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Moderne Welt in Trance

Filipe Frazao/ shutterstock.com
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Ein Weckruf aus dem Amazonas

Erderwärmung, Artenschwund, Zerstörung der Wälder – die moderne Gesellschaft ist auf einem zerstörerischen Weg. Das Volk der Achuar im Amazonas-Regenwald spricht von einem „kollektiven Trancezustand“. Vivian Dittmar über eine ungewöhnliche Idee, die moderne Welt für einen neuen Traum zu begeistern.

Das indigene Volk der Achuar in Peru und Ecuador ist eine uralte Kultur, deren Ältesete und Schamanen seit Urzeiten die Botschaften der Träume empfangen und deuten. Ende der achtziger Jahre hatten die Achuar wiederkehrende Träume und Visionen, dass eine große Bedrohung auf ihr Volk zukommen würde.

Als sie sahen, was der Kontakt mit der Außenwelt und ihrem Durst nach Erdöl dem Land und den Kulturen ihrer indigenen Nachbarn antaten, wurde ihnen das volle Ausmaß der Bedrohung bewusst. Doch statt gegen die Bedrohung anzukämpfen, reichten die Achuar der modernen Welt die Hand, um eine Partnerschaft einzugehen.

Als Ruf der Achuar 1995 tausende Kilometer entfernt von einer kleinen Personengruppe im Westen gehört wurde, entstand die Pachamama Alliance. Pacha Mama ist ein Wort aus dem Quechua, einer südamerikanischen Sprache aus der Zeit vor der spanischen Invasion, und bedeutet “Mutter Erde” oder “die heilige Präsenz von Himmel, Erde und allem was lebt”.

Einen neuen Traum träumen

Heute ist die Pachamama Alliance eine der erfolgreichsten Organisationen, die in Südamerika indigene Völker dabei unterstützt, ihre Rechte wahrzunehmen und ihre Stimme hörbar zu machen. So war die Arbeit der Pachamama Alliance beispielsweise ausschlaggebend für eine weltweit einmalige, bis vor einigen Jahren noch scheinbar undenkbare Änderung des ekuadorianischen Grundgesetzes. Dort sind nun die Rechte der Natur als eigenständig anerkannt und juristisch verankert. Ein bahnbrechender Bewusstseinswandel, der das Interesse anderer Staaten geweckt hat.

Doch das ist nur ein Teil der Arbeit der Pachamama Alliance. So dankbar die Achuar auch für die tatkräftige Unterstützung bei der Sicherung ihres Lebensraumes waren, sie machten sich zu keinem Zeitpunkt Illusionen über das wahre Ausmaß der Herausforderung. Um ihren Lebensraum nachhaltig zu schützen, würden Gesetzesänderungen und Gerichtsprozesse bei Weitem nicht ausreichten.

Mithilfe ihrer Traumbotschaften hatten die Ältesten und Schamanen der Achuar gesehen, dass die eigentliche Ursache für die Zerstörung des Regenwaldes in einem kollektiven Trancezustand zu finden sei, den sie den “Traum der modernen Welt” nennen. Sie sahen, dass ihre Chance auf eine lebenswerte Zukunft davon abhing, ob es gelingen würde, die moderne Welt aus diesem Traum aufzuwecken und einen neuen Traum zu träumen.

Und sie sahen, dass dies nicht nur für sie galt, sondern gleichermaßen für alle Lebewesen auf diesem Planeten. Bill Twist, einer der Mitbegründer der Pachamama Alliance, formulierte das so:

“Den Traum der modernen Welt zu ändern ist sicher eine große Herausforderung, manche würden sagen, sogar unmöglich. Aber wir nahmen die Bitte der Achuar sehr ernst. Durch die gemeinsame Arbeit mit ihnen haben wir erkannt, dass wir in der modernen Welt tatsächlich in einer Art Trance leben — ein Traum, der nicht nur den Regenwald zu zerstören droht und mit ihm die Lebensweise der Achuar, sondern auch die Gesundheit und das Wohlergehen unseres ganzen Planeten. Unsere Gesellschaft ist auf einem zerstörerischen Weg, und überall sagen die Experten, dass wir nur noch begrenzt Zeit haben, um die Dinge zu ändern.”

