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„Der Dalai Lama holt das Beste aus den Menschen heraus“

Foto: Marco Stepniak
Jan Andersson hat viele Besuche des Dalai Lama in Deutschland organisiert |
Foto: Marco Stepniak

Interview mit Jan Andersson

Tibet-Aktivist Jan Andersson besuchte den Dalai Lama schon in den 1960er Jahren in Indien und arbeitet seitdem für Tibet. Er spricht im Interview über Begegnungen mit dem Dalai Lama hinter den Kulissen, das Engagement für tibetische Selbstbestimmung und die vielschichtige Persönlichkeit des Friedensnobelpreisträgers. Anlass ist sein 85. Geburtstag am 6. Juli 2020.

Das Interview führte Birgit Stratmann

Frage: Sie sind in Europa einer der wenigen, die den Dalai Lama schon in den 1960er Jahren kennengelernt haben. Wie kam das und was waren die Umstände?

Andersson: Anfang der 1960er Jahre, mit 15, bin ich auf den Roman „Kim“ von Rudyard Kipling gestoßen. Er handelt von einem Jungen in Indien, der mit einem tibetischen Lama den Subkontinent durchstreift. Das hat mich total gefesselt und neugierig gemacht, vor allem auch auf Tibet.

Dann las ich das Buch des Dalai Lama „Mein Leben, mein Volk“, eine frühe Autobiographie, in dem er auch über die Besatzung Tibets und die bedrückende politische Lage spricht.

1967, als ich Chemie studierte, gründeten wir das Schwedische Tibet-Komitee, um uns für das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter einzusetzen. 1969 bin ich mit zwei Freunden in einem VW-Bulli nach Indien gefahren, und natürlich wollten wir auch den Dalai Lama besuchen. Wir hatten drei Audienzen, es war so aufregend.

Wie war der Dalai Lama in so jungen Jahren?

Andersson: Ich habe ihn als warmherzigen Menschen erlebt. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt, irgendwie ernst und staatstragend, denn er hatte ja die Verantwortung für sechs Millionen Tibeter. Doch er war locker und stets zu Scherzen aufgelegt.

Sie haben dann seine erste Europareise mitorganisiert und waren auch immer dabei.

Andersson: Die ersten Reisen des Dalai Lama nach Europa und in die USA waren in den 1970er Jahren. Ich promovierte damals in Schweden und arbeitete danach auch in den USA.

Es muss ziemlich leger zugegangen sein. War das ein bisschen so, als wäre man mit einem guten Bekannten unterwegs?

Andersson: Ja, es gab noch kein so festes Protokoll und noch nicht diesen Hype. Einmal saß ich morgens im Hotel beim Frühstück und hörte eine Stimme sagen „Wollen Sie noch Kaffee haben?“ Da stand der Dalai Lama mit einer Kaffeekanne hinter mir und schenkte ein.

Der Dalai Lama sucht immer die Nähe zu den Menschen. Wir waren einmal abends nach einem langen Tag müde im Hotelzimmer angekommen, zogen die Schuhe und Krawatten aus, gönnten uns ein kühles Bier und legten die Beine hoch. Plötzlich kam der Dalai Lama herein und meinte, wir sollten sitzen bleiben. Er setzte sich dazu und sagte: „Ich war zu lange im Potala gefangen“. Seine Kindheit und Jugend war ganz beherrscht von traditionellen Rollen und Aufgaben – tragisch!

Der Friedensnobelpreis war wie ein Türöffner

Was war Ihre Motivation, sich für Tibet zu engagieren?

Andersson: Mein Engagement für Tibet kommt tief aus meinem Herzen. Ich bin jetzt schon über 50 Jahre dabei und würde nie daran denken aufzuhören. Es war für mich von Anfang an eine sehr emotionale Sache.

Seit ich auf Tibet und den Dalai Lama getroffen bin, hat mein Leben eine andere Richtung genommen. Es war zentral und ich habe fast meine ganze Freizeit dafür eingesetzt. Mein Doktorvater in Chemie, der darum wusste, hatte mich damals scherzhaft gefragt, ob ich in Chemie oder Tibetologie promovieren wolle.

Was bedeutete die Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn 1989 für die Sache Tibets? Sie haben sich selbst dafür eingesetzt.

Andersson: Dass der Dalai Lama den Friedensnobelpreis bekam, war harte Arbeit. Viele politisch Engagierte haben auf Parlamentarier eingewirkt und die Situation in Tibet erklärt. Die Leute hatten keine Ahnung, wer er ist. Manche fanden, da käme eine komische Gestalt, wie von einem anderen Planeten. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Doch bei der Zeremonie in Oslo war, ganz anders als sonst, das Interesse riesig. Die Aula war bis auf den letzten Platz besetzt. Das zeigte, dass die Unterstützung der Zivilgesellschaft wuchs. Der Nobelpreis war wie ein Türöffner, denn in dieser Rolle konnte der Dalai Lama von Politikern empfangen werden und anders in die Öffentlichkeit hineinwirken.

