Ein Leben ohne Konsum
Die Sadhus, Asketen Indiens, führen ein Leben fern der westlichen Konsumgesellschaft. Reporter Rainer Hörig ist einigen von ihnen begegnet. Sie widmen sich der spirituellen Suche, ohne festen Wohnsitz und persönlichen Besitz. In Indien werden sie verehrt. Fotografien von Jens Nagels.
Den kleinen Ort Trimbakeshwar findet man nicht in jedem Reiseführer. Frommen Hindus gilt die Kleinstadt, rund 200 Kilometer nördlich von Bombay oder Mumbai in den Bergen gelegen, jedoch als Heiligtum. Hier entspringt nämlich die heilige Godaveri, einer der mächtigsten Flüsse im südlichen Indien.
Ein massiver, aus schwarzem Basalt errichteter Shiva-Tempel dominiert den Ort. Zahlreiche Pilgerherbergen, kleinere Tempel und Badeteiche verleihen ihm eine spirituelle Aura. Die Hektik der modernen Zeit hat hier noch nicht Fuß gefasst.
Auf einem steilen Pfad erklimmen Pilger das mächtige Felsgebirge, das die Stadt hufeisenförmig umschließt. Die heiligen Quellen der Godaveri liegen am Fuße einer schwarzen Felswand. Der Weg führt durch Mangohaine und durch den Dschungel. Weise Männer sitzen am Wegesrand, beraten Pilger und führen Rituale aus.
Von einem kleinen Plateau steigt Rauch auf. Ein eiserner Dreizack ziert die aus Lehm geschichtete Feuerstelle, Symbol für den Hindugott Shiva. Daneben sitzt mit eingeschlagenen Beinen eine hagere Gestalt mit langem, ungepflegtem Haar, die nackte Haut mit Asche grau eingerieben.
Sinnlosigkeit des Tuns erkannt
Der Einsiedler liest in einem Buch. Gelegentlich wird er von Pilgern unterbrochen, die sich mit gefalteten Händen vor dem Nackten verbeugen und um seinen Segen bitten. Dann greift er ins Feuer und drückt den Pilgern einen Aschepunkt auf die Stirn. Ashok Giri lehrte vor ein paar Jahren noch Englisch an einem College, bevor er die “Sinnlosigkeit seines Tuns” erkannte, wie er sagt und zum Bettelmönch wurde.
„Als Kind las ich gerne die Geschichten von Valmiki und anderen klassischen Dichtern. Sie beschreiben häufig das Leben frommer Einsiedler im Wald. Das hat mich sehr beeindruckt und ich spürte den Wunsch, so wie sie zu werden. Schließlich studierte ich Naturwissenschaften und wurde Professor an einem renommierten College. Aber der Beruf ließ mir nicht genug Zeit, meinen religiösen Sehnsüchten zu folgen. Daher gab ich die Karriere auf und wurde ein Wandermönch, ein Sadhu. Nun bin ich frei und kann mich ganz der spirituellen Suche widmen.“
Das meditative Einsiedlertum tief im Wald, fernab der Annehmlichkeiten und der Vergnügungen urbanen Lebens, ist tief in der Mythologie der Hindus verwurzelt. Im klassischen Epos Ramayana, das in Indien zum Schulcuricullum gehört, zieht sich der Prinz Rama, nachdem er durch Intrigen den Anspruch auf den Thron verloren hat, mit seiner Frau Sita in eine Einsiedelei im Wald zurück.
Auch der Buddha zog viele Jahre lang als Sadhu durchs Land, bevor er durch Meditation das Wesen der Welt erkannte. Alle indischen Religionen empfehlen den Verzicht auf Gewohnheiten und Annehmlichkeiten als segensreich, als einen von mehreren Wegen, der zur Erkenntnis Gottes führt. Verzicht ist auch heute noch für viele fromme Inder alltäglich. Doch die Zeiten ändern sich.
In alten Hindu-Schriften finden sich Verhaltensregeln für Wandermönche. Ein Sadhu hat keinen festen Wohnsitz und keinen persönlichen Besitz außer Wanderstab und Bettelschale. Er lebt von Almosen, die ihm Pilger und Laiengläubige stiften.
Einige treiben die Askese so weit, dass sie nackt oder nur mit einem Lendenschurz bekleidet umherziehen. Um die Aufmerksamkeit der Götter und auch der Pilger zu erregen, stehen manche jahrelang auf einem Bein, betten sich auf Dornen oder Nägel oder fasten. Aber wer will oder kann solche Gelöbnisse schon überprüfen?
Unter dem “Heiligenschein” von Bettelmönchen verstecken sich natürlich auch Trickbetrüger und Scharlatane, die den guten Glauben ihrer Mitmenschen zur persönlichen Vorteilnahme, Geldspenden etwa, nutzen. Und auch die Globalisierung geht an den heiligen Männern nicht spurlos vorüber. Sadhus, die mit einem Handy telefonieren zählen bei Touristen zu den beliebten Fotomotiven.
Verstehen, wer ich bin
Für Pilgerfahrten, die ursprünglich mühevolle Fußmärsche nötig machten, werden nun auch gerne moderne Fortbewegungsmittel – Bus und Bahn, selbst Taxis genutzt. Und eine wachsende Zahl von “Weltentsagern” springt auf den Trend zum Hindu-Nationalismus auf und übernimmt wichtige Rollen in politischen Kampagnen der Chauvinisten. In einigen Landesparlamenten sitzen bärtige Männer mit nacktem Oberkörper, ein orangefarbenes Tuch um die Hüften gewickelt, publikumswirksam in der ersten Reihe!
