Interview mit dem Meditationslehrer Tilmann Borghardt
Ethik heute befragte den Meditationslehrer Tilmann Borghardt zum Umgang mit Weihnachten in Krisenzeiten. Er spricht im Interview über die große Bedeutung der Dankbarkeit für unser Leben und wie er durch Meditation Kraftquellen aktiviert. Gerade in Krisenzeiten sollten wir uns erlauben, freudig zu sein.
Das Interview führte Michaela Doepke
Frage: Weihnachten ist traditionell eine Zeit des Friedens und der Stille. Wie können wir uns in krisengeschüttelten Zeiten mit diesen Qualitäten verbinden?
Tilmann Borghardt: Für mich ist Dankbarkeit ungemein wichtig. Wir können uns Zeit nehmen und darüber nachdenken, wofür wir jetzt dankbar sein können. Diese Dankbarkeit für das, was wir zu essen und zu trinken haben, das Dach über dem Kopf, die Menschen um uns herum, freie Zeit.
Die Dankbarkeit relativiert die Krisenansicht und Sorgen. Sie rückt sie ein wenig zurecht, auch angesichts der Tatsache, dass es so vielen Menschen in der Welt deutlich schlechter geht. Diese Dankbarkeit können wir auch mit anderen teilen, sie zum Thema unserer Gespräche machen. Das dürfte wirklich helfen, uns in eine positive Grundstimmung zu versetzen.
Wie schafft man es, in diesen herausfordernden Zeiten nicht zu verzagen oder in Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit stecken zu bleiben?
Tilmann Borghardt: Ich kenne natürlich auch Anflüge zu verzagen angesichts der Weltsituation. Dann halte ich gezielt Ausschau nach konstruktiven Ansätzen, z. B. nach Menschen, die etwas Positives in dieser Welt gestalten. Hilfreich ist es, sich auf das zu konzentrieren, wo wir echten Einfluss haben, also auf unsere Freunde, Bekannte, Familie. Da fühle ich mich Teil dieser Bewegung „Wir-Miteinander-Füreinander“. Diese innere Haltung zu kultivieren, wo immer wir können und dem Herz eine Möglichkeit geben, sich auszudrücken.
Das Schlimmste an der Ohnmacht ist, dass das Herz sich eingeengt fühlt und man das Gefühl hat, nichts tun zu können. Deswegen können wir auch ein Mantra oder ein Gebet sprechen, eine Spende geben, also etwas, wo das Herz sich in seiner Hilfsbereitschaft ausdrücken kann.
Ein traditionelles Weihnachtslied lautet „Lasst uns froh und munter sein“. Wie gelingt es, positive Qualitäten wie Freude, Kraft und Hoffnung auch in Krisenzeiten zu kultivieren?
Tilmann Borghardt: Freude ist in Krisenzeiten noch wichtiger ist als in Zeiten, wo alles rund läuft. Wir müssen uns erlauben, freudig zu sein.
Ich erlaube meinem Geist nicht, beim Schwierigen zu verweilen.
Sie sind auch Meditations- und Weisheitslehrer sowie Experte für Positive Psychologie.Wie lange meditieren Sie pro Tag? Sind Meditation und Spiritualität die primären inneren Kraftquellen oder welche Ressourcen gibt es sonst noch im Alltag?
Tilmann Borghardt: Ich meditiere mindestens drei Stunden pro Tag, häufig mehr. Die Kraftquelle ist die Offenheit des Geistes. Sobald das Herz offen und der Geist klar wird, sprudelt die Quelle. Dort finde ich meine Kraft, die täglichen Herausforderungen anzugehen und den inneren Frieden zu bewahren.
Dort geschieht eine tiefe Loslösung: Ich löse mich aus der Identifikation mit den Problemen und meiner eigenen Rolle. Es ist, als würde ich einen Bereich betreten, der im Buddhismus Nicht-Selbst genannt wird. Eigentlich ein fließendes Sein ohne Ich-Zentrum, ohne Vorstellungen von mir als wichtigster Person.
