Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

In uns selbst Zuhause sein

Olga Tashlokovich/ shutterstock.com
Olga Tashlokovich/ shutterstock.com

Gedanken zu Ostern von Steve Heitzer

Wir müssen nach Hause zurückkehren, sagt Steve Heitzer, und damit meint er auch unser inneres Zuhause. Der Theologe und Achtsamkeitslehrer schildert anhand ausgewählter Zitate von spirituellen Lehrern, wie wir alles annehmen können, was jetzt ist. So kann Hingabe an das Leben entstehen.

Widerstand ist zwecklos. Gegen das Corona-Virus lässt sich kein Kampf führen. Die Krise konfrontiert uns mit etwas, das wir nicht mehr gewöhnt sind: Wir können als Einzelne nichts mehr tun. Niemand hätte es noch vor ein paar Wochen für möglich gehalten, dass ein winziges Virus in einer modernen, wohlhabenden und wissenschaftlich-medizinisch hoch entwickelten Gesellschaft den Stecker ziehen kann. Wir sind gezwungen zur Rückkehr in unsere Häuser. Nehmen wir die Herausforderung an?

Zünden wir ein paar Lampen an aus den Weisheitstraditionen in der Abenddämmerung, die über uns hereinzubrechen scheint:

Widerstand zwecklos

Wenn du wirklich nichts tun kannst, um dein Hier und Jetzt zu verändern, wenn du auch die Situation nicht verlassen kannst, dann akzeptiere dein Hier und Jetzt ganz, indem du jeglichen Widerstand loslässt. Dann kann das falsche, unglückliche Selbst nicht länger mit seinem Jammern, seinen Vorwürfen, seinem Selbstmitleid überleben. Das nennt man Hingabe. Hingabe ist keine Schwäche, sondern eine große Stärke. Nur ein Mensch voller Hingabe hat spirituelle Kraft. Durch Hingabe wirst du innerlich von der Situation frei.1

Was der zeitgenössische Weisheitslehrer Eckhart Tolle hier schreibt, ist im Einklang mit buddhistischer wie christlicher Spiritualität oder Lebenskunst. In der häuslichen Isolation scheinen wir allen Grund zum Hadern zu haben und doch kann es um so lohnender sein, dem Rat zu folgen, „diesen unnützen Konflikt, diesen inneren Kriegszustand aufzugeben“2, mit dem wir uns das Leben selbst noch schwerer machen.

Nichts gegen das haben, was ist – so Furcht einflößend die Ausnahmesituation sein mag. Der indische Weisheitslehrer Krishnamurti nannte das am Ende seines Lebens sein Geheimnis. Erst wenn wir einwilligen in das, was ist, können wir kraftvoll und friedvoll darauf antworten, anstatt kopflos und herzlos zu reagieren oder in Verzweiflung zu stürzen.

Akzeptiere, was innen ist

Nun, hier ist deine zweite Chance zur Hingabe: Wenn du nicht akzeptieren kannst, was außen ist, dann akzeptiere, was innen ist. Wenn du den äußeren Zustand nicht annehmen kannst, dann nimm den inneren Zustand an. Das bedeutet: Leiste dem Schmerz keinen Widerstand. Erlaube ihm, da zu sein. […]3

Ist das nicht tröstlich? Selbst unsere Gereiztheit, unser Hadern, Jammern und Klagen kann berührt, umfangen, und umarmt sein.

Was immer du voll und ganz akzeptierst, führt dich zum Frieden, selbst wenn du zulässt, dass du nicht akzeptieren kannst und Widerstand leistest.4

Wir begegnen unserem eigenen Widerstand mit einer noch größeren Akzeptanz, die letztlich nicht mehr unser Tun ist, sondern ein größeres Loslassen. Ezra Bayda spricht von „Kapitulation“.

Den Kampf sein lassen

Wenn wir das innere Chaos der Trauer mit der damit einhergehenden Panik des Abgrunds und der Trennung spüren, was ist dann notwendig, um es in uns einzulassen? Bestimmt kein vom Willen oder vom Ego gesteuerter Akt. Vielleicht ist Kapitulation das einzige Wort, um den Prozess, sich dem Verlust zu öffnen, zu beschreiben. […]

Das Üben auf dieser Ebene ist im Wesentlichen religiöser Natur, weil wir vor etwas Größerem als dem Ich kapitulieren. Wir treten in die Wirklichkeit von „dein Wille geschehe“5 ein, wo sich das Ich – das kämpfende, getrennte Selbst – in der Weite des gegenwärtigen Augenblicks auflösen kann.

Indem wir uns dem Verlust öffnen, indem wir vor dem Augenblick kapitulieren, indem wir lernen, den ungeheilten Schmerz in uns einzulassen, den wir vorher weggeschoben haben, lernen wir nach und nach, aus dem Herzen zu leben, das nur Verbundenheit kennt.

Buddhismus, Christentum und moderne Spiritualität treffen sich in ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Leid. Und auch wenn so oft die Unterschiede und das Trennende der Religionen in den Vordergrund gerückt werden, so scheint mir das Gemeinsame viel stärker: die Macht der Hingabe und die Kraft scheinbar ohnmächtigen Einlassens auf das, was ist.

