Wie wir die Mitte finden
Die einen wollen im mehr haben, die anderen halten den Minimalismus hoch. Wie viel brauchen wir wirklich? Die Philosophin Ines Eckermann geht der Sucht nach Mehr auf den Grund und rät zur Gelassenheit, also bewusst zu kaufen und zu verbrauchen. Zufrieden zu sein mit dem, was wir haben, bringe Ruhe in unser rastloses Leben.
Alles oder nichts – das scheinen aktuell die beiden Pole unserer Warenwelt zu sein: Die einen frönen maßlos dem Konsum und füllen ihre Einkaufstaschen, bis das Konto sich leert. Die anderen leeren ihre Wohnungen, bis nur noch ein Echo die Wohnung füllt.
Dabei geht es selten wirklich nur um das, was wir noch nicht oder nicht mehr haben. Denn eigentlich wollen viele mit den Dingen in ihrem Zuhause auch ihr eigenes Leben zurechtkuratierten.
Vieles kaufen wir nicht nur für uns, sondern auch für andere: Wir kaufen Bewunderung, Neid und Anerkennung. Wir drücken unseren eigenen Wert oft auch in Dingen aus, mit denen wir unsere Einkaufstüten füllen. So kaufen wir mit einem edlen Duft oder einem Maßanzug kaufen immer auch ein kleines Puzzleteil für unser Image.
Weniger leben, mehr konsumieren
In dem Kinderbuch „Momo“ von Michael Ende, versucht einer der grauen Herren von der Zeitsparkasse diesen Ansatz in die Köpfe der Menschen zu pflanzen: „‚Also Momo – nun höre mir einmal gut zu!‘ begann er schließlich. ‚[…] worauf es im Leben ankommt, ist, dass man es zu etwas bringt, dass man was wird, dass man was hat. Wer es weiter bringt, wer mehr wird und mehr hat als die anderen, dem fällt alles übrige ganz von selbst zu: Freundschaft, Liebe, Ehre und so weiter.‘“
Beim Lesen beschleicht uns das Gefühl, dass sich Ende hier weniger an Kinder als an die das Buch vorlesenden Eltern richtet. Denn Kinder haben solche Gedanken nicht von Geburt an. Vielmehr wachsen unsere Wünsche mit uns.
Die grauen Herren versuchen, uns die Zeitverschwendung auszutreiben. Wir sollen uns weniger mit Banalitäten aufhalten, sollen weniger mit unseren Freunden Geschichten erfinden, sondern mehr arbeiten, produktiv sein. Weniger leben, dafür mehr konsumieren. Aber Momo macht da nicht mit. Mit seiner wuschelköpfigen Hauptfigur macht Ende Werbung für ein bewusstes Leben, das sich um anderes als Arbeit, Geld und Zeitsparen dreht.
Pleonexia: Die Sucht nach Mehr
Damit treten Momo und Ende gegen einen ebenso mächtige wie alten Gegner an: Die Pleonexia. Damit bezeichneten die Philosophen der griechischen Antike die Sucht nach Mehr.
Schon Aristoteles bemängelte in seiner Nikomachischen Ethik, dass viele Menschen dem Geld und dem Ruhm nachrennen würden – und damit am Glück vorbei. Das Wort Pleonexia ist ein verlorenes Juwel unseres Wortschatzes: In wenigen kurzen Silben drückt es den Antrieb vieler unserer Taten aus. Es setzt sich zusammen aus den altgriechischen Worten pleon (mehr) und echein (haben) – also mehr haben. Dabei verweist es auf zwei leicht unterschiedliche Ideen:
Ersten der Wunsch nach mehr: Seinem Ursprung nach ist die Pleonexia die generelle Neigung, mehr von allem haben zu wollen. Sie ist die klassische Variante der Gier, des Strebens nach mehr, die vergleichsweise wertfrei ist. Sie bezieht sich zunächst nur auf uns und unsere eigenen Besitzwünsche.
Zweitens Habsucht und Missgunst: Die zweite Variante der Pleonexia ist das Mehr-haben-Wollen auf Kosten anderer. Die Gier will nicht nur generell mehr, sie will mehr als andere haben. Für Aristoteles ist diese Form der Pleonexia eine Spielart der Ungerechtigkeit.
Ob Pleonexia nur der Wunsch nach Dingen ist, die uns gar nicht zustehen, oder der tatsächliche Besitz davon, darüber waren sich die antiken Philosophen uneinig. Einig waren sie sich jedoch darin: Pleonexia giert nach mehr, als wir verdient haben.
Gerecht wäre es, wenn wir für unseren Besitz, unsere Fähigkeiten oder die Wertschätzung unserer Mitmenschen immer auch eine Gegenleistung erbringen. Etwa dafür zu arbeiten, zu üben oder sich in einem Ehrenamt für andere einzusetzen. Wenn wir dafür nichts tun wollen, dann steht es uns auch nicht zu.
