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Nicht mehr brauchen, nicht mehr müssen

Eva Blanco/ Photocase
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Freiheit, anders gedacht

Angesichts der Energiekrise macht das Wort Verzicht die Runde, ein rotes Tuch für freiheitsliebende Menschen. Doch welche Freiheit ist gemeint? Und könnte es eine befreiende Erfahrung sein, weniger zu brauchen, fragt Achtsamkeitslehrer Steve Heitzer. Eine Anregung, sich der Fülle des Lebens zu öffnen.

Viel ist in diesen Tagen vom Verzicht die Rede. Nach der Pandemie sorgt nun Putin mit seinem Krieg für Turbulenzen. Nach all den Entbehrungen in der Pandemie – geht uns jetzt der Treibstoff aus?

Als vor ein paar Jahren die Begriffe „Flugscham“ und „Zugstolz“ aufkamen, interviewte ein ZEIT-Journalist den streitbaren Ökonomie-Professor Nico Paech. Paech sprach so klar und unmissverständlich aus, was alle wissen, aber kaum jemand hören möchte:

„Wenn Sie mit einem bestimmten Geldbetrag maximalen ökologischen Schaden anrichten wollen: Kaufen Sie sich ein Flugticket […] Woher nimmt ein Mensch auf einem begrenzten Planeten das Recht, derart über seine Verhältnisse zu leben? Zumal wir am ökologischen Abgrund stehen.“ Paech ist bekannt dafür, dass er – obwohl international als Referent angefragt – nirgends hinfährt, wo er nicht mit dem Zug hinkommt und auf Flüge konsequent verzichtet.

Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein?

Für die einen ist „Verzicht“ ein rotes Tuch, ein Kampfbegriff der „Gutmenschen“, ein Angriff auf die Freiheit. Für andere eine Notwendigkeit, gar ein Hilfeschrei, um endlich die Kehrtwende hin zu einem Leben zu schaffen, das die Erde bewahrt.

Viele in den westlichen Gesellschaften heute sind aufgewachsen in einem Wohlstand, der selbstverständlich geworden ist und reflexhaft verteidigt werden will, sobald jemand am Tischtuch zieht. Natürlich spreche ich hier nicht von Menschen, die am Existenzminimun leben; man muss es sich leisten können, weniger zu haben. Gleichzeitig steigt die Akzeptanz für die Bereitschaft zu grundlegenden Änderungen unseres Lebensstils.

Wenn wir es nur schafften, in die Tiefe vorzustoßen und die Herzen zu gewinnen, anstatt nur an die Vernunft und die Moral zu appellieren! Vermutlich werden es nicht Willensanstrengungen sein, die unsere persönliche wie gesellschaftliche Kehrtwende einleiten werden.

Willensanstrengungen greifen zu kurz, erfassen uns nicht tief genug. Ethisches Verhalten gelingt nur, wenn es aus einer inneren Kraft schöpft, die mit einer tiefer liegenden Befreiung zu tun hat als die äußerliche Freiheit, die wir gerne grenzenlos hätten.

Verzicht behält für viele den Geschmack eines widerwilligen Einlenkens. Dagegen steht eine befreiende Erfahrung, nicht mehr zu brauchen, nicht mehr zu müssen.

Geschichten von genügsamen, zufriedenen Menschen

Diogenes im Fass ist bekannt für seine Bedürfnislosigkeit. Als Alexander der Große ihn, der im Fass wohnt, besucht und anbietet, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, meint der nur: „Geh mir aus der Sonne!“ Aber seine Freiheit geht noch tiefer:

Der Philosoph Diogenes aß zum Abendbrot Linsen. Das sah der Philosoph Aristippos, der ein angenehmes Leben führte, indem er dem König schmeichelte. – Sagte Aristippos: „Wenn du lerntest, dem König gegenüber unterwürfig zu sein, müsstest du nicht von solchem Abfall wie Linsen leben.“- Sagte Diogenes: „Wenn du gelernt hättest, mit Linsen auszukommen, brauchtest du nicht dem König zu schmeicheln.“

Machen wir es wie Diogones, drehen wir den Spieß um. Genügsamkeit ist kein Mangel. Genügsamkeit ist Freiheit. Dann geht es nicht um Verzicht, sondern um Fülle. Reich ist nicht, wer viel hat, sondern wer wenig braucht. Auch das eine bekannte Zuspitzung einer Werte-Umkehr.

