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Ein Kunstwerk, das mich berührt hat

Olaf Speier/ shutterstock
Olaf Speier/ shutterstock

Eine Geschichte von Anke Brehl

Die Begegnung mit einem Kunstwerk kann uns verändern. Anke Brehl schildert ihre tiefen Erfahrungen beim eingehenden Betrachten der Skulptur “Gebrochener Flügel und Zuspruch” von Walter Green. Sie erlebte, was es bedeutet, Mensch zu sein, jenseits von Äußerlichkeiten, dem Göttlichen nah und verbunden in Glück und Leiden.

„Gebrochener Flügel und Zuspruch“ ist eine Skulptur des Bildhauers Walter Green.

Anke Brehl Der Bildhauer Walter Green wünscht es nicht, Bilder seiner Werke online zu zeigen, weil ein Foto nicht die direkte Berührung mit einem Kunstwerk ersetzen kann.

Kennen Sie das auch? Sie betrachten ein Kunstwerk, hören ein Lied oder lesen einen Text und in Ihnen steigt das Gefühl auf `Ich kenne diesen Künstler.‘ Ich meine damit nicht, dass Sie seinen Namen oder die Epoche seines Wirkens oder die Titel der bekanntesten seiner Werke kennen. Ich meine ein Kennen, ein Erkennen als Mensch, als Verbündeter. Ich habe das manchmal auch, und mit Walter Green ging mir das so beim allerersten Betrachten eines Werkes von ihm.

Es ist ein Lauschen, mit dem ich mich seinen Skulpturen nähere: Was er sagt, kenne ich. Die Poesie, die in der Schlichtheit der Formen seiner Werke aus altem Holz anklingt, kenne ich. Die Tiefen, die er berührt, die Themen, die ihn bewegen, kenne ich.

Die Wirklichkeit, die aus seinen Skulpturen spricht, ist die meine – so empfinde ich es. Sie entspringt einer anderen Quelle und erlaubt einen anderen Blick auf das, was wir an äußerer Wirklichkeit erleben. Ein Zauber.

Green lädt die Menschen ein, seine Skulpturen zu berühren. „Bitte berühren!“ steht ausdrücklich auf den Schildern neben den Holzarbeiten, genau dort, wo sonst Verbote platziert sind. Zärtlich, tastend, spürend, integrierend – ja, auch dieses Erfahren durch Berührung ist mir vertraut.

Wie an einen alten Freund denke ich mit Liebe an den Künstler. Seine Ausstellung im Sommer 2021 in einer Lüneburger Kirche hat mich hierher gezogen – und ich besuchte sieeine Zeit lang fast täglich, um spürend und sinnend mit seiner Kunst, seinem Angebot an Deutungen, ja, um mit ihm selbst in einen Dialog zu treten. Oder um still zu sein mit ihm und seinen Skulpturen: Einen Moment still sein und ausruhen mit der Schönheit dessen, was Green geschaffen hat.

“Wir sind Engel mit nur einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.”

Ehrfürchtig stehe ich vor der Skulptur „Gebrochener Flügel und Zuspruch“. Sie hält mich fest. Ich kann nicht weiter gehen. Zwei Engel sehe ich – einander zugewandt. In ihrer Form eher angedeutet als detailliert ausgearbeitet, sind sie schlicht und wunderschön.

Green verzichtet auf Gesichter, deutet Körper nur an und ich begreife dies als freilassende Einladung an den Betrachter, sich Details durch eigene Wahrnehmung und im wahrsten Sinn durch „Befassung“ zu erschließen.

Der erste in mir aufsteigende Impuls ist die Erinnerung an ein großes Plakat, das in Jugendzeiten über meinem Bett hing mit diesem Zitat von Luciano de Crescenzo: “Wir sind Engel mit nur einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.” Wir können nur fliegen, wenn wir es gemeinsam tun.

Ganz still stehe ich da und schaue und schaue – und fühle und fühle. Obgleich scheinbar Engel dargestellt sind, weiß ich zutiefst: Diese Skulptur spricht über das Thema Menschsein. Ganz Mensch sein. Willigis Jäger hat einen 2005 in der Schweiz gehaltenen Vortrag so genannt.

Wenn ich die Worte spreche, fühle ich sie eher als „Ganz. … Mensch. … Sein.“ – und ein Sturm an Assoziation und Gefühl wallt in mir auf, doch gleichzeitig wird so etwas wie heimatliche Geborgenheit in mir geweckt. Zu Hause im Menschsein? Für Willigis Jäger sind die drei Worte die Antwort auf die Frage „Warum sind wir hier?“. Wir sind hier, um ganz Mensch zu sein.

Mensch sein und mich als Mensch – fast möchte ich sagen ‚in meiner Menschlichkeit mit allen Facetten‘ – erfahren.

Ganz werden.

Da sein.

Und darin, in mir und aus mir heraus wiederum einen Ausdruck des Göttlichen, des Großen und Ganzen erkennen und verkörpern. Mich als einen solchen Ausdruck (er)leben, als einen Ton in der göttlichen Sinfonie, wie Willigis Jäger es nennt – ja, darum bin ich hier.

Ich zeige mich dir und mute mich dir zu

Ich bin in tiefer Resonanz mit der Skulptur von Green. Sie eröffnet mir wie von selbst einen Blick auf das, was es für mich bedeutet, ganz Mensch zu sein. Sie erlaubt mir Zugang zur Wirklichkeit aus einer inneren Wirklichkeit heraus, die viel stärker verbunden ist mit meinem eigenen menschlichen Sein als das meiste, das ich im Außen erfahre.

