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Mit Mitgefühl ärgerlich sein

TeodorLazarev/ shutterstock.com
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Anleitung zum Umgang mit Emotionen

Was tun, wenn starke Emotionen wie Ärger und Zorn uns überwältigen? Die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle hat mit ihrer „Angemesenheitsprüfung“ einen Leitfaden entwickelt, mit Emotionen kraft des Denkens gut umzugehen. Dafür schlägt sie vier Schritte vor, eine Situation zu durchdenken.

Wer kennt es nicht, dass einen starke Emotionen überwältigen, seien es Ärger, Zorn, Angst, Schwermut oder Begehren? Wenn wir uns nicht genau bewusst machen, was alles in solchen Momenten eine Rolle spielt, kann es geschehen, dass wir Dinge tun oder sagen, die wir hinterher bereuen.

Wer geistig wach und offen bleiben und seine moralische Integrität wahren will, muss Wege finden, mit emotionalen Ausnahmezuständen gut umzugehen. Dies bedeutet, dass man zunächst einmal innehält, um das emotionale Geschehen wahrzunehmen und anzunehmen. Dann geht es darum, sich innerlich damit auseinander zu setzen, statt Problematisches womöglich sofort nach außen zu projizieren.

Die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle hat mit ihrer „Angemessenheitsprüfung“ einen Leitfaden entwickelt, mit Emotionen kraft des Nachdenkens umzugehen. Sie schlägt vier Schritte vor: von der Bestimmung der jeweiligen Emotion über eine realitätsbezogene Prüfung ihrer Bedeutung bis hin zu der Frage, wie man sie angemessen ausdrücken könnte.

Über die vier vorgeschlagenen Schritte kann man herausfinden, wann Affekte überlebenswichtig bzw. hilfreich für unser Leben sind und wann sie uns eher schädigen bzw. andere verletzen und damit unsere Beziehungen gefährden.

Die folgenden Schritte sind als Orientierung und Einladung zur Selbstbildung zu verstehen. Ihre Umsetzung sollte der jeweiligen Situation angepasst werden. Das erfordert viel Übung, Mühe, Geduld, vor allem Nachsicht mit uns selbst und anderen. Besonders in einer akuten Situation kann es sein, dass wir zu aufgewühlt für diese Übung sind und abwarten müssen, bis das innere Gewitter vorüber ist.

Doch später, sobald wieder Ruhe eingekehrt ist und wir ein wenig Abstand zu den Ereignissen gewonnen haben, ist es uns vielleicht möglich, die folgende Angemessenheitsprüfung Punkt für Punkt durchzugehen. So können wir das, was geschehen ist, distanzierter und damit auch sachlicher – situationsgerechter – reflektieren. Wir können so möglicherweise erkennen, dass Emotionen nicht zwangsläufig die besten Ratgeber sind, sondern manchmal auch Irrtümer mit sich führen.

Gewiss ist: Der nächste Sturm wird nicht lange auf sich warten lassen. Doch mit zunehmender Übung wird es leichter, sich nicht spontan und kopflos mit aufkommenden Emotionen zu identifizieren. Mit der Zeit können wir lernen, ihren intensiven Handlungsimpulsen nicht blind zu folgen, sondern nachzudenken und ein Stück innere Freiheit zu gewinnen.

Anders gesagt: Nachdem wir uns eine Weile am Geländer dieser Übung entlang gehangelt haben, lernen wir uns allmählich besser kennen. Wir entwickeln ein Gespür für uns selbst und unsere typischen Reaktionsmuster. So lernen wir nach und nach, besser und einfühlsamer mit uns selbst uns anderen umzugehen.

Die Angemessenheitsprüfung von Bennent-Vahle

1. Schritt – Innenschau: Zuerst gilt es, die betreffende Emotion zu bestimmen. Zu fragen wäre: Was wird auf der körperlichen Ebene signalisiert, z.B. eine negative Wallung, ein niederdrückendes Gewicht, ein dumpfes Brennen? Ist es Ärger, ist es Zorn, Neid, Eifersucht oder gar Hass?

Dieser erste Schritt einer ehrlichen Innenschau stellt bereits eine große Herausforderung dar. Denn erstens ist es grundsätzlich schwer, das innere Geschehen genau zu erfassen. Ich benötige geeignete Begrifflichkeiten, um meine inneren Erfahrungen möglichst differenzierend und zutreffend beschreiben zu können.

Zweitens fällt es in der Regel schwer, emotionale Erregungszustände bei sich selbst überhaupt wahrnehmen zu wollen. Wir schrecken davor zurück, solche Verfassungen bei uns selbst zuzugeben und einzugestehen, die uns als abhängig, bedürftig oder gar übelwollend kennzeichnen. Gerade Menschen, die sich dem Guten verschrieben haben, verleugnen nur allzu gerne ihre antisozialen Regungen. Meistens weigern wir uns einzuräumen, dass unsere Handlungsweisen Ausdruck unklarer Gefühlslagen oder Launen sein könnten.

2. Schritt – Abgleich mit der Realität: Danach gilt es zu überprüfen, ob das Geschehen/Ereignis, auf das sich die Emotion bezieht, einen realen Gehalt besitzt bzw. adäquat interpretiert wird.

Habe ich es tatsächlich mit einem Aggressor zu tun? Liegt dort tatsächlich eine giftige Schlange oder vielleicht nur ein gewundener Stock? Geht von dem herumschwirrenden Insekt wirklich eine Gefahr aus? Hat meine Kollegin die Tür tatsächlich mit Absicht laut ins Schloss geworfen oder gab es womöglich einen Windstoß?

