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Der Duft des Göttlichen

Foto: Christof Spitz
Sadhu auf dem Ganges, Varanasi |
Foto: Christof Spitz

Ein Europäer versucht, Indien zu verstehen

Indien fasziniert und befremdet Menschen im Westen gleichermaßen. Martin Kämpchen, der seit 50 Jahren dort lebt, beschreibt, wie die Religiosität der Hindus das ganze Leben durchdringt, wo man Gott in der Bank treffen kann und warum die Inder so einen ganz anderen Blick auf „Gut“ und „Böse“ haben.

In Indien sei alles in Religion getränkt – schwärmen Indienfahrer. Recht haben sie. Auch Nicht-Schwärmer empfinden, wenn sie indischen Boden betreten, dass etwas Besonderes in der Luft liegt, etwas nicht recht Fassbares. Eine Energie, eine Schwingung, die beim Verlassen des Flughafens in Frankfurt nicht spürbar ist.

Kann man es konkreter beschreiben? Es ist leichter zu sagen, was es nicht ist: Es ist keine weihevolle Stimmung, nichts ausdrücklich Frommes und Pathetisches. Es ist nichts, was die Augen und Ohren spontan fesseln würde.

Ich verstehe es einerseits als ungeschützte Offenheit und Zugewandtheit der Menschen gegenüber anderen Menschen, andererseits als die unreflektierte Bereitschaft, Transzendenz anzuerkennen, also ohne sich für sie bewusst zu entscheiden, ohne sie kritisch und rational hinterfragt zu haben:

Der Himmel ist offen; das Göttliche besteht, die Götter leben, sie wirken in unserem Leben und alle spüren es und erkennen es an. Zu glauben ist ein schlichter Akt, der weder von Zweifeln noch von Auflehnung und Fragen getrübt wird.

Die Götter oder einen Gott ins Leben zu integrieren, ist von Geburt an ohne Alternative. Aus Tradition verehren viele Familien einen bestimmten Gott oder eine bestimmte Göttin. Die Menschen sind eingehüllt in die Legenden, Mythen, Bilder dieser Gottheiten und interpretieren sie für ihre Lebensgestaltung distanzlos, unmittelbar, naiv, spontan.

Gott in der Bank

Europäer mögen dies als Fundamentalismus, als ein gefährliches Fehlen jeder Aufklärung kritisieren. Aber viele Inder, gebildete wie analphabetische, leben in einer göttlichen, existentiellen wie emotionalen, Geborgenheit, um die wir sie beneiden können.

Das also meine ich mit dem Duft des Göttlichen, der uns in Indien empfängt. Ich nenne einige Beispiele, meist unscheinbare, die sich nicht spontan als einen solchen „Duft“ verraten.

Als ich zu Beginn meiner Indien-Zeit ein Bankkonto eröffnen wollte, saß ich dem Bankdirektor gegenüber, zwischen uns ein schwerer Schreibtisch gehäuft mit Papieren, Mappen, Stempeln und Federhaltern.

Er fragte nach meinem Namen, ließ sich meinen Reisepass zeigen, blickte auf und begann über Gott zu sprechen. Gott gebe es, aber wie könne man ihn erfahren? Wie wird er sich offenbaren? Was werden wir uns nach einer Gotteserfahrung fühlen? Wie wird sich unser Leben verändern?…

Zwischendurch gingen Bankangestellte hinein, ließen Schecks und andere Papiere unterschreiben, stellten kurze Fragen und verließen das Büro. Ungestört setzte der Direktor sein Nachsinnen fort. Überrascht lauschte ich. Würde eine solche Szene in Europa möglich sein?

Der Ganges strömt vom Himmel auf die Erde

Ein Rikshafahrer verweigerte mir eine kurze Fahrt mit der Begründung, heute sei der Geburtstag seines Lieblingsgottes. Er faste den ganzen Tag, seine Frau faste ebenso, und am Abend würden er und seine Nachbarn Lieder zu Ehren des Gottes singen. – Aber warum fährst du mich nicht zur Post?. „Es würde meinen Gott verärgern.“ Heute arbeite er nicht.

Ein Bauarbeiter, analphabetisch, ein Tageslohnempfänger, arm mit seiner Familie in einem Hüttchen entlang der Zuggleise wohnend, erzählte mir eine Episode aus dem Epos Ramayana mit solcher Treue zu Einzelheiten, mit so viel Farbe und Lebendigkeit, dass die Geschichte vor meinen Augen entstand.

Ich spürte, dass sie in ihm und er mit ihr lebte, vielleicht sogar intensiver als das Leben, das er mit seinen Sinnen wahrnahm. Die Gestalten rund um den Gott Rama waren ebenso real geworden wie seine Verwandten und Nachbarn.

Die Elemente gelten als rein, so auch das Wasser. Flüsse wie der Ganges besitzen gnadenspendende Kraft. Hindus baden im Ganges und trinken sein Wasser, wohlwissend, dass es durch Industrieabwässer, Leichen, Kot und Abfall verschmutzt, sogar toxisch ist.

Die Ganga strömt vom Himmel direkt auf die Erde – wie kann ihr Wasser schmutzig sein!? Die Heiligen loben diesen bedingungslosen Glauben, doch modern empfindende Menschen und die Regierung bemühen sich in immer neuen Kampagnen um die Reinigung des Flusses.

Ambivalenz durchströmt den Alltag Indiens.