Wenn es keinen Weg heraus gibt, dann gibt es immer einen Weg hindurch.6

Nie vorher habe ich das christliche Verständnis des „Kreuztragens“, der Leidensbereitschaft, ja das ganze Mysterium von Ostern in so einfachen Worten und zugleich in aller Tiefe gefunden wie in diesem Satz. Das ist nichts anderes als „der Weg des Kreuzes“, meint selbst der so säkulare Lehrer Eckhart Tolle.

Sich hergeben und entlassen

Kann man sich hergeben? Kann man sich entlassen in das große Geheimnis der Welt? Wo wir auf diese imperiale Weise mit uns selber, mit der Natur, mit den Tieren umgehen, da verlieren wir unsere passiven Stärken: die Geduld, die Langsamkeit, die Stillefähigkeit, das Hören, das Warten, das Lassen, die Gelassenheit, die Ehrfurcht und die Demut. Wir verlieren die Kunst der Endlichkeit und der Bedürftigkeit.

Bei allem Wunsch nach Selbstwirksamkeit und Selbstverwirklichung spricht der christliche Religionspädagoge von dieser „lebenserleichternden Kunst“, „sich zu lassen, sich zu vergessen“, „sich nicht zu wehren und sich selbst nicht zu beabsichtigen“7.

Der Mann lag im Sterben, verstehen Sie? […] „Er hat mir gesagt, ich hätte noch genau sechs Monate zu leben […]. Und wissen Sie was, Herr Pfarrer? Es waren die glücklichsten sechs Monate in meinem ganzen verpfuschten Leben. Die glücklichsten!“ […] – „Als der Arzt es mir mitgeteilt hat, habe ich Anspannung, Druck, Angst und Hoffnung einfach fallen lassen. Und ich bin nicht in die Verzweiflung gestürzt, sondern endlich ins Glück.“8

Der christliche Mystiker Anthony de Mello erzählt die Geschichte von einem Aidskranken in St.Louis, der in den 1980er Jahren nach der Diagnose des Arztes noch sechs Monate zu leben hatte. Ist es möglich, zum Leben zu erwachen – auch ohne dass wir dem Tod schon ins Auge blicken (müssen)? Hier, jetzt?

Zu sich selbst zurückkehren

Die Warnung könnte zum Weckruf werden. Gebetsmühlenartig wird wiederholt: Zuhause bleiben, um sich und andere nicht anzustecken. Wir sind plötzlich gezwungen, nach Hause zu kommen. Vielleicht lohnt es sich, uns nicht nur in unserem Haus aus Stein neu einzurichten, sondern auch tief in uns.

Da wir in Tirol, wo ich lebe, schon länger unter Quarantäne stehen, entschied ich mich kürzlich mit meinen Kollegen ein wöchentlich stattfindendes Achtsamkeitstraining für Mitarbeiterinnen eines großen Tiroler Unternehmens in einen Online-Kurs umzuändern.

Als wir uns zum ersten Mal alle von Zuhause aus trafen, staunten wir über das Potenzial, das die Krise offenbar bereithielt – neben den Herausforderungen und Zumutungen. Der Krisenmodus wird zur Chance, aus dem Erledigungsmodus auszusteigen und „unser Leben zurückzugewinnen“, wie der Achtsamkeitslehrer Jon Kabat-Zinn das nannte. Eine Teilnehmerin meinte:

“Ich war bisher immer auf Stress programmiert … Ich hab das Gefühl, ich war noch nie einkaufen, ohne schon an etwas zu denken, was ich später tun muss … Ich hatte noch nie vorher eine Waschmaschine eingeschaltet, ohne schon gleichzeitig zu kochen … Jetzt plötzlich habe ich Zeit, eins nach dem anderen zu tun.”

Damit formuliert die sie etwas, das manchmal als das “Wesen des Zen” beschrieben wurde. Die Verlangsamung, die uns jetzt aufgezwungen wird, kann unsere Chance sein, nicht nur aus dem Hamsterrad beruflicher und privater Umstände herauszutreten, sondern auch aus dem inneren Getriebensein, das unsere zweite Natur geworden ist. Und noch was entdeckt sie: sich selbst!

Permanent war ich angespannt, weil ich auch immer an die anderen gedacht und für sie gesorgt habe. Jetzt spüre ich zum ersten mal die kleinen Signale meines Körpers. Das ist nicht angenehm, aber ich fange an, mich selbst kennenzulernen und mich um mich zu kümmern.

Wir müssen nun in unserem Haus, in unserer Wohnung sein. Manchmal fühlt es sich an wie eingesperrt, manchmal ist es ein Heimkommen. Wir haben jetzt die Gelegenheit, uns kennenzulernen und heimzukommen. In dem Maß, wie wir lernen, bei uns selbst zuhause zu sein, verlieren die äußeren Umstände ihre Macht über uns und unser Lebensgefühl. Tief in uns ist ein Ort, der einen Frieden gewährt, der alles menschliche Begreifen übersteigt.

