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„Die Ich-Intelligenz reicht nicht mehr für Zukunftslösungen“

Foto: Zeitenspiegel
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Interview mit Helga Breuninger

Mit ihrer Arbeit als Stifterin möchte Helga Breuninger, 75, darauf hinwirken, aus einer hierarchisch organisierten Gesellschaft eine co-creative, gerechte Welt zu machen. Sie spricht im Interview über ihren Werdegang, ihr Engagement für Bürgerbeteiligung und wie sie als Stifterin immer mutig Neues erprobt.

 

Helga Breuninger unterstützt mit der Breuninger Stiftung Bildungsinitiativen, bietet Orte für partizipative Prozesse und hat die Bürgerstiftung Stuttgart mit aufgebaut.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Wie kam es zu der Entscheidung, sich als Stifterin zu engagieren?

Breuninger: Ich bin im Familienunternehmen als 4. Generation der Warenhausgruppe Breuninger aufgewachsen – mit zwei Schwestern und einem Bruder, der die Firma übernehmen sollte. Als ich 15 Jahre alt war, verunglückte mein Bruder tödlich.

Da ich meinen beiden Schwestern nicht zugetraut hatte, ein Unternehmen zu führen, reifte der Entschluss in mir, die Rolle meines Bruders zu übernehmen. So studierte ich Wirtschaft und bereitete mich auf die Nachfolge vor. Als ich mit dem Studium fertig war, erklärte mir mein Vater, er könne sich doch nicht vorstellen, dass ich als eine Frau sein Unternehmen leite. Die Unternehmensnachfolge wolle er wie Robert Bosch über eine Stiftung regeln.

Das war 1972, die Zeit der 68er-Bewegung. Marxistische politische Ökonomie hatte mein Denken während des Studiums in Tübingen geprägt. Ich sah in einer Stiftung die Lösung, unser Privatvermögen zu sozialisieren, um das Gemeinwohl zu stärken. Stifterin statt Unternehmensnachfolgerin passte zu meiner Gesinnung viel besser! Ich nahm diese Aufgabe als meine Bestimmung dankbar an, studierte Psychologie und forschte darüber, wie schulisches Lernen gelingen kann und kein Kind zurückbleibt.

Was bedeutet es, Produktivvermögen zu sozialisieren?

Breuninger: Die Firma gehörte unserer Familie. Mein Vater hatte bei seinem Tod 80 Prozent der Unternehmensanteile. Diese wollte er in eine gemeinnützige Stiftungs-GmbH einbringen, die als Gesellschafterin des Unternehmens Anspruch auf Dividende hat.

Gemeinsam ist es meinem Vater und mir gelungen, die Familie zu überzeugen, auf ihr Erbe zugunsten einer Stiftung zu verzichten. Bis 2004 hat das Unternehmen der Stiftung Dividende ausgeschüttet. Das Kaufhaussterben brachte auch Breuninger in eine wirtschaftlich schwierige Lage und veranlasste mich, die Stiftung vom Unternehmen zu trennen.

Wir brauchen eine Wir-Intelligenz.

Was ist Ihr Kernanliegen als Stifterin?

Breuninger: Mir liegt die Transformation unserer Welt aus einer noch hierarchisch organisierten Gesellschaft in eine co-creative, digitalisierte, globalisierte, gerechte und nachhaltige Welt am Herzen. Dafür müssen wir das gegenwärtige materialistische Denken erweitern und ein ganzheitliches, integrales Bewusstsein entwickeln.

Weltweit ist Bildung noch als Konkurrenz-und Selektionssystem organisiert. Unsere Lehrkräfte disziplinieren und belehren ihre Schülerinnen und Schüler, so wie sie selbst als Kinder behandelt wurden. Das möchte ich ändern, und dafür haben wir ein videogestütztes Training entwickelt, um Lehrkräfte zu befähigen, Kinder und Jugendliche zu aktivieren und zu beteiligen!

Unsere repräsentative Demokratie braucht mehr Bürger-Engagement. Dafür habe ich in meiner Heimatstadt Stuttgart die Bürgerstiftung zu einer lokalen Plattform der Bürgergesellschaft weiterentwickelt.

Sie haben Orte für zivilgesellschaftliche Ko-Kreation geschaffen, Wasan Island in Kanada und den Campus Paretz in der Nähe von Berlin. Was hat Sie dazu veranlasst?

Breuninger: Die Ich-Intelligenz reicht nicht mehr für Zukunftslösungen. Für den Umgang mit Komplexität brauchen wir eine Wir-Intelligenz. Eine Gruppe dient einem gemeinsamen Ziel, lernt von- und miteinander. Die Menschen haben unterschiedliche Kompetenzen und Erfahrungen und bringen ihre Ideen, ihre Kreativität für die Lösung ein. Es entsteht eine Co-Ownership, für die alle bereit sind, ihre Handlungsspielräume zu nutzen.

Welche Rolle spielen solche Orte für Sie?

Breuninger: Ich habe mich gefragt, wie müssen Orte sein, damit Menschen zu etwas Größerem beitragen und dafür ko-kreativ zusammenarbeiten wollen, also jenseits von starren Hierarchien. Nach meinem Empfinden trägt viel dazu bei, wenn solche Orte Schönheit ausstrahlen und ein Gefühl vermitteln, nach Hause zu kommen.

