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„Glück ist ein Inside-Job“

Foto: C. Rahel Taeubert
Foto: C. Rahel Taeubert

Interview mit Ariadne von Schirach

Die Bestsellerautorin, Philosophin und Journalistin Ariadne von Schirach veröffentlicht mit „Glücksversuche“ 2021 ein neues Buch. Als Verteidigerin der Lebenskunst in einer zunehmend ökonomisierten Welt spricht sie im Interview über inneres Wachstum, Werte und eine neue Bewusstseinskultur.

Das Interview führte Michaela Doepke

 

Frage: Frau von Schirach, Sie haben ein neues Buch mit dem Titel „Glücksversuche“ geschrieben. Worum geht es in diesem Buch?

Ariadne von Schirach: Die Glücksversuche sind Selbstversuche, die zum Ausprobieren anregen. Dabei geht es um viele Facetten des Glücks – von Humor über Dankbarkeit, aber auch unseren Umgang mit negativen Emotionen und uns selbst. Wir wissen doch meistens, was uns gut tun und glücklich machen würde, aber wir handeln oft nicht danach. Deshalb ist das Buch vor allem eine Einladung, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen und dadurch bewusster zu leben.

Dürfen wir in Zeiten wie diesen nach persönlichem Glück streben angesichts von Krisen wie der Pandemie und der Zerstörung der Natur?

von Schirach: Wenn wir das Lebendige in uns achten, dann achten wir auch auf das Leben um uns herum und entwickeln einen Sinn dafür. Wenn wir uns mit dem Leben verbunden fühlen, sind wir weniger verführbar, es zu konsumieren und auszubeuten. Und wenn wir weniger abgelenkt sind, haben wir mehr Zeit für das, was uns wirklich glücklich macht: Beziehungen, Naturerfahrungen und inneres Wachstum. Das kostet alles nichts. Und man muss es auch nicht kaufen – und das ist auch gut für die Erde.

Was ist Glück für Sie? An einer Stelle heißt es, Glück ist erlernbar. Wie meinen Sie das?

von Schirach: Glück ist für mich ein Gefühl, in dieser Welt zu Hause zu sein, zu lieben und geliebt zu werden und ungestört arbeiten zu können. Glück ist auch ein frisches Buch, die blaue Stunde oder wenn meine Katze zum Schmusen kommt.

Aber all das dauert nicht. Deshalb ist Glück für mich auch die Fähigkeit, das Geschenk des Augenblicks anzunehmen – eine Fähigkeit, die man trainieren kann, ob durch Meditation, Achtsamkeit oder bewusste Selbstzurücknahme.

Glück ist ein Inside-Job. In unserer oberflächlichen, materialistischen Welt vergessen wir oft, dass der Mensch innen größer ist als außen. Doch nur dort können wir immer weiter wachsen. Und dieses Gefühl von innerem Wachstum ist auch ein Gefühl von Glück.

Schmerz hat Aufforderungscharakter.

Sie kritisieren in ihren Büchern den zunehmenden Realitäts- und Werteverlust in der modernen Gesellschaft. Häufiger Kritikpunkt ist die Ökonomisierung in allen Lebensbereichen. Aber sind Krisen nicht auch Chancen für Bewusstseinswandel?

von Schirach: Wir sind vor lauter Profitstreben, Kontrollwahn und Konkurrenz so sehr von der Wahrheit des Lebens weggerückt, dass wir tatsächlich verr-ückt sind.

Gerade erleben wir einen Punkt, an dem die Krise, die für mich zu einem großen Teil von der Ökonomisierung der Welt ausgelöst wurde, also dass es nur noch um Geld und Profit geht, so weh tut, dass wir mittlerweile sehr deutlich aufgefordert werden, anders zu leben, anders zu denken und anders zu handeln. Für mich hat Schmerz Aufforderungscharakter. Die Krise stellt uns Fragen nach unserem Leben und Zusammenleben, und wir sind alle eingeladen, darauf zu antworten.

Da geht es um Überlegungen, dass die Tiere nicht uns gehören, sondern sich selbst. Oder dass alle Menschen eine Familie sind, weil uns alle viel mehr verbindet als trennt. Oder dass wir die Natur brauchen und lieben und achten müssen, weil nicht sie bedroht ist, sondern unser eigenes Überleben.

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Ich finde das Leben sehr unordentlich, sehr paradox und gerade deswegen sehr lebenswert.

In welcher philosophischen Tradition fühlen Sie sich beheimatet?

von Schirach: In der Tradition der Philosophie als Lebenskunst mit Denkern wie Epikur oder Epiktet, für die Philosophie nichts Abstraktes, Theoretisches ist, sondern eine Weise, Leben zu üben und sterben zu lernen. Lebenskunst beschreibt die Arbeit am inneren Menschen.

Die Person der Philosophin soll durch beständige Übung geformt werden, um durch diese Verbindung von Reflexion und Praxis ein sinnvolles und dadurch vielleicht auch glückliches Leben zu leben. Alles ist im Wandel, alles vergeht, auch wir vergehen. Daran zu denken, hilft mir dabei, mich nicht allzu sehr von allem abzulenken, was mir wichtig ist.

