Eine ganz andere Sicht auf Leben und Tod
Der Theologe und Sozialarbeiter Stephen Jenkinson (64) ermutigt Menschen dazu, sich dem Tod zuzuwenden. Der Kanadier hat ein großes Palliativzentrum mitaufgebaut und viele Sterbende begleitet. Heute lebt er auf einer Farm in der kanadischen Wildnis, wo er Menschen den Kreislauf von Leben und Tod begreifbar macht.
„Nicht Erfolg oder Glück, sondern der Tod ist die Wiege für deine Liebe zum Leben.“ Mit Aussagen wie diesen provoziert und polarisiert Stephen Jenkinson. Und das ganz bewusst. Vor kurzem war der Kanadier zu einem Filmgespräch in Berlin, um den Dokumentarfilm „Griefwalker“ vorzustellen. Es ist ein aufwühlender, ein aufrüttelnder Film. Er zeigt den Sterbe- und Trauerbegleiter bei Begegnungen mit Sterbenden und deren Angehörigen. Die Filmemacher folgen ihm auf seinen Wegen durch die Wälder Kanadas, wo er heute lebt.
Stephen Jenkinson hat viele Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet. Und wurde dabei Zeuge einer verzweifelten Angst vor dem Tod. Dies brachte ihn zu der Überzeugung: “Was sterben muss, ist unser Widerstand zu sterben, unsere Weigerung zu enden”.
Denn die meisten Menschen täuschen sich, so Jenkinson, wenn sie behaupten, sie würden nicht den Tod, sondern die Qual des Sterbens fürchten. Die moderne Palliativmedizin ermögliche mittlerweile ein schmerzloses Sterben. Die Angst in den Augen der Sterbenden habe dies jedoch nicht lindern können.
Wer dem früheren Sterbebegleiter zuhört, spürt: Der verzweifelte Kampf der Sterbenden gegen den Tod hat ihn nachhaltig erschüttert. Sie hat ihn zu der Erkenntnis gebracht: Es ist die Todesphobie unserer Kultur, eine geradezu toxische Angst vor dem Tod, die es verhindert, dass Menschen sich ihm zuwenden können. Denn nichts fürchten wir in der westlichen Gesellschaft mehr als die Auslöschung dessen, was wir sind. Damit aber ist uns die Fähigkeit verloren gegangen, weise zu sterben.
Völlig unvorbereitet in den Tod
Wir räumen dem Tod nicht die Bedeutung ein, die ihm gebührt. Anders als die Geburt des Lebens, die wir feiern, verdrängen wir das Ende. Und so gehen viele Menschen ihrem Tod völlig unvorbereitet entgegen.
Selbst diejenigen, die eine tödliche Diagnose erhalten haben, glauben bis zuletzt, dass sie ihm entkommen könnten. Eine Hoffnung, die häufig noch von Ärzten und Angehörigen geschürt wird. Stephen Jenkinson attestiert der westlichen Kultur einen „Analphabetismus des Todes“. Denn offenbar fehlen uns die Worte, um der Wucht einer tödlichen Diagnose gerecht zu werden. Was dazu führt, dass Sterbende sich bis zuletzt sprachlos an das Leben klammern. Und ihr Sterben damit zubringen, nicht zu sterben. Das Sterben aber fordert etwas ganz anderes ein: alle Hoffnung fahren zu lassen und sich dem Tod hinzugeben.
Solange wir in dieser Weise am Leben festhalten, verhindern wir, dass der Tod zu etwas Nährendem werden kann, mit dem wir der Welt über unseren Tod hinaus dienen. Wir weigern uns zu erkennen, dass das Leben selbst weiterbesteht und dass der Tod es ist, der es nährt. Dass der Tod gleichsam die Wiege des Lebens ist. Dies ist eine mystische, eine zutiefst schamanische Erfahrung, die unserer westlichen Kultur schwer vermittelbar ist.
Stephen Jenkinson selbst fand diese Weisheit bei den indigenen Völkern. Gemeinsam mit seiner Frau zog er vor Jahren in die Wälder Kanadas, wo sie sich mit eigenen Händen eine Farm aufbauten und seither in enger Verbundenheit mit der Natur leben.
Hier erfahren sie unmittelbar das ewige Entstehen und Vergehen als den Rhythmus alles Lebendigen. Hier gründeten sie die Orphan Wisdom School, um Menschen mit der Idee vom guten Leben und Sterben vertraut zu machen. Und ihnen in der unmittelbaren Verbundenheit mit der Natur eine Ahnung zu vermitteln, was es heißt, weise zu sterben.
Sich mit dem Tod befreunden
„Wie kannst du im Leben beheimatet sein, wenn du nicht mit dem Tod befreundet bist?“, fragt Stephen Jenkinson. Wie oft müssen wir den Tod anderer miterleben, um endlich zu akzeptieren, dass auch wir sterben werden?
Es ist die Gewissheit des Todes, die uns Menschen miteinander verbindet. Wir alle sind vor die Frage gestellt: Wie menschlich kann ich im Angesicht des Todes bleiben? Gelingt es mir, einen Sinn am Ende des Lebens finden? Vermag ich es, dem Tod selbst einen Sinn zu verleihen?
Der Tod belebt das Leben. Denn er flüstert uns zu: „Nichts bleibt!“ Und fordert uns dazu heraus, unser Leben jetzt zu leben und auszukosten. Erst der Tod lässt uns die Kostbarkeit und Einzigartigkeit des Lebens erfahren. Und uns erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben. Wir erfahren Dankbarkeit – für das Geschenk des Lebens, für das Freudvolle ebenso wie das Schmerzhafte, für den Anfang, den jetzigen Augenblick und auch das Ende.
Fragen Sie sich selbst an dieser Stelle: Was wird meinen Tod nähren? Wie kann mein Tod dazu beitragen, das Leben lebendiger zu machen?
Das größte Geschenk, das wir denen, die wir lieben, machen können, ist es, einen guten Tod zu sterben. „Stirb weise!“ fordert Stephen Jenkinson in seinem Buch ( engl. „Die Wise. A Manifesto for Sanity and Soul“, North Atlantic Books 2015). Denn der eigene Tod reicht weit in das Leben der anderen hinein. Wie ein Kieselstein, der in den Teich geworfen wird, zieht er seine Kreise.
Worum es also letztlich geht? Sich der Verzweiflung und der Trauer stellen, die der Tod in unser Leben bringt. Indem wir den Schrecken des Todes aushalten, definieren wir neu, was es heißt, ein gutes, ein erfülltes Leben zu führen. Dann erfahren wir vielleicht, wovon Stephen Jenkinson zutiefst überzeugt ist: „Es ist das Ende des Lebens, das dem Leben einen Sinn verleiht. Es ist der Tod, der das Leben nährt.“
Christa Spannbauer
Sehen Sie hier das Video „The Meaning of Death“ mit Stephen Jenkinson