Ein Interview mit der Neurologin Croos-Müller
“Körper geht immer. Er ist unser treuester Freund”, sagt die Neurologin Claudia Croos-Müller. Wir können über unsere Körperhaltung die Stimmung beeinflussen und sollten uns das in Krisenzeiten zunutze machen. Ein Interview über Embodiment und wie gezielte Bewegungen unsere psychische Gesundheit stärken.
Das Gespräch führte Agnes Polewka
Frau Croos-Müller, wie fühlen Sie sich heute?
Croos-Müller: Eine wichtige Frage, die wir uns täglich zu mehreren Bereichen unserer Person stellen und dann auch nicht einfach nur mit „gut“ beantworten sollten. Wie fühlt sich meine Psyche an? Wie fühlt sich mein Körper an? Wie fühle ich mich in meiner Gesamtheit aus Leib und Seele? Nun, um Ihre Frage zu beantworten: ich fühle mich insgesamt wohlgemut.
Lässt sich Ihr Gemütszustand an Ihrem Körper ablesen?
Croos-Müller: Ja, vom Scheitel bis zur Sohle. Mein Kopf ist aufgerichtet, meine Augen blicken neugierig umher, mein Mund lächelt, mein Rücken ist straff, meine Hände und meine Füße fühlen sich warm durchblutet an, das Herz fühlt sich leicht an: Ich spüre mich in mutiger Freude mit mir und der Welt. Das stärkt mein emotionales Wohlbefinden – ein Perpetuum mobile allumfassenden Wohlergehens.
Ist der Körper nun also der Spiegel unserer Psyche oder doch eher umgekehrt?
Croos-Müller: Körper und Psyche sind eine Einheit, sie spiegeln einander nicht nur, sondern sie ergänzen einander. Ein Hirn ohne Körper erlebt nichts und kann keine Emotionen entwickeln. Ohne Körper könnte ich keine Psyche und auch keine gefühlsmäßigen Zustände entwickeln, aber meine Psyche braucht den Körper auch als Ausdrucksmittel. Das ist übrigens auch der Unterschied zur künstlichen Intelligenz.
Mit gezielten Bewegungen können wir unsere psychische Gesundheit stärken.
Wenn wir unsere Köperhaltung verändern, können wir damit auch unsere innere Haltung verändern?
Croos-Müller: Jedes Körpererlebnis und jede aktive Körpertätigkeit verändert sofort unsere Stimmung und damit natürlich auch unsere innere Einstellung und Handlungsweisen. Vor allem – und das wird immer wieder übersehen – verändert sich dadurch unsere psychische Gesundheit. Und in der Folge auch unsere körperliche Gesundheit, unsere Lebenserwartung und Lebensqualität.
Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?
Croos-Müller: Nehmen wir einen schüchternen Menschen, der sich in einer Gruppe mit vielen unbekannten Gesichtern nicht wohlfühlt. Nun kann er mit verschränkten Armen oder Händen in den Hosentaschen, hochgezogenen Schultern am Rand des Geschehens verharren.
Diese unsichere, angstvolle Körperhaltung wird dem Gehirn gemeldet und von diesem als Bedrohung und Peinlichkeit bewertet. Die Folge ist die Produktion von Stresshormonen. Wenn dieser Mensch in diesem körperlichen Verhaltensmuster bleibt, könnte er im Laufe der Zeit eine behandlungsbedürftige soziale Phobie entwickeln und sogar anfällig für eine Gefäßerkrankung werden – aufgrund eines häufig erhöhten Stresslevels.
Wenn er sich aber vor einem gesellschaftlichen Ereignis wie Tarzan auf die Brust schlägt, herumhüpft, sich schüttelt, ist er mit einem Mal anders gestimmt. Denn es werden antidepressive Hormone über die Körper-Hirnachse produziert, die eine andere Verhaltensweise begünstigen.
Je öfter das geübt wird, desto mehr entsteht ein stärkendes Body-Mind-Muster. Und das ist mächtiger als jeder gut gemeinte verbale Ratschlag.