Die Vision eines freien Tibets wachhalten

Der Dalai Lama hat immer auf einen gewaltlosen Einsatz für seine Ziele gesetzt. Waren Sie der gleichen Meinung?

Andersson: Ja absolut. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt. Dauerhaften Frieden kann man nur erreichen, wenn man in Dialog geht. Da stimme ich dem Dalai Lama voll zu. Die Frage ist, wie redet man mit Leuten, die nicht reden wollen?

Also gab es keine Meinungsverschiedenheiten?

Andersson: Es ist sehr schwer, mit dem Dalai Lama zu streiten, weil er immer sehr gute Argumente hat. Er wendet die Logik wirklich an und es ist auch schwer, sich ihm zu entziehen. Zum Beispiel sagt er, dass es Irrsinn sei, gegen China Gewalt anzuwenden, weil das in einer Katastrophe enden würde. Das sehe ich genauso.

Erfolg war dem Dalai Lama auf politischer Ebene nicht beschieden: China ist zu einer Weltmacht geworden, und fast kein Staat wagt es, sich für Tibet einzusetzen. Was bedeutet das für die Zukunft Tibets?

Andersson: Der Dalai Lama hatte politisch keinen Erfolg, leider. Mit dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht wird es für Tibet, wie auch für Hongkong, extrem schwierig. Angela Merkel würde den Dalai Lama heute bestimmt nicht noch einmal empfangen. Keiner traut sich, über Tibet zu reden, weil wirtschaftliche Interessen so dominant sind. Ich wünschte mir, dass die Politiker in Europa mehr Rückgrat zeigten und wirklich politisch Einfluss auf Peking nehmen.

Wie sehen Sie die Zukunft Tibets?

Andersson: Im Moment geht es ums nackte Überleben, bis sich die Zustände in China insgesamt ändern, liberaler werden. Doch es ist schwer. Mittlerweile lebt schon die dritte Generation von Tibetern im Ausland, fern der Heimat. Sie verlieren langsam ihre Anbindung an die traditionelle Kultur. Die meisten leben im Westen oder in Indien.

Trotzdem müssen wir die Vision eines freien Tibets wachhalten und auch die tibetische Kultur im Exil fördern. Ich appelliere an alle Tibet-Unterstützergruppen: Macht weiter, lasst nicht nach, auch wenn keine kurzfristigen Erfolge zu erreichen sind. Es bringt immer etwas, über Tibet zu reden und das Thema im Bewusstsein zu halten. Das ist die einzige Chance, die wir noch haben.

Wir haben in Deutschland erlebt, dass die Mauer gefallen ist und sollten so einen radikalen Wandel immer für möglich halten. Ich glaube zum Beispiel, dass es in China selbst auch viele Differenzen gibt, zum Beispiel in der Führung, in der Partei, unter den Intellektuellen. Nur erfahren wir meistens nichts darüber.

Andererseits ist die chinesische Regierung auch sehr aktiv, was z.B. die Manipulation der öffentlichen Meinung im Westen betrifft.

Andersson: Peking kennt nur ein Mittel: die Gewalt – und zwar militärisch und ideologisch. Das Buch von Hamilton/Ohlberg „Die lautlose Eroberung“ (erschienen 2020 bei DVA) dokumentiert, dass die chinesische Führung ein weitreichendes Programm entwickelt hat, um die westlichen Demokratien und Medien zu unterwandern und eine neue Weltordnung zu etablieren. Wenn wir nicht aufpassen, fallen wir darauf herein.

„Der Dalai Lama ist unglaublich neugierig“

Der Dalai Lama hat in seinem Leben so viele Rollen ausgefüllt: religiöses Oberhaupt der Tibeter, politischer Führer, Friedensnobelpreisträger, buddhistischer Mönch und Autorität für menschliche Werte. Wie passt das alles in eine Person?

Andersson: Das ist noch nicht alles: Seit den 1960er Jahren war er auch noch für die Tibeter im Exil verantwortlich. Er musste Siedlungen gründen und eine Exil-Verwaltung aufbauen. Die Tibeter brauchten Jobs und nicht nur geistlichen Beistand. Das Interessante: Alles passt wunderbar zusammen und bildet die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit ab.

Um die Jahrtausendewende begann der Dalai Lama, die säkulare Ethik in den Mittelpunkt zu stellen: dass Ethik wichtiger sei als Religion und dass Ethik die gemeinsame Basis aller Menschen sein könne. Das ist ziemlich revolutionär für einen traditionellen Buddhisten. Wie haben Sie das erlebt?

Jan Andersson war 2007 mit dem Dalai Lama in Münster unterwegs. Foto: Marco Stepniak

Andersson: Ich war perplex, als ich das zum ersten Mal aus seinem Mund hörte. Es scheint, als würde er sich selbst als religiösen Menschen verleugnen. Aber so ist es nicht. Der Dalai Lama kann tief im Herzen Buddhist sein und gleichzeitig anerkennen, dass nicht alle Menschen religiös sein müssen.

Seine Grundüberzeugung ist, dass das Herz der Religionen Mitgefühl ist und dass alle Menschen, egal ob religiös oder nicht, sich auf die Ethik als gemeinsamer Basis einigen können. Hier zeigt sich auch seine große Offenheit und Fähigkeit, Neues zu entwickeln.

