Ohne Stress und ohne Jetlag
Das Leben ist zu kurz, um schnell zu reisen. Doch lang genug, um riesige ökologische Fußabdrücke zu hinterlassen. Die Agentur Langsamreisen bietet ungewöhnliche Touren für Individualisten, die Zeit haben und Klima und Umwelt schonen wollen.
Nächste Woche geht es los: von Hamburg in die Dominikanische Republik und Kolumbien, durch den Panamakanal weiter nach Peru bis nach Chile und denselben Weg wieder zurück. 56 Tage non-stop, fast ausschließlich auf hoher See.
Ohne Touri-Schnickschnack und ohne Schlips und Kragen wird der knapp 70-jährige Kunde von Arne Gudde als Passagier auf der „Balthasar Schulte“ über die Meere gleiten. Seine Reisebegleiter werden 4.000 stählerne Container und zehn Mann Besatzung sein. Vielleicht wird der ein oder andere Passagier in einem der Häfen zusteigen, Platz für insgesamt fünf gibt es auf dem 261 Meter langen Koloss.
Die drei täglichen Mahlzeiten in der Offiziersmesse sind das einzig offizielle Programm für den Freizeitseefahrer. Die restliche Zeit steht ihm zur eigenen freien Gestaltung. Und genau diese Zeit scheint eine Qualität zu haben, die süchtig macht. Den älteren Herren zieht es bereits zum dritten Mal aufs Frachtschiff, und jedes Mal werden seine Reisen länger und: langsamer.
Dafür ist Arne Gudde, Betreiber und Gründer von Langsamreisen, verantwortlich. Mit seiner Online-Reiseagentur konzipiert und kombiniert er Reisen auf Fracht-, Post- und Segelschiffen sowie Schienen, die es ermöglichen, jeden Ort der Welt auch ohne Flugzeug und Kreuzfahrtschiff zu erreichen.
Diese bewusst CO2-reduzierten Reiseformen zielen aber nicht nur auf das Einsparen von Emissionen als Selbstzweck ab. „Die Leute hören ja nicht auf zu fliegen, nur weil es nicht gut für die Umwelt ist. Ein Mehrwert muss erkennbar sein“, erklärt Gudde, der nach seinem BWL-Studium zehn Jahre als Berater für strategische Unternehmensentwicklung tätig war.
Kostbare Momente, wenn man sich treiben lässt
Der Mehrwert liege vor allem in den besonderen Erlebnissen durch intensive Naturerfahrungen oder unerwartete Begegnungen mit anderen Menschen, fernab des Massentourismus. „Die einzigartigen Momente entstehen erst“, weiß Gudde von seinen eigenen Reisen, „wenn man sich treiben lassen kann, die urbane Reizüberflutung nachlässt und die Wahrnehmung sich sensibilisiert.“
Genau diese Momente seien es wohl auch, die den Atem rauben, die das Gefühl für die Zeit nehmen, die überwältigen und das Reisen erst zu einer bleibenden Erinnerung machen. Und diese Momente waren dann für Gudde der Grund, ein eigenes Konzept zu entwickeln. Er kündigte seine Festanstellung, nahm sich ein halbes Jahr Zeit herauszufinden, wie ein Reisebüro der entschleunigten Art funktionieren könnte, und gründete 2010 Langsamreisen.
Farbiges Prospektmaterial zum Überzeugen braucht der Anfang 40-Jährige nicht. Ressourcensparend finden sich alle Informationen zu Reiserouten, Preisen und berechneten CO2-Emissionen auf der Webseite mit Schildkröten-Logo. Auch gibt es kein analoges Reisebüro, an dessen Fensterscheiben verlockende Angebotszettel kleben, sondern lediglich ein Computer und ein Telefon in einer Bürogemeinschaft in Berlin-Treptow. Von hier werden die langsamen Reisen auf allen Meeren und Schienennetzen der Welt möglich gemacht.
Guddes Kunden sind meist in einem Alter, in dem die persönliche Zeit nicht nur immer schneller zu verrinnen scheint, sondern auch die eigene Endlichkeit absehbarer wird. So pfeift sein überwiegend 60- bis 80-jähriges Klientel auf organisierte Bespaßung und will lieber individuell und freigeistig unterwegs sein.