Ein Schwingen der Hüften und Arme stärkt Zuversicht, lustige Grimassen helfen gegen Grübeln und Verbissenheit.
Wie kann uns dieses Wissen in Extremsituationen wie der aktuellen Pandemie helfen?
Croos-Müller: Körper geht immer. Er ist unser treuester Freund, er ist unsere wahre und einzige Heimat. Bereits diese Erkenntnis kann zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kraft führen. Das energische Aufsetzen meiner Füße im Sinne eines „da muss ich jetzt durch“ stärkt meinen Mut. Ein leichtes Schwingen der Hüften und der Arme stärkt meine Zuversicht. Ein paar lustige Grimassen lockern nicht nur meine Gesichtsmuskulatur, sondern sind auch ein gutes Mittel gegen Grübeln und Verbissenheit.
Selbst in einem absoluten Lockdown habe ich meinen Körper, mit dem ich lustvolle Minimalaktivität und damit körpereigene Antidepressiva erzeugen kann. Übrigens hilft allein schon die intensive Erinnerung an eine erlebte Körperlust, um diesen Mechanismus in Gang zu setzen. Dieser sogenannte Carpenter Effekt wurde auch kernspintomografisch nachgewiesen. Selbst in größter Gefangenschaft kann ich über Gedankenfreiheit einen für mich hilfreichen Body-Mind-Effekt entwickeln.
Betrachten wir unsere Bewegungen ein bisschen genauer: Inwiefern hat unsere Motorik Einfluss auf unser emotionales Gedächtnis?
Croos-Müller: Zu dieser Frage ließen sich nun mehrere Bücher schreiben – von den unterschiedlichsten Fachrichtungen. Interessant ist zunächst, dass wir ein Körpergedächtnis haben. Dies entsteht dadurch, dass der Körper Erfahrungen macht, die er dem Gehirn mitteilt. Sie werden zusammen mit den entsprechenden Emotionen im Gedächtnis abgespeichert und können jederzeit wieder abgerufen werden.
Denken Sie ans Tanzen: Eine bestimmte Musik, ein bestimmter Rhythmus lässt Sie sofort an die passenden Tanzbewegungen denken. Vielleicht führen Sie diese auch gleich aus. Und aus Ihrem emotionalen Gedächtnis wird dazu mit Lichtgeschwindigkeit das passende erinnerte Gefühl beigesteuert. Deshalb geht übrigens das Erlernen von Unterrichtsstoff mit gleichzeitigen Freudebewegungen viel leichter.
Der Geist ist auch eine Sache des Körpers.
Nicht nur Schulen, auch die Psychotherapie profitiert von diesem Wissen. Inwieweit spielt Embodiment in der täglichen Arbeit von Therapeuten eine Rolle?
Croos-Müller: Meiner Ansicht nach noch zu wenig. Erst allmählich werden Körperangebote und Körperaktivitäten, die über Atementspannung und Muskelentspannung hinausgehen, in psychotherapeutische Sitzungen mit einbezogen.
Ein depressiver Patient, der über belastende Ereignisse berichtet und dabei immer mehr in sich zusammensinkt, könnte durch bestimmte therapeutische Aufforderungen sofortige Hilfe bekommen, die ihm mehr Energie und weniger selbstabwertende Gedanken schenkt.
Welche Aufforderungen wären das?
Croos-Müller: Sich aufzurichten und während des Erzählens Boxbewegungen auszuführen, mal nach links, mal nach rechts. Oder abwechselnd mit den Füßen aufzustampfen. Natürlich sollten die Therapeuten die Übung vormachen, mitmachen, sie begleiten, um den Klienten zu ermutigen.
Wo liegen dabei die Grenzen? Wo helfen gezielte Bewegungen allein nicht weiter?
