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Selbstoptimierung: Das vermessene Ich

Filip Mroz/ Unsplash
Filip Mroz/ Unsplash

Warum wir mehr Selbstkultivierung brauchen

Selbstkultivierung bedeutet, menschlich zu reifen und gute Qualitäten zu entfalten. Doch heute steht die Selbstoptimierung hoch im Kurs: Sie will wachsen, sich messen und meidet Leid und Tod. Der Philosoph Krisha Kops über zwei Arten, das Leben zu gestalten.

Als Alkibiades Sokrates aufsucht, empfiehlt der weise Philosoph dem angehenden Politiker, sich zunächst um sich zu sorgen. In Sokrates Worten klingt das delphische “Erkenne dich selbst” durch, sprich die Seelenkunde, durch die Alkibiades Klugheit und Vernunft und somit auch das Göttliche in sich zu Tage bringen soll. “Übe dich zuerst; o Bester, rät Sokratesund lerne, was du mußt gelernt haben, um an die Angelegenheiten der Stadt zu gehn.

Etwa 2300 Jahre später fragt ein Minister, nennen wir ihn Albrecht, seinen Politikberater, wie er mehr Wähler für sich werben könne. Der Berater rät ihm eine Haartransplantation, etwas Botox in die Stirnfalte, einen Schrittmesser für seine Fitness, Sellerie-Spinat-Kurkuma-Smoothie zum Frühstück und die Lektüre The Big Five for Life. Was wirklich zählt im Leben.

Der Unterschied zwischen Alkibiades und Albrecht – beides Prototpyen für einen bestimmten Lebensstil – liegt darin, dass Erster der Selbstkultivierung nachgeht, Zweiter der Selbstoptimierung. Die Selbstkultivierung, wie sie nicht nur im antiken Griechenland, sondern auch in China, Japan, Indien und anderen Kulturen gelehrt wurde und teils noch immer wird, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der heute grassierenden Selbstoptimierung.

Allein die Worte offenbaren die Verschiedenheit. Kultur stammt von cultura (lat.), dem Ackerbau, aber auch von Pflegen und Bearbeiten. Im Sanskrit begegnet uns die Metapher im Wort kṣetra.

Das mit cultura in Verbindung stehende colere bedeutet im religiösen Zusammenhang auch verehren. Wir haben es mit einem Bild des Stetigen, Sich-wiederholenden, Fürsorgenden, sogar Huldigenden zu tun. Die Optimierung hingegen leitet sich vom Optimum her, dem Besten. Das Beste wird durch die Steigerung erreicht. Jemand wie Albrecht will Bundeskanzler werden eigentlich König der Welt.

Die Selbstoptimierung hat kein Maß

Obwohl sich die Kultur irgendwann dadurch definierte, dass sie sich von der Natur abgrenzte, ist sie ursprünglich dieser zuzuordnen. Der Ackerbau formt zwar den Boden um, greift in ihn ein, stellt damit aber auch eine Verbindung zwischen dem Menschen Alkibiades und der Erde her.

Die Optimierung will indessen den Ertrag um jeden Preis erhöhen. Sie erkennt keinen Mehrwert in der Verehrung. Die Wiederholung ist Albrecht ein Laster. Er bedient sich der Maschine und der Pestizide.

Die Kultivierung verschreibt sich der Qualität, die Optimierung der Quantität. Alkibiades ist wie Epikur kultiviert. Er will nur den einen Wein genießen, den besonderen, der für ihn von absoluter Qualität zeugt. Er braucht nicht immer teureren, immer mehr Wein, gar einen ganzen Weinkeller wie Albrecht.

Alkibiades weiß, dass noch so viel Quantität nicht die Qualität ersetzen kann vielleicht sogar im Gegenteil. Quantitäten lassen sich messen. Deswegen bedient sich Albrecht des Maßbandes, er liebt Daten und Zahlen. Die Kultivierung findet dagegen kein Maß.

Unter den Ethiken ist die messbare der Utilitarismus, die Maximierung des Wohlergehens. Albrecht ist Anhänger des effektiven Altruismus, er hat eine Formel für das Gute. Er optimiert die Moral. Es ist kein Zufall, dass in den Gesellschaften, in denen die Selbstkultivierungen am stärksten vertreten sind beispielsweise die antik griechische, altindische oder -chinesische , dieser Ethik weniger Beachtung geschenkt wird.

Ihre Ethik ist die der Tugend. Tugend, die sich weder optimieren noch messen lässt. Für Alkibiades entsteht sie durch Pflege und Verehrung. Sie ist eine Qualität. Heute, in Zeiten der Selbstoptimierung, hat der Utilitarismus der Tugendethik längst den Rang abgelaufen.

Selbstkultivierung beruht auf Muße und Wiederholung

Die Selbstkultivierung ist ethisch, da sie nicht an einem selbst halt macht. Alkibiades kultiviert sich, um den anderen als besserer Mensch gegenüberzutreten, sich ihnen zu verantworten, auch als Politiker.

