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“Wir brauchen eine Rebellion der Liebenden”

Foto: Peter von Felbert
Die Autorin Marica Bodrožić |
Foto: Peter von Felbert

Interview mit der Schriftstellerin Marica Bodrožić

„Es ist erschreckend, was Menschen sich gegenseitig antun“, sagt die Schriftstellerin Marica Bodrožić. Doch das ist nur die Oberfläche. Tief in uns gibt es eine „Liebeslandschaft“, die uns mit allem Leben verbindet. Ein berührendes Gespräch über Verletzlichkeit, innere Ethik und die Kraft der Sanftmut.

Die Schriftstellerin Marica Bodrožić hat mehrere preisgekrönte Romane und Gedichtbände veröffentlicht. In Essays bewegt sie auch ethische Fragen.

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Ihre Essays widmen sich ethischen Fragen, aber auf eine innerliche Weise. In „Die Rebellion der Liebenden“ schreiben Sie, dass sich Ethik nicht verordnen lässt. Wie meinen Sie das?

Bodrožić: Was ich im Grunde meine, ist eine ethische Selbsterziehung. Wenn man tief genug in sich reist, dann gibt es einen ethischen inneren Kompass zu entdecken.

Es geht mir vornehmlich um die Fähigkeit, nach innen zu hören und die eigenen Überschriftungen durch die Biografie, durch kulturelle Codes, vielleicht auch durch eigene Gewalterfahrungen lesen zu lernen.

Mit einem seelischen Blick kann der ethische Kompass im Inneren freigelegt werden. Wenn ein Mensch ganz tief in seiner eigenen Verletzlichkeit sich selbst berührt hat, weiß er um die Kostbarkeit des Lebens, um seine eigene Ausgesetztheit.

Es gibt eine ganz tief in uns angelegte Liebeslandschaft, die zugleich auch eine ethische Instanz ist, die uns mit anderen Lebewesen, mit unserem Planeten, mit Tieren, mit Menschen, mit Umständen, mit Situationen verbindet.

Diese innere Stimme zu suchen, zu finden, zu berühren, mit ihr im Gespräch zu sein, empfinde ich als eine meiner Lebensaufgaben.

In meinen Texten schaue ich die Leuchtpunkte in meinem eigenen Leben an.

In „Mystische Fauna“ schreiben Sie von der Liebe der Tiere, was ein ungewöhnlicher Blickwinkel ist, weil wir oft nur über unsere Liebe zu den Tieren sprechen. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Bodrožić: Es ist eine der tiefsten Erfahrungen meines Lebens, von den Tieren angeblickt zu werden. Wenn wir tief in unsere innere Landschaft reisen, fühlen wir alle: Wir sind nicht allein. Es gibt immer etwas, das zurückblickt.

Die Tiere sind für mich Mittler zwischen dem Lebendigen. Wir wissen, wie es um unsere Welt bestellt ist, wenn wir sehen, wie wir die Tiere behandeln. Mit welcher Wucht wir sie einsperren und unnatürlichen Bedingungen aussetzen.

Sie schreiben über eigene Erlebnisse, z. B. mit Tieren oder in den Konflikten ihrer Kindheit in Jugoslawien. Und Sie nehmen diese Erlebnisse sehr ernst, folgen ihnen in die Tiefe. Warum ist Ihnen eine solche Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem eigenen Erleben so wichtig?

Bodrožić: Diese Ernsthaftigkeit hilft mir, dem inneren Sehen nachzugehen. Wir erleben bestimmte Ereignisse in unserem Leben, an denen etwas sichtbar wird. Da spüren wir den ethischen Kompass.

Jeder Mensch hat seine Erlebnisse und Muster, die zu betrachten ungeheuer schön sein kann. Dadurch werden wir der Architektur unseres Lebens gewahr, die in der Literatur erzählt werden kann.

Dabei gibt es die Stern-Momente, Augenblicke, die in uns aufleuchten als ein Muster, das unser Leben ist. In meinen Texten schaue ich diese Leuchtpunkte in meinem eigenen Leben an, die oft mit Schmerzpunkten verbunden sind, weil ich immer mehr das Gefühl habe, dass die Welt kein Versteck ist, sondern ein sichtbarer Ort des Lebens.

Jeder, der das Bedürfnis aufgegeben hat, zurückzuschlagen, ist rebellisch liebend.

Ihr neues Buch heißt „Die Rebellion der Liebenden“. Was verstehen Sie unter Liebe in diesem Zusammenhang?

Bodrožić: Mir geht es um die Rebellion der Liebenden in ihrem eigenen Inneren. Dadurch erschaffen sie eine andere Welt in sich selbst und können sie nach außen tragen.

Jeder Einzelne, der sich verändert, verändert die Welt. Jeder Einzelne, der das Bedürfnis aufgegeben hat, zurückzuschlagen, ist rebellisch liebend. Das ist sehr schwer in einer Welt, die auf Kampf und Krieg, auf Haben und Vernichten ausgerichtet ist.

Wenn jemand mit einer Waffe vor einem steht, kann er überhaupt nichts fühlen, außer dass er die Waffe benutzt. So ist es auch in uns selbst: Wenn wir bewaffnet sind mit bestimmten Positionen und Blickweisen, mit Gedanken des Kämpfens und Vernichtens, können wir gar nicht empfinden, wie schön es ist, sich in eine Sehnsucht nach Frieden und Schönheit zu begeben.