Klimafreundlich unterwegs
Mit kurzfristigen Planänderungen muss Gudde dabei stets rechnen. Wie zum Beispiel als ein Kunde, der ursprünglich nur den ersten Teil seiner Weltreise, von Bremerhaven nach New York, mit dem Frachtschiff zurücklegen wollte, sich kurzerhand in den USA überlegte, auch die Strecke nach Neuseeland mit dem Schiff zu fahren. In Neuseeland hat er Gudde wieder kontaktiert, und so ist er letztendlich die gesamte Strecke bis nach Australien, Singapur und zurück nach Europa über ein Dreivierteljahr auf Frachtschiffen unterwegs gewesen.
Den CO2-Ausstoß pro Kopf und Strecke lässt Arne Gudde über atmosfair errechnen und kompensieren. Atmosfair ist eine Klimaschutzorganisation, die 2003 als Gemeinschaftsinitiative des Reiseveranstalterverbandes forum anders reisen und der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch entstanden ist, und aktiven Klimaschutz betreibt. Durch die Zahlung eines freiwilligen, emissionsabhängigen Klimaschutzbeitrags werden Solar-, Biomasse-, Wasserkraft- und Energiesparprojekte in Ländern unterstützt, in denen bislang kaum erneuerbare Energien erzeugt werden.
23 Euro pro Tonne Kohlendioxid werden für die Kompensation angesetzt. Zurück zu unserem 70-jährigen Abenteurer: Flöge er von Hamburg nach Chile hin und zurück, entstünden Emissionen von über 7,5 Tonnen, einschließlich Kondensstreifen, Ozonbildung und anderer Effekte, die sich durch einem Betrag von 174 Euro ausgleichen ließen. Mit der 56-tägigen Frachtschiffreise, die er stattdessen antritt, kommt er auf 0,08 Tonnen, was mit gerade mal 1,84 Euro zu Buche schlagen wird.
Zu einem „No-Go“ haben sich für Gudde die sehr schönen und beliebten Hurtigrutener Postschiffreisen entwickelt. Die einst traditionelle Transportverbindung entlang der norwegischen Westküste richtete sich zunehmend an Touristen; heute hat sie Kreuzfahrtcharakter und einen entsprechend hohen CO2-Ausstoß. So eine Entwicklung ist dem Reiseunternehmer Grund genug, sie aus dem Programm zu nehmen.
Denn bei Langsamreisen werden bis auf Segelschiffreisen keine Transportmittel angeboten, die nur aus touristischen Gründen unterwegs sind. Weil mehr als 90 Prozent unserer Konsumgüter auf dem Seeweg befördert werden, gibt es auch immer mehr Frachtschiffe, auf die man „aufspringen“ kann. Paradoxerweise bieten gerade diese eine gute Möglichkeit, die Erde nicht als Ware, sondern als Geschenk zu sehen.
Gratis ist das Mitfahren auf Frachtschiffen dennoch nicht. Im Schnitt kostet eine Passagierkabine, die oft größer ist als die eines Kreuzfahrtschiffs, zwischen 90 und 120 Euro pro Tag und Person. Je nach Schiffstyp gibt es Fitnessraum, Schwimmbad, Sauna und Fernsehraum an Bord.
Auf Handyempfang, Internet und einen Arzt muss man hingegen verzichten. Deswegen muss man vor dem Boarding auch ein ärztliches Attest vorlegen. Die Passagiere können sich auf dem Schiff frei bewegen, auch den Kapitän auf der Brücke besuchen oder Blicke in den Maschinenraum werfen.
Wenn der 70-jährige Seewolf nach knapp zwei Monaten auf der „Balthasar Schulte“ wieder in den Hamburger Hafen einläuft, werden viele neue Erinnerungen in seinem Gepäck sein, die nichts wiegen, aber ewig bleiben. Ganz ohne Jetlag.
Cecilia Antoni
Die Geschichte stellte uns FUTURZWEI. Stiftung Zukunfsfähigkeit zur Verfügung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Geschichten des Gelingens zu sammeln und zu veröffentlichen.