Sie lehren als Dozentin chinesisches Denken an einer Berliner Universität. Was fasziniert sie daran?

von Schirach: Meine Eltern sprechen beide chinesisch, mein Vater war Sinologe, meine Mutter Dolmetscherin. Sie haben zusammen „Pu Yi, der letzte Kaiser von China“ übersetzt. Das klassische chinesische Denken ist ganz anders als das westliche Denken. Und es hat wenig mit dem autoritären Staatskapitalismus von heute zu tun.

In ihm liegt eine ganz andere Weise, die Welt zu sehen, ein Denken in Beziehungen, Übergängen und Wandlungsformen. Diese Konzepte von Positionalität, Relation und Prozess halte ich für wesentlich brauchbarer die Wirklichkeit zu beschreiben als vieles, was wir Westler seit Aristoteles gewohnt sind: Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit, Essenz. Nein, nein, ich finde das Leben sehr unordentlich, sehr paradox und gerade deswegen sehr lebenswert.

Wir Menschen sind eine Familie. Jeder, der das verrät, verrät uns alle.

Es ist noch nicht so lange her, dass Philosophinnen und Frauen an Universitäten von männlichen Kollegen und fachlichen Autoritäten keine Anerkennung erhielten. Hat sich das inzwischen geändert?

von Schirach: Nein. Und Frauen verdienen in Deutschland immer noch 20 Prozent weniger als Männer. Das macht mich unsagbar wütend. Aber es geht auch um Solidarität untereinander. Denn wer ist der schlimmste Feind einer Frau? Eine andere Frau. Dagegen müssen wir ankämpfen, schwesterlich und solidarisch.

Vielleicht müssten wir auch endlich einmal die Hexenprozesse aufarbeiten, bei der im Mittelalter Schwester gegen Schwester ausgespielt, Frauen gegeneinander aufgehetzt wurden und die Hälfte der Bevölkerung abgeschlachtet wurde… Dieser immer noch unbetrauerte Femizid. Es gibt ja keine Hexen. Es gibt nur Frauen.

Was mich auch aufbringt, ist die mangelnde Wertschätzung der Care-Arbeit. Für mich ist es oft weniger anstrengend gewesen, einen Text zu schreiben oder einen Vortrag vorzubereiten als einen Tag auf meine kleine Tochter aufzupassen, die inzwischen fünf Jahre alt ist.

Ihr Großvater war der nationalsozialistische Reichsjugendführer und verurteilte Kriegsverbrecher Baldur von Schirach. Darf ich Sie fragen: Leiden Sie noch unter diesem dunklen Erbe? Und wie haben Sie es verarbeitet?

von Schirach: Für mich bedeutet diesen Namen zu tragen, eine Verantwortung zu übernehmen. Mich zu erinnern, mich zu positionieren, ansprechbar zu sein. Der immer stärker werdende Antisemitismus inklusive der ganzen zunehmend gewaltbereiten Neonazis hier in Deutschland entsetzt mich zutiefst. Darüber müssen wir sprechen.

Vor ein paar Tagen habe ich mit verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern einen Film gesehen. Ein deutscher Filmemacher hatte dafür im Haus der Großmutter die blitzblanke Möblierung und das erstarrte Schweigen nach dem Holocaust eingefangen nach dem Motto „Wir selbst waren das nicht“. Ein anwesender Künstler aus Tel Aviv reagierte sehr berührt und erzählte, dass die Wohnungen der geflüchteten Großeltern in Israel ganz ähnlich aussehen würden, genauso sauber, genauso leblos, Vitrinen, Glas und Spitzendecken. Und das Schweigen. Wir Menschen sind eine Familie. Jeder, der das verrät, verrät uns alle.

Frau von Schirach, welchen Herzenswunsch haben Sie noch für sich persönlich? Und auf der gesellschaftlichen Ebene: Was ist Ihre Vision für ein gutes Leben?

von Schirach: Ich würde unglaublich gerne mal nach Spitzbergen fahren. Ich weiß gar nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass ich da hinmuss.

Und was uns alle betrifft, würde ich uns wünschen, dass wir es schaffen, endlich unsere Zeit wichtiger zu nehmen als das Geld. Das Leben ist kurz, sagt Seneca. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ariadne von Schirach unterrichtet Philosophie und chinesisches Denken an der Berliner Universität der Künste und weiteren Hochschulen. Sie arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin und veröffentlichte u. a. die Sachbuch-Bestseller „Der Tanz um die Lust“, „Du sollst nicht funktionieren“ und „Die psychotische Gesellschaft“ als Trilogie der modernen Gesellschaft. Ihr neuestes Buch heißt: „Glücksversuche. Von der Kunst, mit der Seele zu sprechen“ (Tropen Vlg.) und erscheint am 18.9.2021.

 

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