Ein Zeugnis von Lebensmut und Zuversicht
Immer wieder auf das Leben zugehen, das ist das Geheimnis von Rahel Mann. 1937 in Berlin als Jüdin geboren, hatte sie eine gefährliche Kindheit unter den Nazis. Christa Spannbauer erzählt anlässlich des 80. Geburstages von Rahel Mann am 7. Juni, wie sie in Verstecken die Nazi-Zeit überlebte, nach Israel zog und 2007 in ihre Heimat nach Deutschland zurückkehrte.
„Wir sollten nicht nur schauen, wo uns Wunden geschlagen wurden, sondern auch, wo uns geholfen wurde“, sagt Rahel Mann. Gemeinsam sitzen wir in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung in Berlin, die bis zur Zimmerdecke angefüllt ist mit Büchern und Erinnerungsstücken eines bewegten Lebens.
Nachdenklich schweift ihr Blick beim Gespräch aus dem großen Fenster. Vor allem des Ausblicks wegen habe sie diese Wohnung nach ihrer Rückkehr aus Israel gewählt. Wenn sie Zeit habe, so erzählt sie, sitze sie einfach nur auf dem Sofa und schaue in den weiten Himmel. Blicke den Vögeln nach. Den Wolken, die vorüberziehen.
Viel Zeit bleibt ihr dafür jedoch nicht. Denn so etwas wie Ruhestand kennt die tatkräftige 79-Jährige nicht. Als gefragte jüdische Zeitzeugin wird sie häufig von Schulen eingeladen und ist zu Lesungen aus dem Buch „Uns kriegt ihr nicht“ unterwegs. Daneben ist sie als Hospizhelferin tätig und begleitet Sterbende auf ihrem letzten Weg. Der Tod schrecke sie nicht, sagt sie, den habe sie schon als Kind als etwas Schönes empfunden.
Nur wenige hundert Meter Luftlinie trennen sie heute von dem Haus, in dem sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Von der Wohnungstür, an der einst ein gelber Davidstern geklebt war. Von dem dunklen Keller, in dem sie monatelang ausharren musste. “Ich habe die Nazis überlebt. Das ist das größte Geschenk überhaupt“, sagt sie gelassen.
Gefährliches Leben als Jüdin in Berlin
1937 wurde Rahel im nationalsozialistischen Berlin geboren, unehelich gezeugt in einer einzigen Nacht der Mutter mit einem polnischen Juden, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten war und schon bald darauf in Südfrankreich erschossen wurde. Sie kam zu früh zur Welt und lag die ersten Monate in einer jüdischen Kinderklinik, bevor Pflegeeltern sie zu sich nahmen.
1941, kurz vor ihrer Deportation, brachten diese das Kind zu ihrer leiblichen Mutter zurück. Doch Rahel spürt sehr schnell, dass sie nicht in das Leben der Mutter passt. Sie verbringt viel Zeit mit Frau Vater, der Hauswartsfrau, die im Parterre wohnt. “Ich mochte ihren dicken Busen und Bauch. Bei ihr fühlte ich mich wohl.” Deren Mann ist jedoch nicht nur Parteimitglied, sondern auch Blockwart. Seine Aufgabe ist es unter anderen darauf zu achten, dass die schikanösen Vorschriften gegen Juden eingehalten werden.
Als 1942 die Gestapo das Haus stürmt, um die jüdischen Bewohner zu deportieren und einer der Männer nach dem Kind greift, tritt Frau Vater energisch hinzu und zieht das Kind an sich: ‘Dat is meine Nichte. Die jehört zu mir’. Ein Moment, der über Leben und Tod entscheidet. Eine spontane Rettungsaktion, mit der sich die Arbeiterfrau in große Gefahr begibt.
Beherzt nimmt sie sich des jüdischen Kindes an. Mit der stillschweigenden Duldung ihres Mannes. „Der hat nie mit mir gesprochen, hat mich aber auch nicht verraten“, erinnert sich Rahel Mann. Nach dieser Rettung in letzter Sekunde wird sie die nächsten Jahre in wechselnden Verstecken verbringen und durch ein Netzwerk von Helfern geschleust. Die Namen ihrer Lebensretter erfährt sie nicht.
Erinnern kann sie sich an Gesichter und eindrückliche Erlebnisse, an freundliche Worte, den Geschmack von Holundersuppe mit Grießklößchen, an warme Sommertage im Schrebergarten. Schließlich nimmt die Familie des Pfarrers von Berlin-Schöneberg, Eitel-Friedrich von Rabenau, das Kind bei sich auf. Hier erfährt Rahel zum ersten Mal familiäre Geborgenheit. Pfarrer Rabenau singt ihr hebräische Lieder und Psalmen vor, damit sie ihre Wurzeln nicht vergisst.
„Erstmals in meinem Leben fühlte ich mich geliebt“, sagt sie. Sie fasst Vertrauen zur engagierten Diakonissin der Gemeinde, Schwester Frieda, die sich des Kindes schützend annimmt und es bei Gefahr versteckt. Nach einem halben Jahr der Geborgenheit muss Rahel die liebgewonnene Familie jedoch verlassen. Pfarrer Rabenau, führendes Mitglied der Bekennenden Kirche und aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wird verhaftet. Nun ist das Versteck nicht mehr sicher. Wieder nimmt sich Frau Vater der mittlerweile sieben Jahre alten Rahel an. Und versteckt das Mädchen im November 1944 im Keller des eigenen Hauses.
