Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

“Man muss sich von Klischeevorstellungen über das Leben befreien”

Fotograf unbekannt. Etty Hillesum Center
Fotograf unbekannt. Etty Hillesum Center

Wie man Leiden verwandeln kann

Die große Kunst des Lebens besteht darin, Leiden zu ertragen, sagt der Autor Steve Heitzer. In dieser Zeit des Krieges in Europa empfiehlt er die Lektüre der Tagebücher der Jüdin Etty Hillesum, die mit 29 in Auschwitz ermordet wurde. Sie hatte ein unumstößliches Vertrauen in das Leben: „Ich bin zu allem bereit, ich gehe an jeden Ort dieser Erde, wohin Gott mich schickt.“

Die folgenden Zeilen sind 80 Jahre alt und zugleich so aktuell, dass es mich fröstelte, als ich sie kürzlich entdeckte. Sie stammen aus der dunkelsten Zeit der deutschen und europäischen Geschichte:

“Das eine Mal ist es ein Hitler, ein andermal meinetwegen ein Iwan der Schreckliche, einmal ist es Resignation, ein andermal sind es Kriege, Pest, Erdbeben oder Hungersnot. Entscheidend ist letzten Endes, wie man das Leiden, das in diesem Leben eine wesentliche Rolle spielt, trägt und erträgt und innerlich verarbeitet und dass man einen Teil seiner Seele unverletzt über alles hinwegrettet.”

Diese Zeilen schrieb die Jüdin Etty Hillesum 1 kurz vor ihrer Deportation im Juli 1942. Sie starb 1943 in Auschwitz, keine 30 Jahre alt. Bis in ihre letzten Tage hinein inmitten unsagbaren Leides konnte sie mit tiefer Freude im Kontakt bleiben; mit Glück und unerschöpflicher Liebe, so groß das Unrecht und so tragisch die Lebensumstände auch waren.

Sie verkörperte, was der große buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh als Wesen der Meditation beschrieb: “Das Leben ist schrecklich und wundervoll. Meditationspraxis beinhaltet, mit beiden Aspekten des Lebens in Berührung zu sein.” 2

Sie erkannte die große Kunst des Lebens darin, Leiden zu ertragen. Und damit sind wir auf der Spur einer der wichtigsten Aspekte jeder spirituellen Praxis, die uns in die Tiefe des Lebens führt. Leider wird die Achtsamkeitspraxis manchmal missbraucht, wenn sie als spirituelles „Wellness“ verstanden wird.

In Frieden sein heißt, mit dem Kämpfen aufhören

Eine entscheidende Herausforderung des Lebens besteht darin, mit dem Leid und dem Unheil in der Welt umzugehen. Es ist bezeichnend, dass zwei so große spirituelle Traditionen wie Buddhismus und Christentum auf ganz unterschiedliche Weise gerade dieses Thema gemeinsam haben:

Die vier edlen Wahrheiten, die manchmal als buddhistisches Glaubensbekenntnis bezeichnet werden und sich um das Leid, seine Ursachen und seine Aufhebung drehen. Und der „Weg des Kreuzes“, den der säkulare Weisheitslehrer Eckhart Tolle einmal so schlicht und treffend so beschrieben hat: „Wenn es keinen Weg heraus gibt, gibt es immer einen Weg hindurch.“ 3

Auch der Islam gibt mit seiner Wortwurzel die Richtung vor. Navid Kermani schreibt in seinem wunderbaren Buch über den Islam 4: „‚Islam‘ leitet sich vom Wort ‚Frieden‘ ab, salam oder hebräisch schalom, und bedeutet wörtlich: sich unterwerfen, sich hingeben, Frieden schließen.“

So verständlich und notwendig sich der Kampf gegen das Leiden in unser modernes Lebensgefühl eingeprägt hat, weisen die spirituellen Traditionen einen anderen Weg: Den der Hingabe. Frieden beginnt damit, selbst mit dem Kämpfen aufzuhören.

Es ist für uns alle wichtig, aktuell nicht in die Falle der zwei beherrschenden Fragen unserer Zeit zu tappen: Wovor sollten wir als nächstes Angst haben? Und wer ist schuld? Wir können auch den Menschen nicht helfen, die sich vor diesem Krieg in Sicherheit bringen müssen, indem wir uns hineinreißen lassen in den Strudel von Angst und Kampf.

Mit allen Aspekten des Lebens in Berührung sein

Im Rahmen einer Achtsamkeits-Tagung stellte ich bei meinem Workshop “Mystik und Achtsamkeit” kürzlich die Frage in den Raum: Wo finden wir Halt, wenn Angst und Gewalt mächtig werden? Was bedeutet in Zeiten wie diesen Achtsamkeit, Meditation und Gebet?

Sie können nicht dazu da sein, um uns gute Gefühle zu machen, uns „drüberzuschwindeln“ über die großen Ängste und Sorgen dieser Zeit. Sie bieten vielmehr Zuflucht und Schutzraum, um unsere Gefühle und Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen, und letztlich auch „Leiden in Frieden zu verwandeln“ (Eckhart Tolle 5).

Um Leben und Welt tief zu betrachten und mit allen Aspekten des Lebens in Berührung zu sein: mit der Kälte des Krieges und der Wärme der Sonne in diesen Tagen. Mit den Schrecken der Bomben und dem Leid der Flüchtenden – und mit unserem Mitgefühl. Mit den großen Fragen des Lebens, die sich in Zeiten wie diesen erst recht wieder stellen: Was ist diese Welt? Was ist unser Leben? Wofür bin ich da?