Der Bettelmönch Ashok Giri ist jedoch aus anderem Holz geschnitzt, er verkörpert das Ideal des hauslosen Asketen: „Ich gehöre dem Orden der nackten Sadhus an. Wir praktizieren Enthaltsamkeit, um uns von allen Leidenschaften zu befreien, von Liebe und Sex, von Zorn und Begierde. Wir vermeiden öffentliches Aufsehen, denn es hindert uns an der Realisierung unserer Ziele. Mein Ziel ist, zu verstehen, wer ich bin, was mein wirkliches Wesen ist. Wir Hindus glauben, dass das menschliche Wesen Teil des universellen Wesens ist.“
Alle zwölf Jahre zieht es Millionen von Hindus zur „Kumbh Mela“ nach Allahabad am Zusammenfluss der heiligen Ströme Ganges und Yamuna. Hier verspricht das rituelle Bad nicht nur eine Reinigung der Seele, sondern die Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten.
Im sandigen Bett des Ganges ist eine riesige Zeltstadt entstanden, mit mehr oder weniger befestigten Wegen, mit Straßenbeleuchtung und Telefonanschlüssen. In großen Versammlungszelten halten Hinduorden öffentliche Diskurse zu religiösen Fragen ab, die von vielen Pilgern besucht werden. Eine Menschentraube verbirgt einen langhaarigen Bettelmönch, dessen fast nackter, aschebeschmierter Körper auf dornengespickten Ästen ruht. Der Asket hält die Augen geschlossen und murmelt heilige Verse. Kein Sinnesreiz kann seine Versenkung stören.
Im Zeltlager des Niranjani-Ordens sitzen aschegekleidete Sadhus um schwelende Feuerstellen und singen fromme Lieder. Ein aus Bambus und Stroh errichteter Tempel mit der Statue des Ordensgründers bildet das Zentrum des Lagers. Hier berät sich der leitende Fünferrat der Mönchsgemeinschaft. Einer von ihnen, Mahant Ramananda Puri,beschwert sich über unzureichende Infrastruktur auf dem Festgelände:
“Die Tradition schreibt vor, dass die besonders verehrten Sadhus auf Pferden und Elefanten zur Badestelle reiten. Aber die Wege hier sind so schlecht präpariert, dass die Prozession nicht stattfinden kann. Dem Vaishno-Orden hat man ein Gelände zugewiesen, das über keinerlei Wasser- und Stromversorgung verfügt. Ein Skandal! Alle unsere Proteste wurden ignoriert, daher müssen wir nun zum letzten Mittel greifen, dem Boykott des heiligen Bades!“
Das Bad der Sadhus übe einen wohltätigen Einfluss auf die Geschicke der Festgemeinde und des ganzen Landes aus, und niemand könne vorhersagen, welche schlechten Einflüsse die Oberhand gewönnen, wenn das Bad nicht stattfinden könne, warnt der Mahant. Die Boykott-Drohung zeigt Wirkung. Im Eilverfahren lässt die Regierung neue Wege zur Badestelle anlegen.
Vor zwanzig Jahren verstarb in einer Baumhütte, weitab jeder Stadt, am Ufer des Saryu-Flusses ein Sadhu, der über hundert Jahre alt geworden sein soll. Die Zeitungen waren voller Berichte über den kauzigen Asketen, der Besucher durch die Berührung mit der Fußsohle segnete. Deoraha Baba war ein V.I.P., eine „very important person“.
Großindustrielle und Minister erwiesen ihm bei der Totenfeier die Ehre. Auch der verstorbene Premierminister Rajiv Gandhi hat seine Autokolonne hier anhalten lassen, hat die hölzerne Stiege zum Baumhaus erklommen und seinen nur noch licht behaarten Scheitel mit dem Fußabdruck des Baba segnen lassen.
In Zentralindien, auf einem eintausend Meter hohen Plateau im Maikala-Gebirge entspringt die Narmada, Zentralindiens heiliger Fluss. Schon wenige Kilometer nach der Quelle stürzt er sich 24 Meter tief in eine mit dichtem Dschungel bewachsene Schlucht. In der Felswand am Ufer klafft eine natürliche Höhle, die seit Jahrhunderten von Einsiedlern bewohnt ist. Phaggulal Vanvasi sitzt am Eingang neben einem Feuer und meditiert. Er segnet vorbeiziehende Pilger und lebt von ihren Gaben:
“Früher habe ich im Bergbau gearbeitet, dann lernte ich einige der hiesigen Einsiedler kennen und wurde selbst einer. Ich will den Rest meines Lebens hier bleiben, das erscheint mir sinnvoller. Im Wald bin ich Tigern, Bären und Hirschen begegnet, doch ich fürchte mich nicht, denn ich weiß: Narmada beschützt mich. Die Göttin sorgt für mich und sie hört mir zu, wenn ich hier am Wasserfall meditiere. Hier bin ich seelig, nirgendwo sonst kann ich dieses Glück finden!”
Rainer Hörig
Rainer Hörig reiste als Student zum erstenmal nach Indien. Nach der Hochzeit mit einer indischen Deutschlehrerin ließ er sich 1989 in der südindichen Stadt Pune nieder. Er schreibt für deutschsprachige Hörfunkprogramme, Zeitungen und Magazine. www.rainerhoerig.com