Kirsten Baumbusch plant ihr Sabbatical
Die Hälfte aller Deutschen träumt von einer längeren Auszeit. Kirsten Baumbusch hat es wahr gemacht. Ab Januar 2015 arbeitet sie für ein Jahr ehrenamtlich in einem Kinderdorf in Peru. Sie berichtet hier über ihre Vorbereitungszeit und wie sie mit Ängsten und Unsicherheit umgeht.
„Du bereust immer nur das, was du nicht getan hast“, sagt eine Freundin und nimmt mich in den Arm. Gerade hatte ich ihr geschildert, wie sehr mich im Vorfeld meiner Auszeit Ängste quälen. Es ist ein ganz besonderes Jahr, bevor mein Liebster und ich die Zelte in Deutschland für zwölf Monate abbrechen, um ein Jahr als Freiwillige in einem Kinderprojekt in Peru zu arbeiten.
Die Amplituden zwischen Vorfreude und Furcht sind gewaltig. Alles wird auf den Kopf gestellt. Mein Selbstkonzept wankt. Außer in Zeiten des frischen Verliebtseins habe ich mich nie in solchen Extremen befunden. Und ich darf mich nicht einmal beklagen. Es ist eine selbst gewählte Krise, sich als fast 50-Jährige auf den Weg zu machen.
Mehr als die Hälfte der Deutschen wünscht sich einen Ausstieg auf Zeit. Vor allem die jüngere Generation fragt immer stärker nach dem Sinn ihres Tuns und erkundigt sich bei potenziellen Brötchengebern auch nach Arbeitszeitmodellen, die Auszeiten ermöglichen. In großen Konzernen gibt es Zeitkonten, die angespart werden können, damit während des Sabbaticals Geld aufs Konto fließt.
Überhaupt die Finanzen und organisatorischen Vorbereitungen. Ein solches Vorhaben ist teuer und aufwändig. Wer weit weg geht, muss an Vollmachten denken und seine Kreditkarten überprüfen. Die Planungsphase sollte mindestens so viele Monate vor der Abreise beginnen, wie die Auszeit dauert. Damit ist auch ein Prozess des Abnabelns verbunden. Wer nicht genügend Zeit fürs Abschiednehmen, Loslassen und Wesentlichwerden einplant, riskiert, im Sabbatical mit großem Ballast anzukommen.
Arbeitsvertrag auf Eis, Wohnung gekündigt
Meinen befristeten Arbeitsvertrag als Referentin des Chefredakteurs bei einem renommierten Verlag für wissenschaftliche Zeitschriften habe ich mit unbezahltem Urlaub um fünf Monate verkürzt. Eine Option auf Rückkehr gibt es, aber die ist abhängig von der wirtschaftlichen Lage.
Meine Wohnung ist aufgelöst, Bücher, Möbel, Geschirr und Kleidung sind eingelagert. Mein Hab und Gut beschränkt sich derzeit auf 54 Kilogramm Fluggepäck. Das Auto hat meine Freundin übernommen; meine Pferde und Weiden habe ich meinem Ex-Mann überschrieben.
Schon zu Beginn des Jahres hatte ich mich aus finanziellen Gründen zu einer Art „Großputz“ entschieden. Abos, Ausgaben und Mitgliedschaften wurden alle auf den Prüfstand gestellt und was nur ging, aufgelöst. Das ist gut fürs Konto und für die Seele. Diese Klärungsprozesse sind wohltuend. Den Kopf frei bekommen und Kräfte sammeln, das geht nur ohne großes Gepäck.
Anders sieht es mit Krankenkassen und Rentenversicherung aus. Ruhen lassen oder Anwartschaften (sprich: man bezahlt einen monatlichen Betrag, um das Anrecht zu erhalten, jederzeit wieder aufgenommen zu werden) sind Optionen. Um eine spezielle Auslandskrankenversicherung sollte sich niemand drücken. Meine schlägt mit 80 Cent pro Tag zu Buche. Ich „gönne“ mir überdies noch, meine Zusatzrenten- und Berufsunfähigkeitsversicherung weiterzuführen.