Unsere beiden Orte befinden sich in der Natur am Wasser. Gäste können mit dem Schiff anreisen. Wasan Island war so etwas wie meine Lehrmeisterin für das integrale Bewusstsein: Hier spürte ich Kraft und Energien um mich herum, fühlte mich angstfrei, vertrauensvoll verbunden und zugehörig. Dieses Gefühl gab mir die Kraft, rationales mit intuitivem Verstehen und spirituellem Erleben zu verbinden.

Auf Wasan Island war ich über 20 Jahre Gastgeberin internationaler und interdisziplinärer Konferenzen der Breuninger Stiftung. Ich lernte herausragende Wissenschaftler, Unternehmerinnen, Künstler, Politikerinnen, spirituelle Führer und Heiler kennen, was ich als sehr verbindend empfand. Ganz nach dem Spruch von William James, dem amerikanischen Philosophen und Psychologen: «We are like islands on the sea, separated on the surface and connected in the deep».

Wie können Stiftungen sich wirkungsvoll in die Gesellschaft einbringen?

Breuninger: Als dritter Sektor neben Staat und Wirtschaft können Stiftungen mutig Neues erproben. Wir sind sozusagen die Schnellboote und dürfen auch scheitern, weil wir weder Wahlen gewinnen noch Profite erwirtschaften müssen.

Wir können Expert:innen eine Stimme geben, Kampagnen betreiben, Kompetenzen entwickeln und vermitteln, Gastgeber:innen sein, Menschen beteiligen oder Projekte initiieren und fördern.

Bürgerstiftungen stärken die Demokratie in der Stadt.

Bürgerstiftungen sind für mich ein Zukunftsmodell, um auf lokaler Ebene Lösungen für die aktuellen Herausforderungen moderner Stadtgesellschaften wie Armut, Obdachlosigkeit, die Integration von Flüchtlingen, alten und einsamen Menschen zu finden. Wenn Verantwortliche aus Wirtschaft und Politik mit Bürger:innen ergebnisorientiert, aber ergebnisoffen zusammenarbeiten, stärkt das die Demokratie und die Stadt.

Wie kamen Sie zu diesem Engagement in der Bürgerstiftung Stuttgart?

Breuninger: Seit 2006 bin ich ehrenamtliche Vorsitzende der Bürgerstiftung, die wir dannzu einer Plattform für die lokale Bürgergesellschaft weiter entwickelt haben. Dafür habe ich mein Knowhow, meine Kontakte und viel Geld von der Breuninger Stiftung eingebracht, um kompetente Mitarbeiter mit den Beteiligungsprozessen zu beauftragen.

Jetzt ist allerdings der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich mit der Breuninger Stiftung zurückziehen muss, damit die Bürgerstiftung unabhängig wird von mir.

Wie arbeitet eine solche Bürgerstiftung?

Breuninger: Die Bürgerstiftung organisiert als Plattform runde Tische, in denen wichtige Repräsentanten der Stadt vorhandene Strukturen verbessern oder Lösungen finden für Anliegen der Bürger. Alle können mit einem Anliegen kommen und um Unterstützung bitten.

Vor Jahren kam eine Bürgerin mit dem Wunsch, finanziell benachteiligten Familien den Zugang zu Kultur zu ermöglichen. Sie war bereit, 20.000 Euro dafür einzubringen. In der Bürgerstiftung haben wir überlegt, welche nachhaltige Lösung es für dieses Anliegen geben könnte.

Wir haben alle Stuttgarter Kultureinrichtungen eingeladen, das Sozialamt und andere Behördenvertreter. Als Lösung an diesem Runden Tisch entstand „Kultur für Alle“. Kultureinrichtungen stellen für jede Veranstaltung sechs bis acht Prozent ihrer Karten kostenlos zur Verfügung.

Begünstigt wurden die Inhaber der städtischen Bonuskarte, die das Sozialamt an bedürftige Menschen ausgibt. Mit dem Geld der Bürgerin haben wir Flyer gedruckt und eine Teilzeitkraft eingestellt, die das Projekt betreut und dafür sorgt, dass immer mehr Kultureinrichtungen mitmachen.

Auf ähnliche Weise entstand ein städtisches Palliativnetz mit dem Ziel, sterbende Menschen möglichst gut zu versorgen, darüber hinaus ein Ausbildungscampus für Geflüchtete, das Plaudertelefon für Einsame, Digitalisierungsprojekte für Schulen sowie das Projekt „Supp-Optimal“, eine mobile Suppenküche für Obdachlose.

Sie werden bald 75 Jahre alt und sind immer noch aktiv dabei.

Breuninger: Ja, das ist mir ganz wichtig – und natürlich habe ich in der Familie auch eine Nachfolgerin. Ich glaube fest daran, dass unser Stiftungsvermögen erst wirksam wird, wenn es verbunden ist mit unserer Vision, unseren Herzen, unserem Knowhow und unseren Netzwerken. Als Stifterin fühle ich mich verbunden mit der Gesellschaft und verantwortlich dafür, die Welt ein bisschen besser zu machen.

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Ja, und großen Dank für das Engagement in jeder Hinsicht.
Inzwischen ist es März geworden, – und Putin zeigt auf seine Weise: „Die Ich-Intelligenz reicht nicht mehr für Zukunftslösungen“.
Nur schade, dass diese so mitfühlende Unternehmung die Kommentarfunktion nicht überquellen lässt! Liegt es daran, dass unsere sogenannte Schulbildung von den Kultusministerien in Oligarchenmanier auf dem Stand des Kaiserreichs festgeklopft wird?

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