Die Figuren – Green verwendet alte Bohlen und Balken mit einer schon gelebten Geschichte – scheinen aus etwas ganz Altem zu wachsen. Sie wurzeln darin und finden im Hier und Jetzt einen neuen Ausdruck.

Sie orientieren mich auf das Wesentliche unseres Menschseins: Liebe. Liebe als Grund unseres menschlichen Daseins und als Ausdruck dessen, wie wir gemeint sind. Ich sehe aber auch Liebe als eine Fähigkeit, über die wir als Menschen verfügen, die wir uns zutrauen, der wir vertrauen dürfen. Auch wenn sich die Figuren nicht berühren, bilden sie in ihrer Zweiheit eine Ganzheit.

Als würden sie einander ergänzen, sagt der eine Mensch ‚Ich möchte mich anlehnen. Schön, dass du da bist. Gerade jetzt‘ oder auch ‚Es geht mir nicht gut, doch du lässt mich aufrecht stehen. Ich atme auf‘.

Der andere empfängt den Hilfesuchenden, vielleicht Erschöpften mit offenem Herzen ‚Ja, ich bin da. Jetzt. Für dich‘. Wenn sie sprechen würden, würden sie genau das sagen: „Wir brauchen einander. Wir sind füreinander da“. Mit meiner Stärke bin ich da, mit meiner Unvollkommenheit bin ich da. Ich zeige mich dir. Ich mute mich dir zu in meiner Verletztheit, in meiner Verunsicherung. Ich halte dich. Ich achte dich. Ich bleibe.

Ich betrachte die beiden und bemerke, dass ich beide Figuren in mir finde – stark und kraftvoll, unvollkommen und verletzlich. Anteile, die sich in mir vereinen und beide durch mich ihren Ausdruck finden. Scheinbar gegensätzlich sind sie geeint durch ein Streben zueinander, durch eine unstrittige Zusammengehörigkeit.

Ich fühle, dass die Schönheit der Skulptur in der Komplementarität, ja, dass die Ganzheit der beiden in ihrer Gegenseitigkeit liegt: Was der eine braucht, kann der andere geben. Was der eine heute erlebt, erlebt der andere morgen. Erfahrungen des einen vervollkommnen die des anderen. In der Akzeptanz beider Anteile liegt der Schlüssel zu Authentizität und Ganzwerdung.

Können wir uns selbst und anderen gegenüber mitfühlend bleiben?

Wie lange sitze ich schon vor der Skulptur auf der harten Kirchenbank? Ein Taufgottesdienst holt mich zurück. „Lasst uns dafür sorgen, dass dieses kleine Leben – jedes Leben – Liebe, Trost und Zuspruch erfährt und in dem Wissen aufwächst, geliebt und gesegnet zu sein.“ Das sind die Worte des Pastors. Ja. Mein ganzer Körper spricht dieses Gebet und sagt ja.

Wir leben in einer Welt in Aufruhr. Angesichts rasanter gesellschaftlicher Entwicklungen und zunehmender Komplexität wächst die Sehnsucht nach einfachen Lösungen, nach begreifbaren Wahrheiten. Angesichts einer Pandemie, der Umweltzerstörung, Gewalt und menschlichen Leids werden wir auf uns zurück geworfen. Wir begegnen unserer Angst, Wut und Unsicherheit, vielleicht sogar Ohnmacht.

Atemlos denken wir ‚Nur nicht den Anschluss verpassen. Nur nicht schwach werden. Mithalten. Kämpfen‘. Wir haben das Bedürfnis, uns zu schützen. Koppeln uns ab. Entfernen, vielleicht entfremden wir uns sogar vom Gegenüber und von der menschlichen Idee: Unsere Herzen werden eng.

Können wir dennoch uns selbst und anderen gegenüber mitfühlend bleiben und denjenigen beistehen, die unserer Hilfe bedürfen? Können wir anerkennen, dass alle Wesen in ihrem Kern gut und liebevoll sind, gleichzeitig aber auch Gefühle der Hilflosigkeit, der Verunsicherung und der Verletzlichkeit kennen?

Können wir uns davon trennen, uns ausschließlich über Leistung und Nutzen einen Sinn zu geben? Können wir Status, Positionen und Meinungen, unsere Geschichte, unsere überbordenden Emotionen, können wir Ängste und den Druck, besser zu sein als der andere oder Recht zu haben, manchmal zur Seite schieben und erkennen, wer wir sind?

Ein Mensch … und dort noch einer. Und noch einer … und genau neben mir noch einer. In der Mathematik wäre es vielleicht das Herausfinden des kleinsten gemeinsamen Nenners. Hier empfinde ich es als die Chance zur größtmöglichen Berührung und zur Erfüllung unserer selbst. Oder wie Giannina Wedde es viel schöner ausdrückt in einem Gedicht: „Denn ich ahne, dass das, was uns fehlt, der Mensch ist in tiefer Geschwisterlichkeit.“

Ich habe mich berühren lassen durch:

Walter Green, www.walter-green.de

Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2007

Eugen Drewermann, diverse Vorträge auf https://drewermann.wordpress.com/ und auf YouTube

Willigis Jäger (Audio): Ganz Mensch sein. Vortrag in der Schweiz, April 2006

Giannina Wedde: In deiner Weite lass mich Atem holen. Segensworte für die Lebensreise, Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag, 2021

Foto: privat

Anke Brehl ist Soziologin und arbeitet als Referentin und Beraterin an einer Universität. Sie ist Mutter zweier toller Jungs im Teenageralter, die sie immer wieder einladen, neu über das Leben nachzudenken. Sie engagiert sich ehrenamtlich und ist schreibend, singend, fragend und staunend in der Welt.
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