Kauf dich glücklich – oder lass es sein
Und zunehmend sehen wir auch, dass unser Planet die immer hungrige Pleonexia gar nicht mehr sättigen kann. Schon Mahatma Gandhi mahnte: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“
Doch die grauen Herren der Konsumwelt wollen uns kein Brot oder warme Wintermäntel verkaufen. Sie wollen, dass wir Alufelgen, funktionslose Dekoelemente und tütenweise Billigklamotten kaufen.
Denn ein Gedanke frisst sich durch unsere Konsumgesellschaft: Unser Glück hängt davon ab, möglichst gut mit Konsumgütern ausgestattet zu sein. Insgeheim versprechen wir uns doch etwas Glück von dem, was wir uns ins Leben kaufen. Doch Wissenschaft und Philosophie bezweifeln, dass uns materielle Dinge wirklich glücklich machen können.
Dagegen sehen manche im Minimalismus eine Lösung für unseren wachsenden Konsumhunger, also den Besitz auf ein Minimum zu begrenzen. Doch auch er bringt einige Schwierigkeiten mit sich und kann nicht zur Orientierung dienen.
Denn wenn man definieren und vorgeben will, wie viel notwendig ist, ignoriert man die Dynamik unseres Lebens. Das hält zahlreiche Blogger:innen, Autor:innen und YouTuber:innen, die sich auf das Thema spezialisiert haben, dennoch nicht davon ab, stolz die „richtige“ Anzahl von T-Shirts, Unterhosen und Büchern zu empfehlen. Sicher können wir uns mit ihnen freuen, dass sie mit derart wenigen Dingen zufrieden sind. Unter Druck setzen sollten wir uns mit diesen Abmessungen allerdings nicht.
Die Balance finden
Wie finden wir also die Balance zwischen den Extremen? Zwischen blinder Pleonexia und dem kargen Minimalismus? Auch hier dürfen wir unseren Blick in die Antike richten: Damals galt der Weg durch die goldene Mitte als Tugend.
Aristoteles gibt uns ein Beispiel: So liege der Mut zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Heute würden wir den Mut also wohl als aktives Leben zwischen Basejumping und dem dauerhaften Verwachsen mit der heimischen Couch verorten. Wer sich also weder unbedacht in Gefahr bringt noch alle Risiken scheut, der hat die Mitte gefunden.
Als Tugend galt in der Antike also eine ausgeglichene Charaktereigenschaft. Wir könnten also sagen, dass zwischen Pleonexia und radikalem Verzicht die Konsumgelassenheit liegt.
Und die darf für jeden Menschen anders aussehen. Denn Tugenden lassen sich nicht berechnen oder mit dem Lineal vermessen, denn diese Mitte gestaltet sich für jeden Menschen anders.
So sammelt eine Familie mit kleinen Kindern wahrscheinlich deutlich mehr Gegenstände in ihrer Wohnung als ein Austauschstudent, der nur für einige Monate in der Stadt ist. Während sich bei den einen Bauklötze, Bilderbücher und Stofftiere in einer soliden Schicht auf dem Fußboden ausbreiten, reicht dem anderen ein Rucksack voll Kleidung, ein Laptop und vielleicht eine Gitarre für den besonderen Charme der akademischen Boheme.
Der Bedarf ist jeweils sehr unterschiedlich, ebenso sind es die finanziellen Mittel und die Lebenssituation. Eine eindeutige und mathematisch berechenbare Mitte würde also weder der jungen Familie noch dem Austauschstudenten gerecht werden.
Ruhe und Frieden in der Einkaufstasche
Wir müssen also gar nicht alles wegwerfen, bis nur noch hundert Dinge übrigbleiben. Wir können auch dafür sorgen, dass sich die Dinge erst gar nicht ungenutzt in unserer Wohnung ansammeln.
Konsumgelassenheit bedeutet nicht, nicht zu konsumieren. Es bedeutet, mit Gelassenheit bewusst zu kaufen und zu verbrauchen. Konsumgelassenheit entsteht, wenn wir unseren tatsächlichen Bedarf realistisch einschätzen und uns nicht blindlings von unrealistischen Werbeversprechen oder sozialen Medien zum steten Konsum verleiten lassen.
Wenn wir lernen, die Freude realistisch einzuschätzen, die uns das gekaufte Teil bringen wird, entspannt sich unser Konsumdrang. Dadurch lernen wir, zufrieden mit dem zu sein, was wir haben. So kehrt etwas mehr Ruhe in unser sonst so rastloses modernes Leben ein. Und dann herrscht vielleicht statt Einkaufsstress und übersteigerten Erwartungen wirklich Ruhe und Besinnlichkeit zu Weihachten.
Ines Maria Eckermann kam in Haltern am See zur Welt, ging im Sauerland zur Schule und lebte danach in Mittelamerika. Später machte sie einen Bachelor in Spanisch und einen Doktor in Philosophie. Nebenbei heuerte sie als freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Medien an. Seither ist sie dem Glück auf der Spur und engagiert sich im Umweltschutz