Auch suchte der Dalai Lama den Kontakt und Austausch mit den Wissenschaftlern. Waren Sie manchmal dabei?

Andersson: Ich begleitete den Dalai Lama 1979 auf seiner ersten Reise in die USA. Er besuchte zum Beispiel ein Krebsforschungszentrum in Virginia, schaute sich Krebszellen im Mikroskop an und ließ sich alles ganz genau erklären. Er ist sehr wissensdurstig.

In Berkeley waren wir mit ihm in einem Chemielabor beim Nobelpreisträger Glenn Seaborg. Hier erfuhr er zum ersten Mal, wie die Wissenschaft arbeitet, welche Fragen sie stellt. Das war für ihn eine ganz neue Welt, die ihn sehr faszinierte. Vor allem interessierte ihn, wie man durch Experimente und Herantasten an die Wirklichkeit Erkenntnisse gewinnen konnte und nicht nur durch Meditation und Logik.

Bewegende Erlebnisse mit dem Dalai Lama

Welche emotional aufwühlende Begebenheit kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an den Dalai Lama denken?

Andersson: Als der Dalai Lama den Friedensnobelpreis empfangen hatte, haben wir abends in Oslo einen Fackelzug für Tibet organisiert – quer durch die Stadt. Einige hundert Leute gingen mit – bei eiskalten Temperaturen. Der Zug endete beim Hotel, in dem der Dalai Lama wohnte. Als wir draußen standen, kam er auf den Balkon und winkte uns zu. Plötzlich verschwand er. Wir blieben stehen. Er kam zu uns auf die Straße und stand mitten unter uns, um mit uns zu feiern. Das war so bewegend!

Gab es auch mal eine traurige Situation?

Andersson: Da fällt mir eine Begebenheit ein, die sich bei einem Besuch in Rom zutrug. Ich saß mit ihm auf seinem Zimmer, als sein Sekretär eine alte Tibeterin zu ihm ließ. Als sie ihn sah, weinte sie heftig und brach zusammen. Er sagte zu mir: „Das passiert dauernd.“

Ich verließ das Zimmer, um die beiden allein zu lassen. Später am Tag erfuhr ich, dass die Tibeterin zehn Jahre in einem Arbeitslager eingesperrt war. Sie überlebte nur mit dem Gedanken: „Wenn ich hier herauskomme, berichte ich dem Dalai Lama, was uns Tibetern widerfährt.“

Nach ihrer Entlassung aus dem Lager floh sie nach Indien und weiter zu Verwandten nach Europa. Als sie hörte, dass der Dalai Lama in Rom war, nahm sie den Pass ihrer Schwester und reiste per Bahn dorthin, um ihn zu sehen.

Der Dalai Lama hat so viel gehört von Tibetern, die misshandelt, gefoltert und ausgebeutet wurden. Das ist für ihn extrem aufreibend. Denn er spürt eine große Verantwortung für seine Landsleute. Wenn sie so viel leiden, ist es für ihn, als hätte er versagt.

Empfindet der Dalai Lama gar keinen Groll gegenüber der chinesischen Regierung?

Andersson: Nein – und das ist für uns Normalsterbliche unbegreiflich. Du hörst ihn nie ein schlechtes Wort über China oder die Chinesen sagen. Keine Klagen, keine Aggression, keine Sticheleien.

Nun ist der Dalai Lama kaum mehr außerhalb Indiens unterwegs. Was vermissen Sie am meisten?

Andersson: Ich vermisse am meisten die Zuneigung, die entsteht, wenn er da ist. Auf den Veranstaltungen sind manchmal 10.000 Menschen beisammen, und es strömt eine große Liebe von den Besuchern zu ihm und von ihm zum Publikum. Diese Augenblicke der Liebe vermisse ich wirklich.

2018 war er das letzte Mal in Europa, ich stand mit ihm in Rotterdam auf der Bühne. Und da war es wieder: das Strömen tiefer menschlicher Zuneigung. Das ist ein unglaubliches Erlebnis. Der Dalai Lama holt das Beste aus den Menschen heraus. Wenn ich nur seine Stimme höre oder ein Bild von ihm sehe, wird mir warm ums Herz und mir wird diese Liebe wieder bewusst, die uns Menschen verbindet.

Der Dalai Lama auf Ethik heute

Jan Andersson, 1947 in Schweden geboren, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Chemie an der Universität Münster, die 2007 dem Dalai Lama den Ehrendoktor in Chemie überreichte. Redakteur der schwedischen Zeitschrift Tibet (1971-1976) und des deutschsprachigen Tibet-Forum (1980-1996). Mitgründer des Schwedischen Tibet-Komitees (1967), der Tibet-Initiative Deutschland (1998) und der International Campaign for Tibet Deutschland (ICT) (2002), deren Vorstandsvorsitzender er ist. ICT hat Büros in Washington, D.C., Amsterdam, Berlin und Brüssel und ist die weltweit größte Tibet-unterstützer Gruppe: www.savetibet.de.

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