„Ich gehe an jeden Ort der Erde, wohin Gott mich schickt“

Statt oberflächlichem „positivem Denken“ gehen Gebet und Meditationspraxis über alles Denken und Fühlen hinaus. Sie sind der Raum, wo Vertrauen und Hingabe wachsen können, Hingabe in dem Bewusstsein unterfangen zu sein, auch dann wenn die Welt um uns abzustürzen droht und wir selbst im Fallen begriffen sind.

„Die Blätter fallen, fallen wie von weit,/ als welkten in den Himmeln ferne Gärten;/ sie fallen mit verneinender Gebärde./ Und in den Nächten fällt die schwere Erde/ aus allen Sternen in die Einsamkeit./ Wir alle fallen. Diese Hand da fällt./ Und sieh dir andre an: es ist in allen./ Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen/ unendlich sanft in seinen Händen hält.“ R.M. Rilke

Niemand hat das vielleicht so radikal und zugleich überzeugend beschrieben wie Etty Hillesum, die selbst so oft auf Rilke-Gedichte zurückgriff.

“Das Leben ist so grotesk und überraschend, so ungeheuer vielfältig, und nach jeder Wegbiegung ist die Aussicht wieder völlig anders. Die meisten Menschen haben Klischeevorstellungen über das Leben im Kopf, man muss sich innerlich von allen gewohnten Vorstellungen und Parolen befreien, man muss jegliche Geborgenheit aufgeben und den Mut haben, auf alles zu verzichten, jede Norm und jeden konventionellen Halt loslassen und den großen Sprung in den Kosmos zu wagen, und dann, erst dann wird das Leben überreich und unerschöpflich, auch im tiefsten Leid. …

Von Tag zu Tag fallen immer mehr Wünsche und Sehnsüchte und Bindungen zu anderen Menschen von mir ab, ich bin zu allem bereit, ich gehe an jeden Ort dieser Erde, wohin Gott mich schickt, und ich bin bereit, in jeder Situation und bis in den Tod Zeugnis davon abzulegen, dass das Leben schön und sinnvoll ist und dass es nicht Gottes Schuld ist, dass alles so gekommen ist, sondern die unsere.

Uns ist die Möglichkeit gegeben, alle unsere Fähigkeiten zu nutzen, aber wir müssen noch lernen, mit unseren Möglichkeiten umzugehen. Es ist, als fielen jeden Augenblick mehr Lasten von mir ab, als wären alle Grenzen für mich aufgehoben, die heutzutage die Menschen und Völker trennen.

In manchen Augenblicken kommt es mir vor, als wäre das Leben für mich durchsichtig geworden, und auch die Herzen der Menschen, ich schaue und schaue, und begreife immer mehr, und ich werde innerlich immer friedvoller; in mir ist ein Vertrauen auf Gott, das mich zunächst durch sein rasches Wachstum fast ängstigte, das mir nun aber immer mehr zu eigen wird.” 7. Juli 1942

“Kann man sich hergeben in das große Geheimnis der Welt?”

Und schließlich dürfen wir auch über die Sprache hinausgehen, wie Etty Hillesum es tut – bei aller Leidenschaft, die sie selbst für das Schreiben hat:

“Wörter wie Gott und Tod und Leiden und Ewigkeit muss man wieder vergessen. Man muss wieder so einfach und wortlos werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen. Ausschließlich nur noch sein.”

Die Kraft von Achtsamkeit, Meditation und Gebet liegen nicht nur in der Macht, Veränderungen zu ermöglichen, sondern auch in der Hingabe, im Lassen:

„Wir fühlen uns allein als Macher gerechtfertigt und unser Selbstverständnis bricht zusammen, wo wir als Macher an unsere Grenzen stoßen. Kann man in einer solchen Kultur auf etwas anderes hoffen als auf die eigene Stärke? Kann man sich hergeben? Kann man sich entlassen in das große Geheimnis der Welt?“ 6

Bei aller verständlicher Verzweiflung, doch irgendetwas gegen diesen Krieg machen zu müssen, lädt uns die Jüdin Etty Hillesum auch zu einer Lebenskunst ein, wieder so einfach und wortlos zu werden wie das wachsende Korn oder der fallende Regen.

Etty Hillesum (1914-1943) war eine niederländisch-jüdische Intellektuelle. Während der deutschen Besetzung der Niederlande führte sie in den Jahren 1941 bis 1943 ein Tagebuch, das die Kraft ihrer Spiritualität zum Ausdruck bringt: „Das denkende Herz – Die Tagebücher der Etty Hillesum 1941-43“, Rowohlt Taschenbuch 1985. Sie wurde im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

Quellenhinweise

1 Etty Hillesum: Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Freiburg, Herder-Verlag 2022.

2 Thich Nhat Hanh: Einfach Entspannen. München, O.W.Barth-Verlag 2016, S.63.

3 Eckhart Tolle: Jetzt. Die Kraft der Gegenwart. Bielefeld, J.Kamphausen Verlag, 20.Aufl. 2008, S.228.

4 Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. München, Hanser-Verlag 2022, S.35f.

5 A.a.O., 227ff.

6 Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität. Stuttgart, Radius-Verlag, Neuausgabe 2006, S.37.

 

Foto: privat

Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Seminar- und Retreatleiter und lebt in Österreich. Neben Achtsamkeit und Pädagogik ist einer seiner Schwerpunkte die interspirituelle Begegnung von moderner Achtsamkeitspraxis, zeitgenössischer Weisheitslehre und der Botschaft Jesu. Zu seiner Website

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