Die Selbstoptimierung kann zwar als Utilitarismus ethisch sein. Meistens ist sie jedoch noch nicht einmal das. Als Zögling des Neoliberalismus entspringt sie einem konkurrierenden Gedanken. Sie konzentriert sich darauf, aus sich selbst das Optimum herauszuholen. Für gewöhnlich ist Moral ein zufälliges Nebenprodukt. Albrecht handelt allein dann ethisch, wenn es seiner Optimierung dienlich ist.

Wäre die Selbstoptimierung ein Gegenstand, dann vielleicht der Schrittmesser an Albrechts Arm. Die Selbstkultivierung wäre vielmehr ein riesiges wie buntes buddhistisches Mandala aus Reis, das Alkibiades am Rand eines Flusses formt. Stunde um Stunde, Korn für Korn, bis die nächste Flut es davonwäscht. Denn er weiß, der Weg ist das Ziel. Und dieser Weg besteht aus der Wiederholung (der Schritte).

Albrecht auf der andere Seite des Ufers geht es allein um das Ziel. Das Ziel ist das Beste. Denn das Wesen des Optimums ist das Telos. Die Selbstoptimierung ist telelogisch. Wenn es sein muss, schneidet Albrecht den anderen dafür den Weg ab oder dopt sich als erster ins Ziel.

Dieser Weg zum optimalen Ziel ist für Albrecht ein linearer, sich steigernder. Er steht der Eschatologie nahe. Wo aber der Weg zum Ziel wird, wo die Wiederholung (des Schrittes) verehrt wird, bewegt man sich gerne im Kreis.

Metaphysik vs. Transhumanismus

Es nimmt nicht wunder, dass in den antiken Kulturen, jene, die dem Epischen näher stehen, wo der Mensch sich noch im Kreislauf des Kosmos bewegt, man mehr kultiviert als optimiert. Alkibiades ist wie Odysseus: Er macht eine Reise und kommt wieder dort an, wo er aufbrach obschon als anderer Mensch.

Die Kreisbewegung hat keine Angst vor dem Tod. Sie weiß um die ewige Wiederkehr. Entstehen und Vergehen sind ihre festen Bestandteile. Die lineare Bewegung dagegen kennt kein Zurück. Sie rast unaufhaltsam auf die Vergänglichkeit zu, die auf jedem Punkt der Linie hinter ihr liegt. Sie kann den Tod nur durch die angeblichen Umkehrung retten: der Unsterblichkeit.

Albrecht hat Angst vor dem Dahinscheiden. Deswegen will auch er unsterblich werden allerdings hier und jetzt. Dafür optimiert er sich mit kalten Duschen und Zusatzpräparaten.

Der Selbstkultivierung andererseits ist die Angst vor dem Tod fremd. Im Gegenteil: Sie übt den Tod ein. Alkibiades praktiziert die melete thatnatou, die Vorstellung seines eigenen Ablebens, da er von Platon, Seneca, Krishnamurti und vielen anderen Kultivierten gelernt hat, dass kultiviertes Leben sterben heißt.

Wer nicht vergehen will wie Albrecht, der will seinen sterblichen Körper und das damit verbundene Menschsein überwinden. Etwa durch das Mind uploading, dem Hochladen des eigenen Gehirns. Albrecht ist nicht nur Dataist, sondern Trans- beziehungsweise Posthumanist.

Selbstkultivierung bleibt unverfügbar

Demgegenüber will Alkibiades durch die Kultivierung zutiefst menschlich werden. Er ist Metaphysiker und möchte kein Transhumanismus. Er wünscht sich Transformation. Diese ist jedoch nicht zu erzwingen oder zu berechnen wie die Optimierung. Sie bleibt zu einem gewissen Grand immerzu unverfügbar.

Während Alkibiades durch die Selbstkultivierung richtig in seinem Leben stirbt, stirbt Albrecht, wenn er denn Pech hat, falsch. Die endlose Optimierung führt dann zu einem Burnout. Dieses Stadium des Toten-am-Leben-seins ist ihr eigentliches Ende. Die Kultivierung intensiviert dementgegen in ihrer dialektischen Bewegung von Tod und Lebendigkeit die Resonanz.

Albrecht und Alkibiades wissen, dass der Autor zwar pauschalisiert, doch im Grunde nicht falsch liegt. Zudem sind sie sich einig, dass Selbstkultivierung und -optimierung seltenst in Reinform auftreten, sie nicht immer eindeutig voneinander zu trennen sind. Es gibt Überscheidungen, was es der Selbstoptimierung heutzutage umso leichter macht, die Selbstkultivierung für sich zu missbrauchen.

Foto: privat

Krisha Kops studierte in London Philosophie und Journalismus, bevor er promovierte in interkultureller Philosophie (Hildesheim). Er arbeitet als Wissenschaftler und freischaffender Schriftsteller. Sein Debütroman „Das ewige Rauschen“ (2022)  gewann diverse Preise und wird in mehrere Sprachen übersetzt.

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