Foto: privat

Steve Heitzer ist Theologe, Pädagoge, Achtsamkeitslehrer und Retreat-Leiter. Er lebt seit 30 Jahren in Innsbruck, Tirol.

 

 

 

Quellenhinweise

1 Eckhart Tolle: Jetzt. Die Kraft der Gegenwart, Kamphausen, Bielefeld 20.Aufl. 2008, S. 94f.

2 Eckhart Tolle, Stille Spricht, Goldmann, München: 2.Aufl. 2003, S. 67.

3 Ebd. S. 227.228

4 Eckhart Tolle, Stille Spricht, Goldmann, München: 2.Aufl. 2003, S. 78.

5 Bayda zitiert hier Jesus im Gebet des „Vater Unser“ sowie das Gebet vor der Gefangennahme und Kreuzigung: „Wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht mein Wille geschehe, sondern deiner!“

6 Eckhart Tolle: Jetzt. Die Kraft der Gegenwart, Kamphausen, Bielefeld 20.Aufl. 2008, S. 228.

7 Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität, Radius, Stuttgart Neuauflage 2006, S. 19.37.

8 Anthony de Mello, Das Leben neu entdecken. Herder, Freiburg i.B. 2015, S.21.

 

preview-full-shutterstock_1156208422-fizkes_a
Shutterstock

Online-Abende: Kommen Sie mit uns ins Gespräch!

Online-Abende: Kommen Sie mit uns ins Gespräch!

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
2 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Lieber Herr Heitzer,
herzlichen Dank für diese Gedanken. Hat mich sehr angesprochen.
In den beiden folgenden absätzen benutzen Sie den Begriff “kapitulieren”.

Das Üben auf dieser Ebene ist im Wesentlichen religiöser Natur, weil wir vor etwas Größerem als dem Ich kapitulieren. Wir treten in die Wirklichkeit von „dein Wille geschehe“5 ein, wo sich das Ich – das kämpfende, getrennte Selbst – in der Weite des gegenwärtigen Augenblicks auflösen kann.
Indem wir uns dem Verlust öffnen, indem wir vor dem Augenblick kapitulieren, indem wir lernen, den ungeheilten Schmerz in uns einzulassen, den wir vorher weggeschoben haben, lernen wir nach und nach, aus dem Herzen zu leben, das nur Verbundenheit kennt.

Kapitulieren ist für mich ein Begriff, der mit Kriegsführung zu tun hat. Wer im Krieg kapituliert, zeigt die weiße Fahne, als Bekenntnis dafür, dass er verloren hat und sich jetzt dem Gegner unterwirft. – Ich eretze für mich den Begriff kapitulieren i ndiesem Zusammenhang durch den Begriff akzeptieren. Wenn ich etwas akzeptiere, habe ich mich mit den Inhalten auseinandergesetzt und im Verlaufe der Diskussionen und Konflikte erkannt, dass ich meine Meinung überdenken sollte, zu einer anderen Entscheidung kommen sollte. Das kann in besonderen Fällen dann auch zu einer radikalen Akzeptanz führen. aber das ist keine Kapitulation – und das ist meines Erachtens für den von Ihnen dargestellten Prozess sehr wichtig.
Viele Grüße
Jürgen Heinbokel

Lieber Jürgen Heinbokel,

leider sehe ich erst jetzt Ihren Kommentar – herzlichen Dank dafür! Ja, das ist ein entscheidender Punkt und ich bin an sich ganz bei ihnen, auch ich hätte den Begriff “Kapitulation” nie verwendet, er stammt ja von dem US-amerikanischen buddhistischen Lehrer Ezra Bayda. Ich verwende auch den Begriff “akzeptieren” und finde mich hier auch sehr in den Worten von Eckhart Tolle wieder, der auch von Hingabe spricht und davon, den Widerstand aufzugeben.
Dennoch fand ich diese Zeilen von E. Bayda sehr bemerkenswert und wenn ich noch tiefer hineinspüre, kann ich dem Begriff schon auch etwas abgewinnen: sich ganz ergeben, nicht mehr zu kämpfen und auch nicht mehr kämpfen zu wollen, indem ich auch alle Waffen abgebe und mich damit ganz “entlassen” in die Hände und die Macht von etwas Größerem – in diesem Fall eben nicht in die Hände und Macht eines Feindes, sondern (bei Jesus) eines Gottes, den er Vater nennt, wir könnten aber ebenso den Begriff Leben verwenden, sich hineingeben in den größeren Zusammenhang des Lebens! Auch der viel gelesene buddhistische Mönch und Abt eines australischen Klosters Ajahn Brahm spricht hier eine deutliche Sprache, er spricht von der “Kunst des Verschwindens”, es ist mehr als ein (schon gar nicht zähneknirschendes) “Akzeptieren”, das vielleicht nicht weit genug geht in diesem Zusammenhang. A.Brahm, The Art of Disappearing – A Path to lasting Joy – in deutsch leider: Jeder Lotos hat ein schönes Herz.
Herzliche Grüße, Steve Heitzer

Kategorien