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„Enttäuschte Gefühle erst einmal anerkennen“

Addictive Stock/ Photocase
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Interview mit der Therapeutin Anette Frankenberger

Jeder Mensch erlebt Enttäuschungen, die Frage ist, wie wir gut damit umgehen. Die Familientherapeutin Anette Frankenberger ermutigt, unangenehme Gefühle anzunehmen und zu erforschen. Wir sollten lernen, mit dem Auf und Ab des Lebens zu schwingen, aber im Fall von Verletzungen auch den Konflikt angehen.

Das Gespräch führte Maria Köpf

Frage: Jeder Mensch muss täglich mit Enttäuschungen umgehen. Insbesondere, wenn Erwartungen in engen Beziehungen nicht erfüllt wurden, schmerzt dies. Hilft es, sich selbst weniger wichtig zu nehmen, um aus einem Tief herauszukommen?

Frankenberger: Wenn wir enttäuscht sind, ist es erst zunächst einmal gut, eigene Empfindungen und Gedanken ernst zu nehmen. Ich muss mir selbst klar werden über das, was in mir zu bestimmten Gefühlen geführt hat. Schwierig wird es, wenn ich Gedanken um eine Enttäuschung sofort abwehre, weil ich sage: „Nimm dich mal nicht so wichtig!“ Dann unterdrücke ich schließlich meine eigenen Gefühle und das bringt mich nicht weiter.

Sie meinen, es könnten sich schließlich Enttäuschungen an Enttäuschungen reihen, wenn wir unsere Gefühle sofort abwehren?

Frankenberger: Genau, denn das würde bedeuten, dass ich mich selber gar nicht ernst nehme und mich selber klein mache. Ich sollte mich zuerst damit befassen, was ich erwartet habe – und was mich dann so berührt und verärgert hat.

Zu viel Selbstfürsorge würde hierbei also nicht in die Irre führen?

Frankenberger: Nein, im nächsten Schritt komme ich auch auf die Frage der Selbstfürsorge: „Was brauche ich jetzt, damit ich das Gefühl verarbeiten kann, es nicht hängen bleibt und zu lange an mir nagt?“

Kann man dennoch auch zu viel Selbstfürsorge betreiben?

Frankenberger: Es kann natürlich sein, dass ich anfange zu grübeln. Möglicherweise beginne ich, das Verhalten der anderen Menschen zu sehr auf mich zu beziehen und überlege, ob alle gegen mich sind und alles mit mir zu tun hat. Dabei hat das Verhalten anderer Menschen häufig in erster Linie etwas mit denen selbst zu tun. Zu viel Selbstfürsorge kann man nicht betreiben, aber zu viel Nabelschau schon.

Viele Enttäuschungen entstehen aus nicht kommunizierten Wünschen.

Wenn wir es so betrachten, dass jemand eine Botschaft über sich selbst gesandt hat, verfangen wir uns nicht so schnell?

Frankenberger: Genau, wenn ich andersherum schaue, bekomme ich eine gesündere Distanz zum Geschehen. Natürlich ist es sinnvoll über sich selber nachzudenken, über die Eigenanteile am Verhalten, aber wenn ich im Grübeln steckenbleibe, bei dem sich die Antwort bei allem Nachdenken nicht ergibt, müsste ich eher nachfragen, was dieser Mensch mir damit sagen wollte.

Haben Sie auch manchmal zu hohe Erwartungen an Ihre Mitmenschen?

Frankenberger: Natürlich passiert uns das allen. Wir betrachten ja Menschen oft so, wie wir sie haben wollen und nicht so sehr, wie sie wirklich sind. Oder wir interpretieren etwas hinein, das wir uns wünschen und haben unsere Vorstellungen nicht klar formuliert oder geklärt.

Foto: Klaus Meilinger

Viele Enttäuschungen entstehen aus nicht erfüllten Erwartungen, aber vor allen Dingen aus nicht kommunizierten Wünschen. In vielen Liebesbeziehungen denken die Partner: „Wenn du mich wirklich liebtest, dann wüsstest du auch, was ich brauche!“ Das ist ein ganz großer Irrtum. Wir müssen miteinander kommunizieren, damit wir weniger enttäuscht sind.

Können bestimmte Charaktereigenschaften zu mehr Enttäuschungen, Kränkungen oder Verbitterungen führen?

Frankenberger: Ich würde es weniger am Charakter festmachen als an Verletzungen und Kränkungen, die ich aus der Kindheit oder der eigenen Herkunftsfamilie mitbekommen haben Das führt dazu, dass ich ein grundsätzlich misstrauischer oder unsicherer Mensch bin und generell leichter kränkbar reagiere.

Und wenn ich ohnehin schon tief sitzende Enttäuschungen und Verletzungen mitbekommen habe, dann erwarte ich dies eher von meiner Umwelt und lade sie unbewusst dazu ein, sodass sich die Enttäuschungen mehren. Ich möchte das aber nicht so verstanden wissen, dass jeder selbst Schuld an allem ist, das ihm passiert.

Das heißt, man verhält sich selbst so mit den eigenen Äußerungen oder Erwartungen, dass das Gegenüber uns zwingend enttäuschen muss. In der Familientherapie nennt man das dann die „self-fulfilling prophecy“, das heißt die selbsterfüllende Prophezeiung.

