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“Der kleinste Akt der Freundlichkeit hat Wirkung”

Foto: Service Space
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Interview über eine neue Kultur der Großzügigkeit

Innovativ ist nicht, wer immer mehr Dinge anhäuft, sondern wer teilt. Das ist die Philosophie von Nipun Mehta. Er begann eine Karriere im Silicon Valley, gründete dann eine karitative Organisation, die heute weltweit aktiv ist. Im Interview spricht er über die Kraft der Freundlichkeit, Netzwerke des Mitgefühls und warum KI und Technologie den Menschen dienen sollten.

 

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Frage: Sie kommen aus dem Silicon Valley, aus der Welt der Technologie. Was war der Auslöser für die Gründung Ihrer karitativen Organisation Service Space?

Nipun Mehta: Im Silicon Valley erzählt man sich die Geschichte von „größer, besser, schneller“. Innovation liegt in der Luft, aber damit geht auch eine Menge Gier einher. Die Gier, die Egozentrik löst ein mentales Hamsterrad aus, das nicht zu mir passte.

Also habe ich ein paar Freunde zusammengetrommelt und gefragt: „Hey, können wir nicht mal was anderes machen?“ Wir gingen 1999 zu einem Obdachlosenheim und fragten, wie wir ihnen helfen könnten. Wir erstellten eine Website für sie, und das war unser erstes Projekt.

In der Folgezeit haben wir Tausende gemeinnützige Organisationen unterstützt und viele weitere Projekte gestartet. Hinter alldem steckte der Impuls, großzügig zu sein und ohne Bedingungen zu geben, zu dienen.

Gab es einen Impuls zur Großzügigkeit, der aus Ihrer Erziehung, Ihrem indischen kulturellen Hintergrund oder Ihrer Familie stammt?

Nipun Mehta: Das vorherrschende Paradigma in der Schule war, gute Noten zu bekommen, auf ein gutes College zu gehen, einen guten Job zu haben – und dann eine Beförderung zu bekommen oder ein Startup zu gründen, wenn man ins Silicon Valley geht.

Irgendwann fragte ich mich: Was ist der Sinn von alldem? Man hat Erfolg und Geld, aber geht es wirklich um die Anhäufung von solchen Dingen. Sollten wir nicht vielmehr über Verteilung, über Kreisläufe des Gebens nachdenken?

Die Idee des Kreislaufs, des Austauschs machte mich glücklich und verband mich mit anderen Menschen und dem Leben insgesamt. Und wenn man mit dem Leben verbunden ist, fühlt man sich genährt. Man muss nicht ins Einkaufszentrum gehen, um Dinge zu kaufen, damit man sich gut fühlt.

So entsteht Wertschätzung für die Überraschungen des Lebens, die man nicht planen kann: Wer hätte das gedacht, hier sitze ich mit Mike an einem schönen Abend unter einem Baum in der Nähe von Salzburg.

Im Feld des Wir löst sich die enge Identität auf.

Wie hat sich Ihr Verständnis und Ihre Erfahrung von Großzügigkeit entwickelt?

Nipun Mehta: Es gibt ein schönes Zitat von Rachel Naomi Remen: „Wenn du hilfst, siehst du das Leben als schwach an. Wenn du reparierst, verstehst du das Leben als gebrochen. Wenn du dienst, siehst du das Leben als ein ko-kreatives Ganzes.“

Uns geht es heute schlechter als früheren Generationen. Wir sind von uns selbst, voneinander und von der Natur abgetrennt. Anstatt also zu helfen und zu reparieren, können wir wirklich innovativ sein – und uns dem Dienen zuwenden.

Sie sprechen davon, von „Ich“ zu „Wir“ zu „Uns allen“ zu gehen. Geht es auch darum, das eigene Identitäts- oder Zugehörigkeitsgefühl zu erweitern?