„Ich habe keine heile Familie gekannt“
Versteckt hinter einem großen Wandschrank verbringt Rahel die letzten Kriegsmonate in einem dunklen Kellerverschlag, dessen Fenster mit Brettern vernagelt sind. Nur wenn die Sonne scheint, dringt etwas Licht durch die Ritzen. Den Jasminstrauch, der im April 1945 vor dem Kellerfenster zu blühen begann, kann sie heute noch riechen. Ebenso den Geruch der Brandbomben, welche die Häuser um sie herum in Schutt und Asche legten.
Sie verbringt die Tage und Nächte auf einer Matratze, die auf dem nackten Steinboden liegt. Ein Bilderbuch hat sie bei sich, das sie Immer wieder anschaut. Der Förster im Buch wird zu ihrem steten Begleiter durch die Einsamkeit. Kurz nur und heimlich kann Frau Vater zu ihr kommen und sie mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Mitunter schleicht sich ein eingeweihter Hausbewohner, der junge Wolfgang Schlüter, in den Keller. Er hat ein Schulheft bei sich und lehrt das versteckte Kind Lesen. So vergehen die Monate.
„Ich habe als kleines Kind keine heile Familie, keine zärtliche Mutter, kein geborgenes Zuhause gekannt. Deswegen haben mir diese Dinge im Versteck auch nicht gefehlt“, sagt Rahel Mann heute. Oft werde sie aufgrund ihrer Kindheitserlebnisse bedauert. Sie müsse doch schrecklich traumatisiert sein, mutmaßen viele Menschen, die ihre Geschichte hören.
Doch nichts liegt Rahel Mann ferner als bemitleidet zu werden oder gar Selbstmitleid zu empfinden. „Freiheit“, so reflektiert sie, „kann man auch im Keller haben. Rosa Luxemburg hat die Freiheit im Gefängnis gefunden. Es kommt immer auf die innere Haltung an und nicht auf die äußeren Umstände.“
„Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“
In den letzten Kriegstagen befreien russische Soldaten das Kind aus dem Keller, trösten es in einer fremden Sprache, zeigen ihm Bilder von ihren Familien, um ihm die Angst zu nehmen. Sie kümmern sich um das Kind, baden es, geben ihm zu essen. Bald darauf kehrt die Mutter schwerkrank aus dem Arbeitslager zurück. Mutter und Tochter ziehen gemeinsam in ihre frühere Wohnung, doch sie bleiben sich fremd.
„Ich konnte sie einfach nicht lieben“, sagt Rahel Mann. „Innerlich saß ich noch lange im Keller, auch nach meiner Befreiung.“ Als sie von den vielen Ermordeten des Holocaust erfährt, wird sie von der Frage gemartert: „Warum bin ich davon gekommen und so viele andere nicht?“ Sie beginnt exzessiv zu schreiben, füllt 22 Tagebücher, schreibt sich alles von der Seele. „Das war meine eigentliche Therapie“, sagt sie heute.
Sie heiratet, bekommt zwei Kinder und wird Lehrerin. Nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe studiert sie Medizin und Philosophie und arbeitet viele Jahrzehnte als Psychotherapeutin und Heilpraktikerin. Den Menschen zu helfen wird ihr zum Auftrag. Dem Leben zurückzugeben, was ihr geschenkt wurde.
Rahel Mann wurde gerettet, weil andere Menschen mutig ihr Leben für sie riskierten. „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“. So steht es im Talmud, dem heiligen Buch der Juden. Und doch waren sie viele Jahrzehnte nahezu vergessen, die Stillen Helden des Nationalsozialismus, die ihren jüdischen Mitbürgern das Leben retteten. Die Handlungsspielräume nutzten, wo andere keine sahen. Die das himmelschreiende Unrecht nicht hinnahmen, sondern ihren Mitmenschen in Not beistanden.
Für den Auschwitz-Überlebenden Arno Lustiger, der viele von ihnen in seinem Buch Rettungswiderstand dem Vergessen entriss, sind sie das „kostbarste moralische Kapital ihrer Gesellschaft, weil sie die Ehre ihrer Mitbürger und der Menschheit während der barbarischsten Zeit bewahrt haben.“ An die mutige Hauswartfrau Vater, die Rahel Mann das Leben rettete, erinnert heute eine Gedenktafel in ihrem Geburtshaus in Berlin-Schöneberg.
Auf das Leben zugehen
„Bleib immer unterwegs“. So lautet der Titel eines Gedichtes von Rahel Mann, der gleichsam ein Lebensmotto zu sein scheint. Heimat, so sagt sie, sei für sie kein Ort. Ihre Heimat finde sie in der Sprache. Drei Gedichtbände hat sie in deutscher Sprache verfasst. Um die hebräische Sprache zu lernen und die Kabbala und die Thora im Original zu lesen, zog sie 1997 nach Israel. Hier widmete sie sich der Erforschung der jüdischen Mystik.
„Alle Weisheiten der Völker sind im Grunde eins“, sagt sie. „Und doch muss man sich zu dem bekennen, was man ist.“ Das tut sie. An ihrem Ringfinger trägt sie einen großen Davidstern. Nach zehn glücklichen Jahren in Israel kehrte sie 2007 nach Deutschland zurück. Sie wollte nicht erneut in einem Land leben, in dem Bomben fallen. Gefragt, was das Leben sie gelehrt habe, antwortet sie ohne zu zögern: „Immer wieder wie ein neugeborenes Kind auf das Leben zugehen, trotz aller Erfahrungen, die hinter uns liegen.“
Christa Spannbauer
Buchhinweis: “Uns kriegt ihr nicht. Als Kinder versteckt – Jüdische Überlebende erzählen”, Piper Verlag, München 2013. Darin erzählt Rahel Mann ihre Geschichte.