Diese mit den Sinnen erfahrbare Welt steht in direkter Beziehung zu dem Göttlichen. Dessen Duft durchzieht fein, doch spürbar diese unsere Welt. Zu diesem Bewusstseinszustand gehört aber auch, dass das Göttliche sich in Beziehung setzt zu dem Bösen und Grausamen.

Eine meiner Überraschungen beim Studium des Hinduismus war die tolerante Beziehung, die er zu den negativen und schmerzlichen Seiten des menschlichen Lebens einnimmt.

Da Gottes Wesen allumfassend ist, begreift er auch das Böse in sich ein. Theologisch will ich diese Auffassung nicht zu deuten versuchen. Sie steht im Gegensatz zu der Verehrung des guten Gottes, des Vatergottes im Christentum.

Der hinduistische Gottesbegriff ist für Menschen, die vom Christentum geprägt sind, komplex und widersprüchlich. Er verwirrt uns. Nur mit der größtmöglichen Offenheit können wir die Göttin Kali, die als hässlich, grausam und rachsüchtig dargestellt und verehrt wird, als Gottheit anerkennen.

Auch Götter haben zerstörerische „Aspekte“. Sie können als unattraktiv und abstoßend dargestellt werden. Hindus erklären, dass die mythische Götterwelt ein Spiegelbild der Menschenwelt sei. Die Götterwelt verklärt gewissermaßen die Unerklärbarkeit des menschlichen Lebens, löst sie jedoch nicht auf.

Vor allem heftet sie kein eindeutiges Gut- oder Böse-Urteil an jede Tat. Gut und Böse sind relativ; sie sind ethisch zweideutig. Diese Ambivalenz durchströmt den Alltag Indiens.

Lebenslange Verpflichtung gegenüber der Familie

Der Duft neigt also dazu, nicht immer süß wie der von Räucherstäbchen zu sein, sondern manchmal auch schal, bitter und sogar übelriechend zu werden.

Warum – muss sich die Gesellschaft fragen lassen – wird zum Beispiel die Korruption im Großen und Kleinen allgemein und so leichtfertig-fraglos hingenommen? Liegt dem eine allgemeine moralische Oberflächlichkeit zugrunde?

Indien nimmt den Blick auf das Ganze und ist überzeugt, dass das Gute, das Nützliche überwiegt und ignoriert darum, soweit dies möglich ist, das Fragwürdige, Böse und Schädliche.

Korruption zugunsten von Familienmitgliedern und Mitgliedern der eigenen Gruppe wird erstaunlicherweise in der Gesellschaft nicht als ein Vergehen angesehen. Denn der Familie etwas Gutes zu tun – kann das verwerflich sein?

Sudhir Kakar schreibt:, „…in der indischen Erfahrung, die seit der Kindheit nur eine einzige Norm für verantwortliches Handeln zulässt – nämlich die lebenslange Verpflichtung gegenüber der eigenen Verwandtschaft –, sind solch negativen Wertungen wie Korruption und Vetternwirtschaft irrelevant.“ (Sudhir und Katharina Kakar, Die Inder. S.20)

Ein Relativismus liegt zugrunde, der uns manchmal vor den Kopf stößt, etwa wenn im Urteil Gebildeter akzeptiert wird, was für uns eindeutig nicht mehr zu rechtfertigen ist – oder der uns aufschlussreich, oft wie eine Offenbarung ist, weil er einen Gegenstand neu und ungewohnt anschaut.

Kann man noch den Namen Gott aussprechen?

Der Duft des Göttlichen wird für mich in einem Merkmal besonders wahrnehmbar: wie Menschen den Namen „Gott“ aussprechen. Vor Jahrzehnten, als ich noch Texte für den Rundfunk schrieb, wurde mir ein Erlebnis bedeutsam.

Ich war ins Studio des Bayrischen Rundfunks eingeladen worden, um der Produktion meiner Sendungen über die alttestamentlichen Psalmen beizuwohnen. Ein bekannter, älterer, damals schon gehbehinderter Schauspieler sollte die Psalmenzitate sprechen. Zur Erklärung sagte mir der Produktionsleiter: „Er kann noch das Wort ‚Gott‘ aussprechen!“

Tatsächlich, das Wort klang glaubhaft in seinem Mund. Dafür sensibilisiert, wurde mir bewusst, dass selbst Priester und Pastore außerhalb der Liturgie das Wort selten aussprechen können. Tun sie es, wirkt es peinlich, weil sie sich selbst unwohl fühlen. Sie nennen es, als würden sie es zitieren, als meinten sie es nicht ernsthaft.

Ähnliches ist mir in Indien nicht passiert. Die zahlreichen Namen Gottes tönen glaubhaft, sogar wenn ein Bankdirektor sie während seiner Dienstzeit ausspricht.

Foto: Christina Schröder

Dr. Martin Kämpchen lebt und arbeitet im westbengalischen Santiniketan. Er studierte Deutsche Literatur, Theater und Französisch. Seit 1973 lebt er in Indien und übersetzte die Gespräche von Ramakrishna und Rabindranath Tagores Gedichte aus dem Bengalischen ins Deutsche.
Er schrieb Tagores Biografie in deutscher Sprache und recherchierte Tagores Verbindungen zu Deutschland. Zuletzt erschienen seine Autobiographie Mein Leben in Indien (2022). 2024 erhielt er den D. Litt. honoris causa der SNUniversity Kalkutta.
www.martin-kaempchen.com

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