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Kunst: Wie man die eigene Anschauung vertieft

Monet, Vetheuil im Sommer/ Everett Collection
Monet, Vetheuil im Sommer/ Everett Collection

Über das Projekt “Kunst sehen”

„Kunst sehen“ ist für Menschen gedacht, die ihre Wahrnehmung vertiefen wollen. Es beruht auf Vorträgen des Kunstwissenschaftlers Michael Bockemühl (1943-2009). Dieser formulierte vier Fragen für die Begegnung mit einem Kunstwerk. Mike Kauschke über eine neue Art, sich Kunst zu nähern und dabei sich selbst besser zu verstehen.

Wann waren Sie das letzte Mal im Museum? Und wieviel Zeit haben Sie den einzelnen Kunstwerken gewidmet? Gab es ein Bild, eine Skulptur, eine Installation, die Sie besonders in den Bann gezogen hat, sodass Sie stehenblieben und sich etwas mehr Zeit nahmen, um das Werk zu betrachten?

Mir ging es vor einiger Zeit so mit der Installation „Zeig deine Wunde“ von Joseph Beuys im Lenbachhaus München. Das Werk besteht unter anderem aus zwei Leichentragen, zwei Forken, zwei Eisenblechschachteln und Kreidetafeln, die an der Wand angebracht sind mit der Aufschrift „Zeig deine Wunde“.

Irgendetwas zog mich beim Vorübergehen an und ich blieb stehen, musterte zunächst die Dinge, die ich sah, ihre Fremdheit, ihre Abnutzung und merkwürdige Kombination. Ich verfolgte die Zusammenstellung, die Gegenüberstellung, die Komposition der Gegenstände und was daraus vielleicht zu lesen war. Langsam entstand eine Beziehung, eine Resonanz mit dem Werk.

Die Frage nach der Verletzlichkeit des Lebens, nach Vergänglichkeit und Tod stellte sich mir. Ich fragte mich, wo meine Wunden sind und wie ich sie verberge oder zeige. Ich reflektierte darüber, wie wir in unserer Gesellschaft mit Tod und Sterben umgehen.

Von diesen Überlegungen wandte sich mein Blick wieder neu den Elementen der Installation und ihren Wechselwirkungen, der Atmosphäre, die davon ausging, zu, und ich sah neue Dinge, wie die Ausgaben einer italienischen Zeitschrift, die titelt „Der Kampf geht weiter“.

So versunken stand ich dort wohl eine Stunde und hatte den Eindruck, dass das Kunstwerk begonnen hatte, mit mir zu sprechen, dass ich mir durch das Sehen und Wahrnehmen immer neue Ebenen des Werkes erschloss. Und damit auch Empfindungen, Anschauungen, Überlegungen in mir, die mir Neues, Rätselhaftes und Klärendes über mich selbst und die Welt aufzeigten.

Vier Fragen für die Begegnung mit einem Kunstwerk

Solch ein Sehen braucht Zeit. Schätzungen sagen, dass wir in Museen ca. fünf Sekunden mit einem Kunstwerk verbringen, um dann zum nächsten weiterzugehen. Ein tieferes Wahrnehmen der Kunst erfordert auch Absicht, Interesse und Übung. Der Kunstwissenschaftler Michael Bockemühl (1943-2009) war ein Meister dieser Wahrnehmungskunst und gab seine Erkenntnisse aus diesen Sehprozessen in öffentlichen Vorträgen in Witten weiter.

Darin nahm er sich jedes Mal eine Epoche oder einen Künstler vor, um sich seinem Werk sehend, anschauend, wahrnehmend zu nähern. Dabei ging es ihm vor allem darum, den Zuhörenden Wege des Sehens aufzuzeigen. Er erklärt: „Ich möchte in diesen Vorträgen weniger dozieren, als vielmehr versuchen, mit Ihnen zusammen immer wieder Zugänge zu probieren, um etwas der Erfahrung, der eigenen Erprobung zugänglich zu machen.“

Auf diesem Suchen nach immer neuen Zugängen leiteten ihn vier Fragen, die er auch seinen Studierenden an der Universität Witten/Herdecke vermittelte:

  1. „Was fällt auf?“ Was kann ich in der Begegnung mit einem Kunstwerk sehen, die Form, die Struktur, die Farbe.
  2. „Wie bewegt sich mein Blick?“ Wie bewegt sich mein Sehen entlang der Formen und Linien eines Bildes, einer Skulptur?
  3. „Wie tritt das Kunstwerk mit mir in Beziehung?“ Was erregt meine Aufmerksamkeit, macht mich hellhörig, verunsichert mich? Was verändert sich, wenn ich unterschiedliche Perspektiven einnehme, das Werk von nah und fern betrachte?
  4. „Was bewegt sich in mir?“Was regt sich in mir durch die Betrachtung des Werkes als Frage, Gedanke, Reflexion, Empfindung, Assoziation?

Aktive Rolle des Betrachters

David Hornemann, ein Schüler von Bockemühl, berichtet von einer Art Initiationserlebnis mit seinem Lehrer bei einer Reise nach Florenz. Dort stellte Bockemühl den Teilnehmenden die Aufgabe, mit diesen Fragen drei Stunden Michelangelos „David“ zu betrachten.

Für Hornemann öffnete sich dadurch eine neue Welt der vertieften Anschauung, die er heute an seine Studierenden an der Uni Witten/Herdecke weitergibt. Mit ihnen zusammen gibt er die Vorträge Bockemühls als Buchreihe „Kunst sehen“ heraus.

