„So glücklich wie ich, rief er aus‚ gibt es keinen Menschen unter der Sonne. Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war.“ (Hans im Glück, nach Brüder Grimm)
Hans ist ein Glückspilz. Wo andere angestrengt nach Lösungen suchen, stolpert er durch sein Leben und findet dabei jedes Mal etwas überaus Erfreuliches. Die Rede ist von „Hans im Glück“ aus dem bekannten Grimm´schen Märchen. Dieser märchenhafte Held ist nicht permanent, dafür aber ausnahmslos glücklich. Aber handelt er auch klug?
Das klingt zunächst widersprüchlich, macht aber durchaus Sinn, wenn man bedenkt, dass das Glück, das Hans empfindet, darin besteht, dass seine Wünsche erfüllt werden. Hans beherrscht die Kunst, sich das zu wünschen, was die jeweilige Situation ihm bietet. So kann er in jeder Lebenslage die Gelegenheit beim Schopfe packen und ist niemals unglücklich. Unglücklichsein bedeutet, sich etwas zu wünschen, was man nicht bekommt. Auf Hans trifft das zu keinem Zeitpunkt zu, wie wir in der Geschichte erfahren:
Nach siebenjähriger Lehrzeit macht sich Hans auf den Heimweg zu seiner Mutter. Für seine Arbeit hat er einen Klumpen Gold erhalten, den Hans gegen ein Pferd eintauscht, um schneller nach Hause zu gelangen. Doch das Pferd wirft ihn ab, so dass er es lieber gegen eine Kuh einwechselt. Diese wird in einem weiteren Tausch durch ein Schwein ersetzt. Darauf folgen noch eine Gans und Schleifsteine. Sein Besitz wird immer wertloser, doch Hans bemerkt dies gar nicht. Vielmehr freut er sich bei jedem Tauschhandel darüber, dass ein gerade im Moment empfundener Nachteil, wie zum Beispiel die Gefahr eines weiteren schmerzhaften Abwurfs vom Pferd, durch das jeweilige Tauschgeschäft verschwindet. So freut er sich schließlich auch darüber, dass er die Schleifsteine versehentlich in den Brunnen fallen lässt. Dies erspart ihm die Mühe, sie zu tragen. Am Ende kommt er ohne jeglichen Besitz bei der Mutter an und ist glücklich.
Wie gelingt es Hans, ausnahmslos glücklich zu sein?
Hans ist niemals unglücklich. Unglück kann man in zweifacher Hinsicht vermeiden. Man kann entweder einfach damit aufhören, etwas zu erstreben, was man eh nicht bekommt. Oder man erstrebt nur das, was man bekommt. Hans wählt die erste Alternative, der Zen-Meister Linji, ein im 9. Jahrhundert lebender buddhistischer Mönch, die zweite.
Das Glück der Wunscherfüllung, welches Hans verfolgt, ist nach außen gerichtet, da man es aus der Interaktion mit der Umwelt gewinnt. Dagegen führt Linjis Weg zum Glück durch die innere Seelenruhe.
Allerdings gibt es einen Punkt, in dem Linji und Hans sich treffen. Es ist für alle Menschen, die zielorientiert denkend, die schwierige Herausforderung, „ganz im Hier und Jetzt zu sein.“ Dieser Bewusstseinszustand ist das Zentrum der Achtsamkeitslehren. Hans gelingt es, achtsam zu sein, denn, er fokussiert ausschließlich die Gegenwart. Deswegen halten die meisten ihn für einen Trottel. Naivität und Kurzsichtigkeit kann man ihm vorwerfen — doch das muss ihn nicht kümmern, denn er ist glücklich.
Dei Freiheit der Lebensgestaltung
Hans erfährt lauter glückliche Fügungen. Der Zufall bietet ihm eine Gelegenheit nach der anderen; er muss nur zugreifen. Hans´ Glück besteht in der Aneinanderreihung glücklicher Momente. Aber ist dies schon das große Glück, das wir mit der Lebenskunst zu beherrschen lernen? Muss ein Leben nicht auch als Ganzes sinnvoll sein?