Bei einem Missverständnis wird ein tief verletzter Mensch sich sofort ins Schneckenhaus zurückziehen.

Frankenberger: Genau, anstatt die Kommunikation zu klären und zu fragen: „Was wolltest du mir damit sagen?“ oder in einen Konflikt zu gehen und zu sagen „Das hätte ich mir anders gewünscht, was du da gemacht hast“, nehme ich das so und sage „Siehst du, du bist auch gemein zu mir“ und ziehe mich dann zurück.

Wir müssen lernen, mit dem Leben zu schwingen.

Ist es nicht zutiefst menschlich, hin- und hergerissen zu sein zwischen Verzweiflung und Hoffnung? Schließlich können wir für beide Seiten gute Argumente finden.

Frankenberger: Ich glaube, das ist etwas zutiefst Menschliches. Wir erleben immer wieder beide Seiten. Schließlich sind im Leben viele Dinge nicht nur gut – und viele Dinge nicht nur schlecht. Diese Betrachtung macht man sich sogar in der systemischen Therapie zunutze, indem man fragt: Was ist das Gute im Schlechten? Was ist das Schlechte im allzu Guten? Es stimmt, wir müssen uns stets diese beiden Seiten anschauen und Hin- und Herpendeln, um einen Platz darin zu suchen. Und dies immer wieder neu.

Wenn betroffene Menschen nicht mehr schwingen, können sie im Auf und Ab von Lebendigkeit nicht mehr mitgehen, aber auch selbst nicht mehr schwingen. Ein Beispiel für Schwingungsfähigkeit ist der Gedanke: „Gut, ich habe diesen Menschen auch schon anders erlebt, morgen ist ein anderer Tag!“

Natürlich muss ich bei wiederholten Verletzungen durch einen anderen Menschen auch die Beziehung selbst betrachten und hinterfragen: Was sehe ich nicht? Was ist da? Was sieht der andere nicht? Was ist dazwischen so ungeklärt, das wir uns gegenseitig immer wieder Enttäuschungen zufügen?

Kann man aus solchen konfliktbehafteten Beziehungen für sich lernen?

Frankenberger: Aus frühkindlichen, familiären Enttäuschungen kann man lernen, dass bestimmte Enttäuschungen nur an bestimmte Personen gebunden sind. Das bedeutet, dass nicht die ganze Welt so zu mir ist oder ich durchaus erlernen kann, mich wieder zu öffnen.

Aus herben Enttäuschungen kann ich immer auch lernen, wo ich nicht genau hingeschaut und aufgepasst habe. Dies bezieht sich eher auf Freundes- und Partnerbeziehungen, die frischeren Datums sind. Als Kind kann ich mich ja noch nicht richtig schützen, da ich dem Umfeld noch ausgeliefert bin.

Es ist wichtig, negative Gedanken nicht mit sich herumzutragen.

Und welche konkreten Tipps möchten Sie Menschen mitgeben, um eine Enttäuschung durch einen Mitmenschen besser zu verarbeiten?

Frankenberger: Hier ist mir wichtig, sich zunächst klarzuwerden, was mir daran so weh getan hat und woran ich selbst einen Anteil hatte. Ich muss mich damit befassen, ob ich beispielsweise meine Wünsche missverständlich ausgedrückt habe.

Ein Tipp ist, Briefe zu schreiben an die Person, die mich so enttäuscht hat, ohne sie abzusenden. Hier darf ich mir dann ganz unzensiert von der Seele schreiben, was mich belastet hat.

Und natürlich finde ich es gut, Seelsorger und Therapeuten aufzusuchen, wenn ich mit Ereignissen gar nicht fertig werde. Und zuletzt, wenn ich mit meiner Selbstreflexion weiter wäre, kann ich mich auch für eine Aussprache mit der Person entscheiden. Vorausgesetzt, dass ich mich dafür stark genug fühle.

Sind Menschen heutzutage eher prädestiniert dafür, enttäuscht zu werden?

Frankenberger: Das sehe ich so nicht. Allerdings gibt es auf den Social-Media-Plattformen Kommentare, die in ihrer Rohheit einfach verletztend sind. Davor kann ich mich nur schützen, wenn ich mich fernhalte.

Ich glaube eher, dass es heute eine höhere Bereitschaft gibt, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen. Hier ist es wichtig, sich zu reflektieren und eine Lösung etwa in einer Auseinandersetzung zu suchen. Wenn das nicht geht, versuchen wir, das Ereignis für uns selbst oder mit entsprechender Hilfe zu verarbeiten. Es ist wichtig, negative Gedanken nicht mit sich herumzutragen.

Anette Frankenberger (58) arbeitet seit 1994 in einer eigenen Praxis als systemische Paar- und Familientherapeutin (DGSF) sowie im supervisorischen Bereich für soziale Einrichtungen. Seit 2022 widmete sie sich nebenberuflich dem Podcast „15 Minuten fürs Glück“. Hier gibt sie zusammen mit Antonia Fuchs Tipps für ein erfülltes Leben und Anregungen, die alltäglichen Glücksmomente öfter auszugraben. Mehr über ihre Arbeit unter: https://www.anettefrankenberger.de/

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