Anders leben wirkt

In der Bibel erzählt der Evangelienschreiber Lukas die Geschichte von Zachäus, einem Zollpächter, also Steuereintreiber, einem reichen, gesellschaftlich geächteten Mann. Zachäus wurde dafür berühmt, dass er durch die Begegnung mit Jesus sein halbes Vermögen hergibt und das, was er zu Unrecht genommen hatte, vierfach zurückerstattet. Auch wenn diese Wende der Höhepunkt der Geschichte ist, ist das Entscheidende die Frage, wie er dazu kommt.

Wie so oft in solchen großen Geschichten um Jesus kommt man zum Kern der Sache, wenn man fragt, was Jesus nicht tut. Jesus hält ihm keine Moralpredigt, er gibt ihm keinen dezenten Hinweis, dass er doch genug hätte und ein bisschen was an die Armen abgeben könnte. Jesus fordert ihn zu gar nichts auf. Kein Wort über seinen Beruf, seine Kollaboration mit der römischen Besatzungsmacht, seinen Wohlstand auf Kosten der Armen.

Wofür dieser Zachäus noch bekannt ist, ist seine kleine Gestalt. Der Dreikäsehoch musste auf einen Baum klettern, um Jesus sehen zu können. Jesus muss gar nichts, aber er bleibt stehen und lädt sich in sein Haus ein. Hinter den Machenschaften und Verstrickungen eines Zöllners sieht er den kleinen Menschen mit der großen Sehnsucht.

Wer sich nur über „die Leute“ aufregt, die weiterhin fliegen und SUV fahren, wird nichts erreichen, außer den Widerstand vergrößern. Die Kritisierten werden ihm nur Neid vorwerfen und Moralapostel nennen.

Die Weisen kennen keinen erhobenen Zeigefinger. Ihre Kraft liegt in der inneren Freiheit, zu der sie vorgedrungen sind. Der reiche Zöllner – Sinnbild unserer eigenen Verstrickungen in einer globalisierten Welt, wo wir die Reichen sind – wird nicht bekehrt, sondern wird frei, sich zu lösen von dem, was ihm nicht gut tut – und den anderen auch nicht. „Nichts mehr haben, woran irgendetwas festkleben kann“, wie Ajahn Brahm es ausdrückt.

Auf großer Reise hinterm Haus

Anthony de Mello hat diese Geschichte aufgeschrieben, die wunderbar ausdrückt, worum es geht: Jemand fragte den Meister nach dem Sinn eines Satzes, den er gehört hatte: “Der erleuchtete Mensch reist, ohne sich fortzubewegen.” – Sagte der Meister: “Setz dich jeden Tag an dein Fenster und beobachte, wie die Szene im Garten hinter deinem Haus ständig wechselt, während die Erde dich auf ihrer Jahresreise rund um die Sonne trägt.”

Stellen Sie sich vor, Sie müssen in kein Flugzeug mehr steigen, um Erholung zu finden und die Welt kennenzulernen. Der Garten hinterm Haus und ihr Leben von Moment zu Moment ist groß genug, um zu erkennen: „All you need is less“.

Das Gerenne und Gefliege, das Gekaufe, Gehetze und Gezerre um ein immer Mehr und Besser und um alles, was wir scheinbar brauchen – wofür steht es eigentlich, was versprechen wir uns davon? Und über unserem Schreibtisch hängt plötzlich die Erlaubnis in Form einer Spruchkarte mit den drei Worten: Musst du nicht! Wäre das nicht eine heilsame Variante von Freiheit? Wo wir das entscheidende im Leben entdecken, geht es nicht um Verzicht, wir werfen Ballast ab.

Wie wäre es, wenn wir in die Tiefe gehen und in den Augenblick zurückkehren, der unser Leben gerade ausmacht? „Einfach werden wie der fallende Regen und das wachsende Korn“, nannte es die jüdische Mystikerin Etty Hillesum in tiefster Bedrängnis im Holocaust. Finden wir in diese Tiefe und Einfachheit? Können wir die Befreiung finden, kleiner zu wünschen und größer zu leben?

Foto: privat

Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Seminar- und Retreatleiter und lebt in Österreich. Neben Achtsamkeit und Pädagogik ist einer seiner Schwerpunkte die interspirituelle Begegnung von moderner Achtsamkeitspraxis, zeitgenössischer Weisheitslehre und der Botschaft Jesu. Zu seiner Website

Verwendete Texte

Interview Nico Paech in der ZEIT

 

Anthony de Mello, Der Dieb im Wahrheitsladen, Freiburg i.B. 1997

Manfred Volkers, Nico Paech. All you need is less. Eine Kultur des Genug aus ökonomischer und buddhistischer Sicht, oekom Verlag 2020

Veronika Kammholz, Zentrum für Lebensfreude, Regensburg, zur Website

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