„Ich bin eine Raupe, aus der ein Schmetterling entsteht“
Da ich selbst auch als Mediatorin und Coach arbeite, weiß ich um die Wichtigkeit eines mitfühlenden, begleitenden Menschen in solchen Phasen. Im Coaching entdecke ich nicht nur, wie entscheidend es ist, dass ich mir die Auszeit ohne Einkommen „gönne“, sondern finde auch ein wunderbares Bild:
Noch fühle ich mich wie Gulliver bei den Lilliputanern von meinen Ängsten an den Boden gekettet. Doch ich bin eine Raupe, aus der ein schillernder Schmetterling entsteht. Und der hat ganz andere Bedürfnisse und muss vieles aufgeben, was für die Raupe wichtig war, sonst kann er nicht fliegen und bleibt für ewig ein Kriechtier.
So liegt ein langes Jahr der Vorbereitung hinter mir. Selten habe ich die Jahreszeiten so intensiv gespürt, den Geruch der Wälder beim Laufen in mich aufgesogen, die Schönheit des städtischen Lichtermeers genossen, die Zuneigung meiner Familie und Freunde wahrgenommen. Zeit ist relativ, das bestätigt sich. Ist sie erfüllt mit neuen Gedanken und Gefühlen, wird sie intensiver und rast nicht so erbarmungslos dahin wie beim Abspulen der ewig gleichen Routine.
Einstein soll das in einem, ihm zugesprochenen Diktum so gesagt haben: Fünf Minuten in den Armen einer schönen Frau ist relativ wenig, fünf Minuten mit dem Hintern auf einer heißen Herdplatte relativ viel. Und die Hirnforschung weiß, dass in dieser Hinsicht unser Denkapparat funktioniert wie eine Festplatte. Läuft etwas immer gleich ab, wird ein Ereignis stellvertretend für alle gespeichert. Passiert viel Neues, wird alles im Gedächtnis abgelegt, braucht also mehr Platz und erscheint dem Individuum länger.
Gemeinsam intensiv leben
Intensiv war dieses zurückliegende Jahr der Vorbereitung auch für uns als Paar. Wie hat das eigentlich angefangen mit der Idee der gemeinsamen Auszeit? Frank und ich haben uns vor viereinhalb Jahren kennengelernt. Wir beide hatten das tiefe Bedürfnis, Solidarität mit den Schwachen dieser Welt zu zeigen und den Wunsch, mitzuhelfen, damit die Erde ein etwas besserer Ort wird.
Er, ein Bio-Caterer, versierter Weltenbummler und Reisender, der Jahre seines Lebens in allen Regionen des Globus verbracht hatte. Ich, die weltoffene, aber deutlich weniger wagemutige Frau der Kommunikation.
Sorgsam tastend testeten wir in den ersten Jahren den Grund der Gemeinsamkeiten aus. Wir waren unterwegs; mit Rad und Zelt in der Sächsischen Schweiz, trampend in Tansania, mit dem Boot auf Bali. Intensive Zeiten, in denen wir spürten, dass wir wohl nie aufhören würden, miteinander spannende Entdeckungen zu machen, dass wir uns keine Sekunde auf die Nerven gingen und dass der Gesprächsstoff nie versiegte.
Nach rund zwei Jahren ging die Saat auf. Einfach nur zu reisen, wäre eine Möglichkeit gewesen. Doch wir wollten das Versprechen unserer ersten Begegnung wahr und uns für andere stark machen. Aber braucht uns da draußen überhaupt jemand?
Glücklicherweise hatten wir beide kurz zuvor ein Kontaktstudium Coaching abgeschlossen und wussten um den Wert der Visualisierung. Also nahmen wir uns etliche Stunden, ein Flipchart, Papier und Stifte und bündelten die Gedanken. Was bringen wir mit? Was wünschen wir uns? So lauteten die Kernfragen, die am Ende in einer Art Initiativbewerbung mündete, die wir „Exposé“ nannten.