Nipun Mehta: Wenn man von „Ich“ zu „Wir“ zu „Uns allen“ bewegt, verbindet man sich nicht nur auf tiefere Weise mit dem Leben, sondern formt auch seine Identität neu. Im „Ich“ ist unsere Identität sehr klein. Im „Wir“ beginnt unsere Identität, andere Menschen, unsere Familie und Nahestehende einzuschließen. Aber dieses Wir schafft auch einen inneren und äußeren Kreis. Im Feld von „Uns allen“ beginnt sich die Identität nahezu aufzulösen, es ist eine Dezentrierung des Selbst.

Normalerweise befindet sich unser Selbst genau im Zentrum von allem, was uns umgibt. Aber wenn man dieses Selbst ein wenig dezentriert, ist das ein sehr kraftvoller Prozess der Auflösung. Dabei geht das Ich, das man ist, nicht verloren. Sondern man gewinnt das, was man noch sein könnte, hinzu.

Netzwerke des Mitgefühls bilden.

Mit ServiceSpace bringen Sie auch Menschen zusammen und befähigen sie, sich in diesem Sinne zu verbinden. Warum ist diese Verbindung in unserer Zeit besonders wichtig, um auf die vielen Herausforderungen anders zu reagieren?

Nipun Mehta: Normalerweise denken wir, wenn wir an Verbindung denken, an eine Verbindung zu etwas anderem: Ich bin hier, und ich verbinde mich mit dir. Aber wir können Verbindung tiefer verstehen, etwa indem auch die anderen sich miteinander verbinden. Ich denke, es kann viel tiefer gehen – zu einer Verbindung von vielen zu vielen.

Das Verbinden von vielen Menschen mit vielen anderen in Netzwerken des Mitgefühls ist besonders kraftvoll, weil es unserer wahren Natur entspricht. Die Weisen sagen: “Wir haben das vergängliche Konstrukt eines Ichs, das sich ständig verändert. Es gibt überhaupt kein statisches Ich.”

Das heißt, auf einer spirituellen Ebene bestehen immer wechselseitige Beziehungen. Wenn es uns gelingt, unsere materiellen Systeme nach den Prinzipien der Vielheit von Beziehungen zu gestalten, dann können wir eine tiefe Übereinstimmung von Innen und Außen erreichen, die regenerativ sein kann.

 

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Wenn Sie Freundlichkeit stärken, erleben Sie mit der Zeit tiefere Beziehungen.

Das klingt alles großartig. Aber wie machen wir das? Wie können wir uns in diese Richtung einer tieferen Verbundenheit bewegen?

Nipun Mehta: Es gibt einen erstaunlich einfachen Weg zu mehr Verbundenheit, und das ist Freundlichkeit. Der kleinste Akt der Freundlichkeit hat eine Wirkung. Wenn ich mir nur einen Moment Zeit nehmen kann, um jemandem die Tür aufzuhalten, denken wir oft, das ist doch nicht viel. Aber eine solche Handlung hat nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Wirkung.

In diesem kurzen Moment gehen Sie vom Ich zum Wir über. Sie reagieren auf das Bedürfnis eines anderen Menschen, aber es ist auch Ihr Bedürfnis. So stärken Sie das Prinzip der Freundlichkeit, und mit der Zeit werden Sie tiefere Beziehungen erleben.

Und wenn man tiefere Beziehungen erfährt, erlebt man Synergie. Dann kommt man schließlich an einen Punkt, an dem das Ganze größer ist als die Summe der Teile, das ist das Feld von „Uns allen“.

Freundlichkeit ist naturgegeben und nicht vom Markt abhängig.

Es gibt eine Menge Polarisierung im sozialen Gefüge. Wie sehen Sie diese Vision der Freundlichkeit in diesem Zusammenhang?

Nipun Mehta: Es gibt heute eine enorme Polarisierung in der Welt. Vieles davon ist eine unbeabsichtigte Folge von Technologien wie sozialen Netzwerken, aber es gibt auch viele andere Faktoren.