Die Weltsicht verändern

Lange Zeit wusste niemand so recht, wie man diese scheinbar unlösbare Aufgabe angehen könnte. Doch zehn Jahre nachdem der erste Ruf aus dem Regenwald vernommen wurde, startete die Pachamama Alliance eine Initiative, die sie selbst als Experiment bezeichnete: das Symposium “Welt im Wandel“ war geboren.

Das Symposium ist eine mehrstündige Veranstaltung, in deren Verlauf Menschen mit dem vollen Ausmaß der derzeitigen Situation konfrontiert werden und zugleich an die Ursprünge dieser Situation im eigenen Bewusstsein hingeführt werden. Haben wir die Ursprünge in uns selbst und in unserer Herkunftskultur erst einmal erkannt, wird schnell deutlich, dass ein neuer Traum nicht nur möglich, sondern bereits im Entstehen ist.

Die Pachamama Alliance skizziert diesen Traum so: Eine ökologisch nachhaltige, sozial gerechte und spirituell erfüllende menschliche Präsenz auf dem Planeten Erde. Was als Experiment begann, wurde zu einer Erfolgsgeschichte.

Die Veranstaltung entwickelte innerhalb von kürzester Zeit eine Eigendynamik und breitete sich mit Hilfe von Tausenden ausgebildeten Volontären in über 80 Ländern aus. Heute haben bereits mehrere Hunderttausend Menschen an einem Symposium teilgenommen und eine nachhaltige Veränderung in ihrem Selbstverständnis und ihrer Weltsicht erfahren.

Seit 2011 engagiert sich die Be the Change Stiftung für die Verbreitung des Formats im deutschsprachigen Raum. Anfang 2017 wurde ein weiterer wichtiger Meilenstein gesetzt: Das ehemals nur live angebotene Symposium gibt es nun auch als kostenlosen, selbst steuerbaren Onlinekurs.

Entwicklungshilfe mal ganz anders

Die Achuar sind mit ihrem Ruf nicht alleine. Immer mehr indigene Völker erheben ihre Stimme und machen uns auf die fatalen Konsequenzen unseres gedankenlosen Strebens nach Geld und Macht aufmerksam. Über Jahrhunderte haben wir uns aufgrund unserer technischen Enwicklung diesen “Wilden” weit überlegen gefühlt. Heute stehen wir aufgrund der extremen Beschleunigung der letzten 150 vor dem Abrgrund des Grabes, das wir uns durch unseren technischen und wirtschaftlichen Fortschritt geschaufelt haben.

Wenn wir nun den Mut haben, in den Spiegel zu blicken, den indigene Völker uns anbieten, haben wir die Chance, unsere eigentliche Menschlichkeit wieder zu entdecken. Neben der angeblichen oder auch tatsächlichen Entwicklungshilfe in Sachen Technik steht nun eine ganz andere Form der Entwicklungshilfe an: eine Entwicklungshilfe des Bewusstseins.

Die indigenen Völker der Erde reichen uns nach Jahrhunderten des Missbrauchs, der Verfolgung und der Ausbeutung mit unvergleichlichem Großmut die Hand. Haben wir den Mut, sie anzunehmen?

Vivian Dittmar

Axel Hebenstreit

Axel Hebenstreit

Vivian Dittmar ist Trainerin für emotionale und soziale Kompetenz sowie Autorin mehrerer Bücher, unter anderem “Gefühle & Emotionen – Eine Gebrauchsanweisung: Wie emotionale Intelligenz entsteht”. Sie ist Mutter zweier Kinder und gründete 2009 die Be the Change Stiftung für kulturellen Wandel. Zu ihrer Website

Anfang April 2017 startet sie ihren ersten Onlinekurs „Gefühle als Kraft“

Onlinekurs “Welt im Wandel”

Weitere Beiträge von Vivian Dittmar auf Ethik heute:

Emotionale Intelligenz reicht nicht

Erziehung: Grenzen setzen um jeden Preis?

 

 

 

 

 

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