Für viele der jungen Menschen ist dies eine ebenso einschneidende Erfahrung. Andrea Kreisel, die an der Herausgabe der Bände mitarbeitete, erklärt dazu in einem Interview mit evolve: „Bockemühls Grundfrage, Fällt Ihnen irgendetwas auf?, irritiert. Natürlich fällt etwas auf, immerhin stehen wir vor einem Kunstwerk. Diese Frage führt an die Punkte, die mich an dem Kunstwerk irritieren, denn gerade auch an den Brüchen und Irritationsmomenten ist viel wahrnehmbar.“

Bockemühl wollte genau diese Irritation erreichen, in der wir uns einem Kunstwerk nicht in dem Wissen nähern, das wir schon darüber oder über den Künstler angesammelt haben, sondern es ganz aus der Anschauung neu entdecken und für uns erschließen. Er erklärt: „Der Künstler ermöglicht, was der Anschauende verwirklicht!“ Hier kommt dem Betrachtenden also eine aktive Rolle beim erschließenden Sehen des Werkes zu.

Der Zwischenraum der Atmosphäre

In Bockemühls Vierschritt der Betrachtung kommen wir dem Werk immer näher, von dem, was uns auffällt, was wir im Sehen erschließen bis zu dem, was sich in uns an Empfindungen und Erkenntnissen bildet.

In dieser „Wechselbeziehung zwischen sehendem Subjekt und wahrgenommenen Objekt“ erleben und vollziehen wir „den zarten Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit im Sehen“, wie Hornemann ausführt. In einer solchen Wechselbeziehung entsteht ein Zwischenraum zwischen Betrachtenden und Werk, zwischen Subjekt und Objekt, in dem unsere gewohnte gegenständliche Trennung durchlässig werden kann.

Wir kennen wohl alle diese Erfahrung, dass bestimmte Kunstwerke eine ganz besondere Atmosphäre ausstrahlen, die wir aufnehmen und spüren können und in der uns ein neuer Raum des Empfindens und Erkennens eröffnet wird.

Diesen Zwischenraum der Atmosphäre können wir auch als Resonanz erleben, wie es der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt. Kunstbetrachtung eröffnet solche Resonanzräume, in denen ein Kunstwerk zu uns sprechen kann und wir darauf antworten können durch unsere sich einlassende Aufmerksamkeit oder darin, wie wir uns als Menschen durch dieses Schauen verwandeln lassen.

Sich selbst als schöpferisch wahrnehmen

Andrea Kreisel beschreibt diese wandelnde Kraft der Kunstbetrachtung so: „Die Kunstbetrachtung ist eine Schnittstelle, an der sich die Wahrnehmung mit meinem Standpunkt, meinem Denken und meinem Reflektieren verbindet. Ich finde, das ist für meine Generation besonders wichtig, weil uns so viele Möglichkeiten offenstehen und wir spüren den Druck, diese Möglichkeiten auch unbedingt nutzen zu müssen.

Die Kunstbetrachtung bietet eine Orientierung, um sich nicht darin zu verlieren, sondern sich selbst als schöpferisch wahrzunehmen, auch wenn wir ‚nur‘ schauen. Darin können wir spüren: Da passiert nicht nur die Welt um mich herum, sondern ich bin auch ein wesentlicher Teil davon und kann sie mitgestalten.“

Bockemühl selbst sah in einer Entwicklung der Wahrnehmung, einer „Wahrnehmungswissenschaft“, einen notwendigen Schritt, um die Ideale der Aufklärung vollends zu verwirklichen. Dem Mut, frei den eigenen Verstand zu gebrauchen, wollte er den Mut, frei die eigene Wahrnehmung auszubilden, zur Seite stellen.

So kann sich der Charakter veredeln und sich eine „schöne Seele“ bilden, die wahrhaft frei ist und ethisch handeln kann: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonisieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung,“ schreibt Friedrich Schiller in „Die ästhetische Erziehung des Menschen“.

Sehen, nicht denken

Ein neues Sehen kann unseren Blick auf das Leben als Ganzes verändern, wie Andrea Kreisel aus ihrer Erfahrung mit Mitstudierenden beschreibt:

„Eine Freundin aus dem sozialen Bereich hat beschrieben, dass sie die Kinder, die sie betreute, viel tiefer und freier wahrnehmen konnte. Sie merkte, ob sie den Kindern aus ihrer eigenen Vorstellung begegnet oder ob sie offen ist für das, was sie wahrnimmt, und sich dadurch der Blick auf die Kinder verändert.

Wirtschaftsstudierende berichten, dass es ihnen leichter fällt, etwas größer zu denken und das Ganze mit in den Blick zu nehmen und nicht nur in Zahlen zu denken. Kunstbetrachtung ist also weniger eine Methode oder ein Werkzeug, die man anwenden kann, sondern eher eine bestimmte Haltung.“

Die mit hervorragendem Bildmaterial ästhetisch gestalteten Bände der Reihe „Kunst sehen“ inspirieren dazu, Kunst neu zu erleben, denn, so Hornemann, „die Kunst wird nur dann wirksam, wenn wir beim Sehen aktiv werden.“

Oder um es mit Wassily Kandinsky zu sagen: „ … öffnen Sie Ihr Auge für die Malerei. Und denken Sie nicht! (…) Fragen Sie sich, wenn Sie wollen, ob Sie dieses Werk entführt hat in eine ihnen bisher unbekannte Welt. Wenn ja, was wollen Sie mehr?“ Vielleicht ist es also wieder einmal Zeit für einen Museumsbesuch, für den Sie dieses Mal etwas mehr Zeit einplanen könnten, die vier Fragen von Michael Bockemühl im Gepäck.

Mike Kauschke ist Autor, Übersetzer, Dialogbegleiter und Redaktionsleiter des Magazins evolve. Zu seiner Website

Mehr Infos zum Projekt „Kunst sehen“ von Michael Bockemühl

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