Aber das geht nicht ohne die eigene Verletzlichkeit, die eigene Ohnmacht, die Erfahrung der tiefen Ausgesetztheit und dem Bedürfnis, in Sanftmut zu handeln.

Im größeren Horizont der Sanftmut liegt eine ungeheure Kraft. Auf diesen Horizont gehe ich zu.

Wir haben eine Kraft in uns, die verletztlich und stark zugleich macht.

Was bedeutet diese Sanftmut für Sie?

Bodrožić: Diese Sanftmut ist das Wunder, das uns sieht und das wir immer wieder üben, sei es im eigenen Leben, in einem ruhigen Moment wie in einer Meditation oder in einer Yogaübung oder bei einem Spaziergang oder beim Zuhören.

Frieden, Sanftmut und Liebeskraft können wir nur in unserem eigenen Leben herstellen. Das ist verbunden mit allem anderen und wirkt. Ich bin ganz sicher, dass das Lebendige auf allen Ebenen des Seins miteinander spricht. Das Mitgefühl und die Tiefe des Erlebens aus einem selbst ist mit der Welt verbunden, strahlt in die Welt.

Sich so auf die Welt einzulassen, erfordert auch eine innere Stärke. Wo finden Sie diese Kraft?

Bodrožić: An der äußersten Grenze zwischen Leben, Tod und Verwandlung gibt es eine starke innere Kraft, die um sich selbst weiß. Diese Grenze ist einerseits mit dem Ich zu bereisen, andererseits ist sie Teil von etwas Größerem, ein transzendenter Moment, eine Verbindung zwischen Himmel und Erde.

Diese Kraft macht verletzlich und stark zugleich. Und sie bringt auch eine echte, authentische Sprache mit sich. Die katholische Mystikerin Teresa von Avila hat einmal vom Absterben gesprochen. In unserer Welt haben wir eine ungeheure Angst vor dem Absterben. Wir werden geschält, um immer mehr zur inneren Landschaft vorzudringen. Das tut auch weh.

Aber wenn wir einmal auf der Reise sind, dann gibt es nur die Reise. Und auf dieser Reise können wir gar nicht anders, als verletzlich zu sein und das ethische Handwerkszeug zu erlernen.

Daraus entstehen tiefe Verbindungen zu anderen Wesen und auch aufrichtig mitfühlende Blicke auf Konfliktregionen, wie wir es jetzt zum Beispiel in Israel und Palästina sehen.

Es ist ungeheuer erschreckend, was Menschen sich gegenseitig antun.

Wie können wir in einer Zeit der Kriege und Konflikte zu einer solchen Wahrnehmung der Verbundenheit finden?

Bodrožić: Es ist ganz wichtig, sich den Blick für das menschliche Wesen zu bewahren. Und das kann man nur, wenn man mit sich selbst in Berührung bleibt, wenn man sich selbst kennt und den eigenen Platz in der Welt fühlt.

Dann kann man genauer sehen, wie die Mechanismen der Gewalt funktionieren und verzichtet freiwillig auf Projektionen.

Das Denken in Feindschaften ist weit verbreitet. Die Menschen kommen aus diesem Denkmuster erst heraus, wenn sie bereit sind, in sich selbst und damit auch in Gemeinschaft, ein neues Muster zu erlernen.

Als ich 18 war, fingen die jugoslawischen Kriege an. Ich habe gesehen, was das mit den Menschen macht, wenn sie sich mit der einen Seite identifizieren und den Krieg befeuern. Er findet gleichsam auch in ihnen selbst statt und das tötet das eigentliche Sehen.

Ich fragte mich: Wieso bekriegen sich die Menschen, die vor drei Jahren zusammen Kaffee getrunken haben? Jetzt sind sie auf einmal Feinde. Es braucht einen inneren Raum, um solche Fragen zu stellen.

Aushalten heißt auch, etwas halten zu können.

Um in dieser Welt der Katastrophen nicht auch noch selbst mit seinem eigenen Blick zum Destruktiven beizutragen, ist die Kenntnis historischer Begebenheiten vonnöten.

Sonst ist es zerstörerisch, ein paralleler kriegerischer Gewaltakt, den man in den sogenannten sozialen Medien erleben kann. Es ist sehr wichtig, zurückzutreten, zu schauen und auch mitzuleiden.

Es ist so ungeheuer schmerzvoll, was in der Ukraine und im Israel-Palästina-Konflikt passiert. Da ist es einfacher ist, sofort scheinbare Wahrheiten in die Welt zu werfen, statt zu fühlen, wie ungeheuer erschreckend es ist, dass wir Menschen uns so etwas antun.

Aushalten heißt auch, etwas halten können. Letzten Endes leben wir in einer Zeit, in der wir bereit sein müssen, alle kollektiven Identitäten aufzugeben im Sinne eines Friedens, der uns allen ein liebendes Gefüge schenkt.

Wenn wir Identitäten transformieren und in ein großes Gefühl einer Menschheitsfamilie überführen, wenn wir verstehen, dass der Einzelne Teil eines großen Menschheitsgebäudes ist und alles andere nur ein Weg dorthin ist, dann werden wir Möglichkeiten finden, anders miteinander zu sprechen und zu leben.

Marica Bodrožić wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die bisher in siebzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis und dem Mannes-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Marica Bodrožić lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg. www.marica-bodrozic.de

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