenhängen mitdenken.

Woran orientiere ich mich, wenn ich Entscheidungen treffen muss? Viele Enscheidungen betreffen andere Menschen und haben eine ethische Dimension.

Schmidt: Bei grundlegenden Entscheidungen ist das Wichtigste, für sich die Bedingungen zu klären: Was soll diese Entscheidung eigentlich, wofür ist sie gut, was will ich damit erreichen? Hier gibt es drei Kriterien, die sich nicht nur auf die persönlichen Bedürfnisse beziehen, sondern eine ethische Qualität haben – also auf die grundlegenden Möglichkeiten gerichtet sind, die wir brauchen, um ein „gutes Leben“ in einer Gemeinschaft führen zu können :

Welche eigenen Fähigkeiten stehen mir zur Verfügung? Wie kann ich das eigene Wohlbefinden bzw. das meiner Mitmenschen stärken? Und welche Bedingungen finde ich vor, um diese Möglichkeiten in die Tat umzusetzen?

Wenn ich mich entscheide, die Welt ein wenig besser machen zu wollen, dann kann ich nicht allein entscheiden, die Verantwortung für folgende Generationen zu übernehmen oder das System umzukrempeln. Aber ich kann mich fragen, in welchem Kontext ich konkrete Maßnahmen im Denken und Handeln ergreifen kann, um auf Probleme hinzuweisen, Alternativen aufzuzeigen und Optionen zu entwickeln – möglichst gemeinsam mit anderen.

Das fängt bei der inneren Bestandsaufnahme an, der Frage, was ich für gut und richtig halte, und endet vielleicht darin, dass ich mir einen neuen Job suche, weil ich mich neuen Themen widmen möchte.

Es gilt, ehrlich zu sich selbst zu sein, und zu klären, was ich möglich machen und welche Konsequenzen ich tragen will und tatsächlich auch kann, um die eigenen manchmal hochfliegenden Pläne in die Tat umzusetzen. In der stoischen Philosophie stellte Epiktet die wichtige Frage: „Was steht wirklich in meiner Macht?“ Und was vielleicht auch nicht.

Was raten Sie jungen Menschen, die zum Beispiel eine Berufswahl treffen müssen?

Schmidt: Finden Sie heraus, worin Sie gut sind, nicht nur, was Ihnen Spaß macht, sondern was Sie wirklich gut können bzw. lernen wollen. In etwas „gut“ zu sein hat nichts damit zu tun, dass wir 24 Stunden am Tag ein „gutes Gefühl“ haben müssen, sondern eher damit von der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns überzeugt zu sein. Also: Haben Sie ein Anliegen oder eine Frage, die Sie gern beantworten wollen?

Weiter würde ich Ihnen raten, ehrlich zu klären: Welche Rolle soll der Beruf in Ihrem Leben spielen? Geht es mir um Sicherheit, um Sinn, um Erfüllung, um definierte Arbeitszeiten, die Raum für andere Aktivitäten lassen? Dann können Sie schauen, wo es reale Berufsfelder gibt, in denen diese Themen und Kompetenzen vorkommen. Und trauen Sie sich, diese Anliegen zu formulieren.

Wie könnte man Ihren Ansatz ins Politische übertragen: Ist es hier nicht unbedingt notwendig, große Ziele zu formulieren, denken wir an die Ziele für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen wie Armutsbekämpfung und Ernährungssicherheit?

Schmidt: Selbstverständlich sind gerade in großen gesellschaftlichen Fragen, in Organisationen und Unternehmen Zielvorgaben notwendig. Aber mir kommt es manchmal so vor, als glaubten die Protagonisten, dass durch die Formulierung von Zielen die Probleme schon gelöst wären. Eigentlich beginnt damit erst die Suche nach möglichen Lösungen und die Frage, wie wir diese Suche gestalten und kommunizieren wollen.

Jeder Augenblick eröffnet neue Möglichkeiten

Wie handhaben Sie es in Ihrem eigenen Leben? Setzen Sie sich immer wieder Ziele?

Schmidt: Es gibt ein paar Ziele, die ich habe – die aber eher so etwas sind wie Wünsche. Orte, die ich noch sehen will, Dinge, die mir wichtig sind, oder Menschen, mit denen ich Zeit verbringen will – nicht aber klare Karriereziele oder etwas in der Art. Was mein persönliches Leben angeht, habe ich immer „Bilder“ im Kopf gehabt, wie es irgendwann einmal aussehen könnte: Eine Familie kam darin immer schon vor, einGarten und Zeit für die Philosophie.

Bei der Beschäftigung mit all diesen Fragenist mir klar geworden , dass ich zwar ein leistungsorientierter und durchaus „zielstrebiger“ Mensch bin, dass ich meine Ziele aber nie allein hätte verwirklichen können, dass immer etwas von außen dazu notwendig war, um eine Chance oder eine Gelegenheit zu ergreifen. Und vieles ist auch deshalb gelungen, weil ich gute Bedingungen vorgefunden habe bzw. schaffen konnte.

Macht es Sie glücklich, etwas zu erreichen, oder liegt Glück eher darin, das anzunehmen, was ist?

Beides. Ich denke, darin liegt überhaupt kein Widerspruch. Alles, was ist, ist eine Art Potenzial, aus dem sich etwas machen lässt oder nicht. Jeder Augenblick eröffnet Möglichkeiten, die sich zwar nicht alle verwirklichen lassen, die uns aber auffordern zu wählen. Es kommt darauf an, eine Wahl zu treffen und daraus dann etwasentstehen zu lassen. Das kann glücklich machen.

Lesetipp: Ina Schmidt, Das Ziel ist im Weg. Eine philosophische Suche nach dem Glück. Lübbe Verlag 2017

Dr. Ina Schmidt studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2005 gründete sie die denkraeume, eine Initiative für philosophische Praxis. Buchautorin, Referentin der Modern Life School und freie Mitarbeiterin des Philosophiemagazins „Hohe Luft“. Ina Schmidt lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in Reinbek bei Hamburg.

 

 

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