Auch dies ist keine leichte Aufgabe, denn in der Regel neigen wir dazu, am Gängelband unserer spontanen Affekte Tatsachen zu verdrehen oder anderen etwas zu unterstellen. Bereits vorhandene Zu- oder Abneigungen beeinflussen unsere Reaktionsweisen, so dass wir – je nachdem – aus einem harmlosen Vorgang eine Staatsaffäre machen oder umgekehrt die niederträchtige Handlung eines Sympathieträgers bagatellisieren.

3. Schritt – Überprüfung: Sind wir nach sorgfältiger Prüfung hinsichtlich der Tatsachen zu etwas mehr Klarheit gelangt, so wäre zu hinterfragen, ob unsere jeweilige Emotion, z.B. unser Zorn, nicht möglicherweise eine Erwartung enthält, die einer kritischen Beurteilung schwerlich standhält.

Zu fragen wäre: Verdient das Verhalten eines Anderen tatsächlich Zorn? Offenbart es nicht eher ein lässliches Vergehen. Erweist es sich aus der Nähe betrachtet nicht sogar als sehr gut nachvollziehbar und akzeptabel? Bin ich tatsächlich berechtigt, mich dadurch in meiner Sphäre angegriffen oder beeinträchtigt zu fühlen? Oder erhebe ich möglicherweise selbst übertriebene, ja unhaltbare Ansprüche, weil ich nur meine eigenen Interessen in Betracht ziehe?

4. Schritt – Ausdruck der Emotion: Sollte ich nach eingehender Erwägung der Punkte 1 bis 3 zu dem Schluss gelangen, dass mein Zorn, meine Angst etc. durchaus angebracht ist, so wäre im Anschluss genau zu bedenken, ob und wie ich im jeweiligen Einzelfall dieser Emotion Ausdruck verleihe.

Besonnenheit im Handeln ist unerlässlich. Hier ergibt sich eine ganze Palette von Fragestellungen. Erneut kommt es darauf an, sich das eigene Selbstbild und Selbstverhältnis nachdrücklich bewusst zu machen. Auf dieser Basis kann allmählich ein konstruktiver Umgang mit Emotionen gelingen, der das menschliche Miteinander nachhaltig verbessert.

Im Falle des Zorns erscheint es mir zentral, diese Emotion primär als Hinweis auf mögliches Unrecht zu verstehen. Sollte die Prüfung tatsächlich eine Berechtigung des Zorns ergeben, so empfiehlt es sich trotzdem nicht, diesem Impuls freie Bahn zu lassen. Packt uns nämlich starker Ärger oder Zorn, so steigt das Verlangen, es dem anderen heimzuzahlen. Es ist deshalb nahezu in jedem Fall ratsam, auf ein Abflauen dieser Emotion hinzuwirken: mindestens einmal darüber zu schlafen, ist schon seit Seneca ein wertvoller Hinweis.

Die Lektüre der Schrift De ira (Über die Wut) von Seneca ist auch heute noch hilfreich. Es gibt eine Reihe von Grundhaltungen, die uns in die Lage versetzen, uns besser zu verstehen und zugleich anderen gerecht zu werden, wie z.B. Selbstrelativierung, Verzeihensbereitschaft und Besonnenheit. (Heidemarie Bennent-Vahle. Mit Gefühl denken, Verlag Karl Alber 2013.)

Wenn man etwas verbessern will, kommt es darauf an, auch berechtigte Emotionen richtig zu regulieren. Wichtig ist etwa, dass die Art und Qualität einer Beziehung ausschlaggebend dafür ist, wie viel unmittelbaren Emotionsausdruck ich dem Gegenüber zumuten kann bzw. darf.

Einem Kind oder einer labileren Person, die nur über ein geringes Potential der Abgrenzung und Gegenwehr verfügt, sollte nicht zu viel emotionaler Überschwang aufgebürdet werden. Zur Vermeidung unserer eigenen emotionalen Verzerrungen ist oftmals der Austausch mit Vertrauenspersonen hilfreich. Kurzum: Hier gibt es vieles zu bedenken.

Heidemarie Bennent-Vahle

Foto: Jo Magrean

Dr. Heidemarie Bennent-Vahle, Philosophin und Logotherapeutin, betreibt eine Philosophische Praxis in Henri-Chapelle/Belgien. Sie ist Vorsitzende der IGPP (Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis) und Mitherausgeberin des Jahrbuchs. Sie ist Mitglied des BVPP (Berufsverband Philosophische Praxis), wo sie u. a. auch ausbildend tätig ist.

Neuere Buchveröffentlichungen: „Glück kommt von Denken – Die Kunst das eigene Leben in die Hand zu nehmen“ (Herder-Verlag 2011); „Mit Gefühl Denken – Einblicke in die Philosophie der Emotionen“ (Alber-Verlag 2013). Mit U. Gahlings u. R. Kozlejanič (Hg.): „Lebensdenkerin: Liebe zum Denken – Praxis des Lebens – Weisheit der Liebe“ (Albunea-Verlag 2014).

Ein längerer Beitrag der Autorin über ihre Angemessenheitsprüfung erscheint im Herbst 2018 in dem Buch: Thomas Gutknecht, Heidemarie Bennent-Vahle, Dietlinde Schmalfuß-Plicht (Hg.): Fürsorge und Begegnung. Jahrbuch der IGPP, Band 6 (2017/2018). Berlin 2018.

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