Doch auch dieser Eindruck täuscht. Eine genauere Betrachtung führt uns zu einem anderen Urteil über seine Lebensweise: Hans wandert am Ende zu seiner Mutter. Dies ist der Weg zurück zu dem Ort, an dem er geboren wurde. Hier schließt sich ein Lebenskreis. Geburt und Tod rahmen als Anfangs- und Endpunkt ein ganzes Leben ein. Die Wanderung ist das Bild für einen Lebenslauf. Es geht also nicht um die Summe der einzelnen Lebenssituationen, sondern um die Einheit des Weges bzw. eines Lebens als Ganzes.
Aus dieser Perspektive wird nachvollziehbar, warum Hans den Goldklumpen nicht einfach nur nach Hause trägt und sich dabei auf keine weitere Verlockung einlässt. Dies wäre das Zerrbild eines Lebens, in dem nur eine Entscheidung gefällt und eine einzige Handlung vollzogen wird. Das ganze Leben bestünde aus dieser allgemeinen Handlung. Wir leben aber nicht „im Allgemeinen“, sondern immer in Situationen. Wir wenden unsere Vernunft nicht nur einmal quasi für das ganze Leben an, sondern immer wieder neu, unter Berücksichtigung sich wandelnder Situationen.
Da sich die einzelnen Phasen eines Lebens wie die einzelnen Stationen einer Wanderung voneinander unterscheiden, wäre es unklug, auf die Eigenarten der jeweiligen Situationen nicht einzugehen und ein ganzes Leben beziehungsweise eine ganze Wanderung lang an einer am Anfang getroffenen Entscheidung festzuhalten.
Hans entscheidet immer wieder neu
Auch wir stellen auf unserem Weg die Weichen immer wieder neu, wenn wir vormalige Entscheidungen überprüfen und unserem Leben gegebenenfalls eine neue Richtung geben. Dabei orientieren wir uns daran, wie wir unsere jetzige und mögliche folgende Lebenssituationen einschätzen. Wir lösen uns damit von bereits getroffenen Entscheidungen. Darin liegt die Freiheit unserer Lebensgestaltung.
Am Anfang des Märchens tauscht Hans sieben Jahre Arbeit ein gegen seinen Lohn, den Goldklumpen. Sollte es sein Lebensinhalt sein, diesen Klumpen zu bewahren? Würde er dann überhaupt leben? Wenn Hans nur diesen ersten Tausch vollziehen würde, an dem er in jeder weiteren Lebenslage festhält, dann müssten wir ihm die Urteilsfähigkeit absprechen.
Hans’ Wille ist es eben nicht, den Lohn ohne Verluste nach Hause zu bringen. Auf seiner Wanderung, die bildlich für sein Leben steht, fasst er immer wieder neue Absichten, die sich daraus ergeben, dass er verschiedene Situationen erlebt. Für die Verwirklichung seiner Absichten setzt er den Wert des Goldes ein. Hans trifft für sein Leben also nicht nur eine Entscheidung, sondern er entscheidet auf seinem Lebensweg immer wieder neu.
Dieses Verhalten würde ich als rational bezeichnen. Da die Realität und mit ihr die auf sie bezogenen Erfahrungen und Überzeugungen im Wandel sind, verändern sich auch die Gründe. Die Rationalität fordert also, dass der Handelnde offen ist für sich wandelnde Gründe. Er muss sein Handeln in jeder Situation neu begründen. Wer dazu nicht bereit ist, handelt nicht rational. Wir können Hans also auch als klugen Menschen bezeichnen.
Jens Wimmers
Jens Wimmers ist Dozent für Philosophie an der Universität Bamberg und Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte, Philosophie und Ethik. Der promovierte Philosoph hält zahlreiche Vorträge und hat 2015 den 1. Preis im Essay-Wettbewerb der Philosophie-Zeitschrift Hohe Luft gewonnen.
Lesetipp: Jens Wimmers, Linjis Weg zum Glück: Wie sich Rationalität und Achtsamkeit zur Lebenskunst verbinden, Springer-Verlag 2018, 12,99 Euro
Diese Sicht auf die Geschichte von “Hans im Glück” hat mich sehr bewegt. Herzlichen Dank für diesen Beitrag.
[…] allen Zeiten suchten die Menschen das Glück.Man denke beispielsweise an das Märchen, in dem Hans sich auf den Weg macht und sein Glück scheinbar immer wieder gegen ein geringeres […]