Wie schützen wir uns vor der Flut negativer Nachrichten in den Medien oder vor emotional negativen Stimmungen?
Tilmann Borghardt: Da musste ich lernen, Nachrichten nur dosiert und nicht täglich zu konsumieren, also mich nicht in den Sog reinziehen zu lassen. Und ich habe auch gezielt nach „Konstruktivem Journalismus“ gesucht, so wie er auch beim Netzwerk Ethik heute umgesetzt wird. Denn da gibt es die Möglichkeit, nicht nur das Schwierige herauszustellen, sondern es wird immer auch gleich ein Lösungsansatz vermittelt. Und solche Beiträge tun mir besonders gut.
Was mir auch hilft, ist mich total durchlässig zu machen, um nicht an dem Gehörten oder Gelesenen kleben zu bleiben. Es gleich zu relativieren mit einem Blick um mich herum, wo es vielerorts gar nicht so schlecht aussieht.
Jon Kabat-Zinn sagt, wenn das Haus brennt, ist es nicht sinnvoll, sich auf das Meditationskissen zu setzen. Ist Meditation in diesen herausfordernden Zeiten noch sinnvoll?
Tilmann Borghardt: Das meinte Kabat-Zinn aber wörtlich und es ist eine alte Meditationsanweisung, das offenkundig Notwendige zuerst zu tun. Wir sollten uns aber klar machen, dass unser Haus eben nicht brennt. Es brennen Häuser anderswo. Ja, Meditation ist in herausfordernden Zeiten wichtiger denn je. Nur ist sie schwieriger zu üben, denn es gibt so viel Wichtiges zu tun.
Um in herausfordernden Zeiten überhaupt konstruktiv handeln zu können, braucht es innere Ruhe. Deswegen sollten wir jetzt üben, wo es noch möglich ist. Wenn es richtig schwierig wird, müssen wir auf die bis dahin entwickelten Qualitäten vertrauen können wie auf einen Autopiloten. Und selbstverständlich würde ich auch im U-Bahn-Tunnel von Kiew meditieren, eigentlich immer, wenn es nichts zu tun gibt. Denn Meditieren bedeutet, den Geist zu entspannen, anzukommen im Jetzt, aus dem hyperaktiven Geist auszusteigen und im Hier und Jetzt ganz offen zu sein.
Der Mensch ist nicht so egoistisch, wie behauptet wird.
Was können wir tun, um die Zuversicht nicht zu verlieren? Was verleiht Resilienz und wie kultiviert man eine positive Geisteshaltung im Alltag?
Tilmann Borghardt: Ich lenke meine Aufmerksamkeit auf das Heilsame, das Positive in jedem Menschen, das jetzt vorhanden ist. Ich erlaube meinem Geist nicht, beim Schwierigen zu verweilen, bei dem, was nicht klappt. Dadurch entstehen viele warme Begegnungen, die Zuversicht und Kraft schenken, Schwierigkeiten zu bestehen und die Freude, andere zu unterstützen.
Der Mensch ist gar nicht so egoistisch wie immer behauptet wird. Wir müssen nur das Geschick besitzen, diese Seiten in uns wachzuhalten. Mir hilft mein täglicher „Touch Down“ in die entspannte, völlig offene innere Dimension. Dieses Eintreten in die innere Offenheit dauert oft nur wenige Minuten, ist aber für mich die eigentliche Kraftquelle.
Hier das ausführliche Interview als Video
Tilmann Borghardt war 21 Jahre Mönch in der tibetisch-buddhistischen Tradition. Seit 2016 betreut er das Retreathaus Grüner Baum im „Ekayana-Institut für zeitgemäßen Buddhismus“ im Hochschwarzwald. Seit 2009 unterrichtet er buddhistische Geistesschulung am „Institut für Essentielle Psychotherapie“ in Hennef. Er ist zudem Dozent und Buchautor („Buddhistische Psychologie“, Arkana Verlag, 2016). Seine Intention ist, die buddhistischen Weisheitslehren in die westliche Kultur zu integrieren.
Mehr: www.ekayana-institut.de