Gemeinsam, so entdeckten wir schnell, war uns der Wunsch, unsere Energie in eine zukunftsweisende Aufgabe zu stecken und der Wille, dies ohne Lohn zu machen. „Wir sind von unserem Wesen her Potenzial- und nicht Defizitgucker. Wir verstehen uns gleichermaßen als Lernende und Lehrende“, formulierten wir. Dann durchforsteten wir unsere Biographien.
Klar wurde schnell, dass wir nicht nur ein gerütteltes Maß an fachlicher Expertise im jeweiligen beruflichen Bereich vorzuweisen hatten, sondern auch Organisations- und Managementfähigkeiten, interkulturelle Kompetenz, Sprachkenntnisse und die Befähigung auszubilden. An weichen Faktoren entdeckten wir nicht nur unsere Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, sondern auch psychische Robustheit, Begeisterungsfähigkeit und dass uns beiden einfache Lebensbedingungen nichts ausmachen.
Suche nach einem Projekt
Die Wünsche, die wir zum Ausdruck brachten, waren eher immaterieller Natur. „Kochen und Kommunikation als Mittel der Begegnung“ war dort ebenso zu lesen wie „Unvertrautes entdecken“, „in einer anderen Sprache leben“ und „lernen, lernen, lernen“. Das Ganze übersetzen wir noch ins Englische und schickten es dann an Menschen, die uns im Laufe unseres Lebens begegnet waren und von denen wir annahmen, dass sie andere kennen, die wiederum Projekte kennen könnten….
Ganz bewusst hatten wir uns nicht auf bestimmte Länder festgelegt, das Projekt sollte das entscheidende Kriterium sein. Doch im Laufe des Prozesses konzentrierte sich unsere Suche auf Indien, Brasilien und Peru. Drei Initiativen ganz unterschiedlicher Art, die sich alle vorstellen konnten, dass wir dort sinnvoll wirken würden. Ein Dorf mit Teeplantage, eine Regenwaldbaumschule und ein Verbund von Kinderheimen blieben am Ende übrig.
Wir entschieden uns dann für „Casa verde“ im peruanischen Arequipa. Es ist ein Haus, in dem 30 Kinder von drei Jahren bis zur Volljährigkeit leben. Sie kommen aus schwierigen Verhältnissen, haben Misshandlungen, Missbrauch oder Vernachlässigung erlitten. In Casa verde erhalten sie ein ganzheitliche Betreuung und viel Unterstützung, auch für die Schulbildung. Kinder, die sonst keine Chancen mehr hätten, finden hier ein sicheres, liebevolles Zuhause.
Frank möchte den Jugendlichen Kenntnisse aus seinem Fach vermitteln, so dass sie später eine Zukunft in Hotellerie und Gastronomie und damit ein Auskommen haben können. Ich werde neben einem Sabbatical-Blog, einem Buchprojekt, das noch zu Ende zu bringen ist, und Reisereportagen die Öffentlichkeits- und Projektarbeit von „Casa Verde“ professionell unterstützen und beim Spendensammeln helfen.
Die misshandelten Kinder werden zwar vom peruanischen Staat den Heimen zugewiesen, finanzielle Unterstützung gibt es jedoch keine. Daneben möchte ich die Zeit nutzen, mich ein Stück weit unverplant zu sammeln und herauszufinden, als was für ein Mensch ich eigentlich zurückkommen möchte.
Kirsten Baumbusch
Kirsten Baumbusch (Jahrgang 1965) ist Journalistin, Mediatorin und Coach in der Tradition der haltungsbasierten, humanistischen Psychologie. 2015 hat sie ein Sabbathjahr in Peru verbracht, jetzt lebt und arbeitet sie wieder in Heidelberg. Ihr Lebensthema ist Frieden – im Innen und im Außen. Kontakt: kirsten.baumbusch@online.de