Croos-Müller: Schwere körperliche Erkrankungen ebenso wie schwere Depressionen oder andere schwerwiegende psychische Erkrankungen bedürfen immer einer medikamentösen Grundstabilisierung. Body-Mind-Therapien können da keineswegs ein vollwertiger Ersatz sein, wohl aber erleichtern und unterstützen. Die Nebenwirkungen einer Chemotherapie lassen sich mit körpertherapeutischen Interventionen von den Betroffenen oft besser steuern, dem quälerischen Morgentief bei Depressionen kann man – in Kombination mit einem Medikament –schneller entkommen.
Wir sollten die Körperwahrnehmung im Alltag stärken.
Wie kommunizieren Körper und Gehirn?
Croos-Müller: Körpertätigkeiten und Körpererlebnisse geben über Leitungsbahnen Informationen an das Gehirn weiter und werden von diesem bewertet. In der Folge werden bestimmte Hormone und Neurotransmitter freigesetzt. Wenn ich ständig bei mir Leistungsdruck aufbauen, meine Arbeitsgeschwindigkeit steigere, meinen Muskeltonus steigere bis hin zu schmerzhaften Muskelverspannungen und körperlicher Erschöpfung, entstehen auf emotionaler Ebene Traurigkeit, Ärger oder Resignation. Dann werden Stresshormone gebildet, die unsere körpereigene Immunabwehr schwächen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Herpesbläschen, das viele von uns schon als Stressbläschen erleben mussten.
Manchmal achten wir nicht auf die Signale unseres Körpers. Wie gewinnen wir unsere Körperwahrnehmung zurück?
Croos-Müller: Dabei helfen alltägliche Übungen der Körperwahrnehmung und der Körperbegeisterung, wie sie kleine Kinder noch praktizieren, zum Beispiel meine Finger zu beobachten, wenn ich sie bewege, oder die Knie mal liebevoll zu streicheln. Es geht darum, lustvolle und spielerische Aktivitäten wieder zuzulassen und zu genießen.
Welche Rituale helfen uns dabei im Alltag?
Croos-Müller: Ich beginne damit schon am Morgen. Beim Aufwachen lege ich eine Hand auf mein Herz und die andere Hand auf meinen Bauchnabel. Ich spüre die Wärme meines lebendigen Körpers und freue mich, dass ich lebe. Mit dieser Freude gehe ich ins Bad. Dabei schwinge ich die Hüfte. Im Spiegel schaue ich mich freundlich an und winke mir zu – „Good Morning, my Darling“.
Tagsüber hebe ich immer wieder den Kopf, spitze die Lippen ein wenig und ziehe die Luft langsam wie durch einen Strohhalm ein – das entspannt meine Kiefergelenke und hilft gegen mentale Verbissenheit. Ich wiege und schaukle mich zwischendurch ein wenig hin und her, von rechts nach links, um mich zu beruhigen.
Im Treppenhaus könnte ich zwei Stufen auf einmal hinunterspringen – das bringt Spaß. Abends trommle ich auf meiner Brust herum, mal rechts, mal links. Ich sage mir: „Gut gemacht, geschafft!“ Ich gähne mehrmals und ausgiebig, bevor ich ins Bett gehe und hoffentlich gut schlafe.
Claudia Croos-Müller hat Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert und ist Fachärztin für Neurologie, Nervenheilkunde und Psychotherapie. Sie hat mehrere Bücher über die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche geschrieben und dazu die sogenannte BODY 2 BRAIN-CCM®-Methode entwickelt: ritualisierte Körperübungen zur Verbesserung des Gemütszustands und der eigenen inneren Widerstandskraft. Croos-Müller bietet Trainings und Coachings rund um die Themen Körpersprache, Resilienz und mentale Gesundheit an. Zu ihrer Website
Sie ist Autorin vieler Bücher, u.a. “Der neue Weg zu innerer Stärke. Resilienztraining”, Kösel Verlag 2015 sowie “Ich schaf(f) das! Leichte Körperübungen für mehr Lebenspower. Therapeutisches Kartenset mit 48 Übungen und 2 Neuro-Infokarten”, Kösel Verlag 2020.