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir in erster Linie Individuen sind und erst in zweiter Linie universell. Wenn wir das aber umdrehen und unsere Universalität in den Vordergrund stellen können, eröffnen sich uns neue Möglichkeiten.

Wir können immer sagen: Ich will nicht in meiner Blase der Bequemlichkeit bleiben. Ich möchte die Hand ausstrecken und mich mit jemandem verbinden, der anders fühlt als ich, der anders aussieht, anders denkt, der eine andere Partei wählt als ich, und trotzdem sind wir im Herzen verbunden. Wenn wir diese Absicht beibehalten, können wir von Kopf und Händen auf das Herz umschalten.

Was macht Sie hoffnungsvoll, dass wir uns in diese Richtung bewegen können?

Nipun Mehta: Es gibt mir Hoffnung, dass Freundlichkeit nicht vom Markt abhängig ist oder finanziert werden muss. Liebe, Freundlichkeit und Mitgefühl sind naturgegeben. Menschen reagieren auf Großzügigkeit mit noch mehr Großzügigkeit – weil sie fürsorglich veranlagt sind, weil ihr Körper dann sofort Oxytocin, Dopamin, Serotonin und Endorphine freisetzt. Das ist ein grundlegend unterschätztes Prinzip in modernen Systemen.

Bequemlichkeit oder Verbundenheit? Wir haben die Wahl.

Um auf Ihre Wurzeln im Silicon Valley und in der Technologie zurückzukommen: Wie sehen Sie die neuen Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz?

Nipun Mehta: Die Künstliche Intelligenz kann Gedichte schreiben, Kunst und Musik kreieren und dabei helfen, riesige Datenmengen zu synthetisieren. Aber sind wir nur Konsumenten von Inhalten?

Im Grunde lädt uns diese Technologie zu einer viel tieferen Frage ein: Was können wir als Menschen tun, was Maschinen nicht können? Der Dalai Lama hat einmal gesagt, dass Technologie die menschlichen Fähigkeiten unterstützen kann, aber sie kann kein Mitgefühl hervorbringen.

Ich komme aus dem Silicon Valley, also ist Technologie sozusagen ein Teil meiner DNA. Wir haben kürzlich unser eigenes „Compassion GPT“ gestartet. Hier haben wir Hunderttausende Geschichten über mitfühlende Handlungen aus den letzten 25 Jahren zusammengestellt. Die Zukunft wird uns an eine Weggabelung führen – das Metaverse oder das Metta-Versum, abgeleitet von der buddhistischen Meditationspraxis „metta“, liebende Güte.

Das Metaverse, das für virtuelle 3D-Welten steht, die wir „bewohnen“ können, ist reizvoll, weil es eine Erleichterung gegenüber der polarisierten Außenwelt mit ihren komplizierten Beziehungen darstellt.

Aber ich mag die Einladung ins Metta-Versum: Kann ich meinen Blick erweitern? Und auch wenn ich mit einer Person nicht so gut auskomme, kann sich meine Beziehung zu einer tieferen, synergetischen Verbindung öffnen? Das eine bietet Bequemlichkeit, das andere Verbundenheit. Wir haben die Wahl!

Unabhängig davon, was die Zukunft bringt, ob Utopie oder Dystopie, meine Reaktion ist dieselbe – ich diene, tue einen kleinen Akt der Freundlichkeit. Das erdet mich im gegenwärtigen Moment und zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.

Foto: Service Space

Nipun Mehta ist der Gründer von ServiceSpace.org, einer Community, die Freiwillige und ihre Projekte auf der ganzen Welt miteinander verbindet und heute über eine Million Mitglieder hat. Er ist Mitglied in den Beiräten der Seva Foundation, der Dalai Lama Foundation und des Greater Good Science Center.

www.ServiceSpace.org

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